Daniel Cil Brecher

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Bürgerrechte, Gruppenidentität und Demokratie in Israel

In Publikationen on Januar 24, 2022 at 12:41 pm

Veröffentlicht in Essay und Diskurs, Deutschlandfunk 05.12.2021

Der politische Charakter des Staates Israel ist schwer zu fassen. „Die einzige Demokratie im Nahen Osten“, „Apartheidstaat“, „Ethnokratie“, „Nationalstaat der Juden“. Diese Floskeln entstammen dem Grabenkrieg des israelisch-palästinensischen Konflikts aber enthalten alle ein Körnchen Wahrheit. Eine in Israel gerne gebrauchte Formel spricht vom Staat als „jüdisch“ und „demokratisch“, zwei Attribute, die sich nach mehrheitlicher Meinung in Israel nicht ausschließen. Die Spannung zwischen dem universalistischen Anspruch von „demokratisch“ und der ethnischen Bestimmung „jüdisch“ ist allerding nicht zu übersehen. 

Die Bestimmung „jüdisch“ ist keineswegs eindeutig aber impliziert „nichtjüdisch“, eine ebenso wenig deutliche Klasse von Menschen und Kulturen. Aus diesen in erster Linie politisch-affektiven Differenzierungen entstand in Israel eine Grundordnung, in der die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – jüdisch, palästinensisch, religiös, säkular – institutionalisiert ist. Gruppen unterliegen ihrem eigenen Familienrecht, sind getrennten Schulsystemen zugeordnet und unterscheiden sich im Zugang zur Staatsbürgerschaft und Einwanderung. Neben diesen gesetzlichen Unterscheidungen laufen andere, ebenso folgenschwere Trennlinien durch die Gesellschaft. 

Die Formulierung „jüdisch“ und „demokratisch“ tauchte verfassungsrechtlich 1985 in einer Reihe von neuen Grundgesetzen auf. Sie sollten fast 40 Jahre nach Staatsgründung die bürgerlichen Grundrechte und demokratische Prozeduren neu beschreiben. Die Unabhängigkeitserklärung von 1948, die bis dahin als Richtschnur galt, hatte nicht von Demokratie, sondern nur vom „jüdischen Staat“ gesprochen und den staatlichen Aufgaben, die damit verbunden waren. Darunter befand sich die „jüdische Einwanderung und Einsammlung des Exils“ als zentraler Auftrag. Jüdische Einwanderung im großen Umfang bildete die einzige Garantie für eine zumindest formelle Versöhnung von „jüdisch“ und „demokratisch“. Ohne jüdische Mehrheit kann die Idee vom Staat für Juden auf demokratische Weise nicht gewährleistet werden. Gleichzeitig sicherte die Unabhängigkeitserklärung den nichtjüdischen Bewohnern des Landes „soziale und politische Gleichberechtigung“ und „gleichberechtigte Vertretung in allen staatlichen Organen“ zu. 

Die Unabhängigkeitserklärung bietet einige Einsichten in das entstehende Paradigma vom „Jüdischen Staat“. Die Erklärung erfolgte nicht im Namen der Bewohner des Landes, auch nicht der jüdischen, sondern im Namen des „jüdischen Volkes“. Das jüdische Volk war allerdings nicht befragt worden und wohnte größtenteils anderswo. Zur Zeit der Staatsgründung befanden sich etwas mehr als eine halbe Million Juden im Land, rund 5 Prozent der damals 12 Millionen Juden der Welt. Die nichtjüdischen Bürger, 65 Prozent der Bewohner Palästinas und fast die Hälfte der Bevölkerung im avisierten Staatsgebiet, werden nur einmal erwähnt, als „Mitglieder des arabischen Volkes, die Bewohner des Staates Israels sind“.

Der Text gibt auch die avisierten Gruppenbeziehungen an. Der neue Staat verwirkliche das „Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ in „seiner Heimat“. Damit komme dem jüdischen Volk der „Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie“ zu. Die Vorstellungswelt des Zionismus war im Kontext des europäischen Kolonialismus und Nationalismus entstanden. Die Zionistische Bewegung konnte sich auf den kolonialen Mythos der Verfügbarkeit berufen, der Gebiete im Globalen Süden europäischen Besiedlungsprojekten eröffnete. Und sie bezog sich auf europäische Vorstellungen von „Nation“, einer kulturell und ethnisch homogenen Bevölkerung, die Staatlichkeit besitzt oder anstrebt. Juden seien als staatenlose, transnationale Minderheit Opfer ihrer Staatenlosigkeit geworden, analysierte der Zionismus. Das Problem könnten sie nur durch Nationalstaatlichkeit lösen. Diese Ideen einer Kongruenz von Territorium, Volk und Staat nahm die Zionistische Bewegung mit in den Nahen Osten. 

Israel wurde zum Nationalstaat des jüdischen Volkes erklärt, während den nichtjüdischen Bewohnern ein anderer Status zukommen sollte. Als Mitglieder des „arabischen Volkes“ wurden sie als Teil einer transnationalen Ethnizität definiert, die Heimat und nationale Rechte woanders suchen sollten. Wer Araber war, konnte in Palästina beheimatet sein, aber hier keine nationale Heimat besitzen. Die Unabhängigkeitserklärung sicherte den Juden also Rechte als Gruppe zu, den anderen nur als Individuen. 

Das Verlangen nach einem jüdischen Nationalstaat in dieser Umgebung, und gleichzeitig nach Gleichheit und Freiheit aller Bürger, war also nur wenig schlüssig. Die Bevölkerungsmehrheit wurde zwar von Juden gebildet, dem intendierten Staatsvolk. Eine verlässliche Mehrheit von Juden aber war erst kurzfristig durch Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948 entstanden. Der jüdischen Sache zu dienen bedeutete also zuerst Förderung der Einwanderung der einen und Verhinderung der Rückkehr der anderen. Von Gleichheit – selbst für Einzelne – konnte nicht die Rede sein. Gleichzeitig wurden die verbliebenen Palästinenser, die für die jüdische Mehrheit die Gegner des Bürgerkrieges von 1948 darstellten, unter Militärverwaltung gestellt. Ihre vollen demokratischen Rechte blieben bis 1966 suspendiert. Erst danach konnten palästinensische Bürger am demokratischen Leben teilnehmen und damit beginnen, das Versprechen der Unabhängigkeitserklärung auszuloten. 

Das Konstrukt des Staates für Juden schuf eine Reihe von Problemen, bei Fragen der Zuwanderung und Staatsbürgerschaft und beim Grund- und Privateigentum, das sich zum größten Teil in den Händen der Geflüchteten befand. Die Regierungen der Zeit fanden hier „kreative“ Lösungen, die allerdings weder dem Geist der Unabhängigkeitserklärung entsprachen noch, wie sich heute abzeichnet, langfristig politische Legitimität besitzen. 

Die jüdische Bevölkerungsmehrheit sah sich dabei keineswegs als Teil eines kolonialen Siedlerstaates, der langfristig zwischen unter- und übergeordneten Bevölkerungen unterscheiden wollte. Zwar hatte sich die Zionistische Bewegung der Kolonialmacht Großbritannien als Juniorpartner angeboten, aber predigte und lebte gleichzeitig auch politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Das zionistische Ethos hatte sich von Anfang explizit auch auf universalistische, humanistische Werte berufen. Das „Demokratische“ am jüdischen Staat war kein Lippenbekenntnis, sondern ein Versprechen, das aber zuerst einmal nur für die jüdische Bevölkerung galt. Die im Zionismus verwurzelte Ambivalenz, universalistisch und ethnozentrisch zugleich, unterdrückend gegenüber der Ursprungsbevölkerung aber auch emanzipierend, ist einer der Schlüssel zum Verständnis der weiteren Entwicklung.

Die Unterscheidung zwischen den ethnisch-religiösen Gruppen des Landes beeinträchtigte die Rechte einzelner Bürger. Beim Erwerb der Staatsbürgerschaft, der Zuwanderung und Familienzusammenführung unterschieden, und unterscheiden, sich die Rechte von Juden und Nichtjuden radikal. Als Staat aller Juden stehen die Tore Israels jüdischen Einwanderern weit offen. Für die meisten Nichtjuden, und besonders für die 1948 verdrängten palästinensischen Bürger des Landes und ihre Nachkommen, bleiben sie geschlossen.

Das Primat der Gruppenzugehörigkeit kam auch in anderen Bereichen zum Ausdruck. So sah sich die erste Regierung genötigt, gruppenbezogene Regelungen im Personenstandsrecht und in der Schulerziehung einzuführen. Dahinter verbargen sich einerseits kurzfristige politische Interessen. Ben Gurion brauchte 1948 jüdisch-religiöse Parteien für eine Koalition. Andererseits hätte eine für alle Bürger des Landes gültige, universelle Grundordnung, die nicht zwischen Religion und Ethnizität unterschied, auch die Frage nach dem Status der Palästinenser aufgeworfen. 

Personenstandrecht und Schulerziehung sind Rechtsgebiete, die sich stark an religiösen und kulturellen Traditionen orientieren. Von welchen Traditionen, jüdisch, islamisch, christlich, weltlich, sollten Schulerziehung und Lehrplan geprägt werden? Nach wessen Traditionen sollte sich die gesetzliche Regelung von Heirat, Scheidung, Adoption, Unterhalt und Erbfolge richten?

Die nichtjüdische Bevölkerung bestand im Wesentlichen aus Muslimen, Drusen, griechisch-orthodoxen und römisch-katholischen Christen. Juden teilten sich in eine große säkulare Mehrheit, in ultra-orthodoxe Gruppen, darunter die Chassidischen Sekten, die der säkular-nationalistischen Idee des jüdischen Staates feindlich gegenüberstanden; und in so genannte „national-religiöse“ Juden, ebenfalls Teil der orthodoxen Strömung, die den Zionismus bejahten. Diese Strömung inspirierte nach der Eroberung der Westbank und des Gazastreifens die Siedlerbewegung. 

Die gruppenbezogene Regelung von Personenstandsrecht und Schulerziehung schuf einen Flickenteppich an Institutionen. Das Arrangement war eine Fortschreibung des Millet-System des Osmanischen Reiches, zu dem Palästina bis 1918 gehört hatte. Das Millet-System bot einige Vorteile. Die koloniale Macht konnte die untergebene Bevölkerung teilen und beherrschen, die religiösen Gruppen erhielten weitgehende Selbständigkeit und die Chance, ihre eigenen internen Hierarchien und Traditionen mit Hilfe der Staatsmacht zu konservieren. Die britische Kolonialverwaltung hatte das System 1918 übernommen. Jetzt bestanden die jüdisch-religiösen Parteien darauf, dass diese im Ursprung koloniale und einer modernen Demokratie widersprechende Rechtsordnung auch in Israel gelten sollte. Die jüdische Orthodoxie wollte ihre Traditionen und vor allem ihre innerjüdische Vormachtstellung verteidigen, diesmal gegenüber einem jüdischen Staat.

Die Britten hatten für das Familienrecht neben einem sunnitischen Scharia-Familiengericht und einem rabbinischen unter Führung der Orthodoxie neun christliche Gerichte für die verschiedenen Denominationen zugelassen. Der Israelische Staat fügte diesen Elf im Laufe der Jahrzehnte noch drei hinzu. Die jüdisch-religiösen Parteien hatte zudem noch auf der Wahrung des religiösen Status quo in jüdischen Städten bestanden, also Einhaltung der Schabbatruhe im Öffentlichen Verkehr und der Speisegesetze in Gaststätten. Das öffentliche Leben kam so unter den Einfluss der konservativsten religiösen Elemente in der Gesellschaft. 

Neben Israel hatte nur Indien als demokratischer Staat subjektive, ethnische und religiöse Gruppenidentitäten auf diese Weise staatlich festgeschrieben. Auch in Indien ging es um die Dominanz einer Gruppe.

Das gruppenbezogene Familienrecht gab die Regie über existenzielle Fragen in die Hände patriarchalischer Institutionen, die mittelalterlichen Traditionen verpflichtet sind. Die Benachteiligung von Frauen bei Scheidung und Unterhalt und von gleichgeschlechtlichen Partnern war damit zementiert. Der Staat durfte keinen zivilrechtlichen Ausweg bieten. Wer ein Mitglied einer anderen ethnisch-religiösen Gruppe zum Partner wollte, stand vor geschlossenen Türen. Jüdisches Religionsrecht lehnt interreligiöse Ehen ab, und Übertritte sind äußerst zeitraubend. Ähnliches gilt für die meisten christlichen Denominationen. Nur unter der Scharia darf ein Muslim eine Nicht-Muslimin heiraten, die dann durch Heirat Muslima wird. Eine Muslima darf allerdings keinen Nicht-Muslim zum Ehemann nehmen. Interreligiöse Ehen sind in Israel eine seltene Ausnahme. Wer trotzdem interreligiös heiraten will, muss Grenzen im wörtlichen Sinne überschreiten und zum Beispiel nach Zypern fliegen.

Gruppenzugehörig mochte den Bewohnern des Landes als Schicksal erscheinen, die Bevormundung durch den staatlich ermächtigten Klerus aber nicht. Sie führte unter der jüdisch-säkularen Mehrheit zu einem starkem Unwillen gegenüber der religiös-jüdischen Bevölkerung und ihren Parteien. Dies verfestigte wiederum innerjüdische Gruppenidentitäten. Die Abgrenzung zwischen Religiösen und Nichtreligiösen erscheint den Bürgern Israels inzwischen ebenso organisch wie die Abgrenzung zwischen Juden und Palästinensern. Staatspräsident Reuven Rivlin münzte 2015 für dieses kulturelle Schema den Ausdruck der „vier Stämme Israels“: säkular-jüdisch, religiös-zionistisch, ultra-orthodox jüdisch und „Araber Israels“. Rivlin erhob die Palästinenser zum vierten „Stamm“ Israels. Im Geist der Unabhängigkeitserklärung sah er sie allerdings nicht als nationale Gruppe, sondern weiterhin nur als verstreute Reste des „Arabischen Volkes“.

Sozial und geografisch gesehen wohnen, arbeiten und spielen israelische Bürger getrennt. Zwei Gruppen, Palästinenser und Ultra-Orthodoxe, besetzen dabei die politisch-räumliche Peripherie, in eigenen Dörfern, Stadteilen und Städten, die strukturell vernachlässigt und wirtschaftlich schwach sind.

In bestimmten Bereichen, dort, wo höhere Bildung und Einkommen die sozialen und beruflichen Grenzen überwindbar machen, kommen Gruppen zusammen. Diese begrenzte Interaktion findet in den säkularen Städten Tel Aviv und Haifa statt, an den Universitäten und zum Beispiel im Gesundheitswesen, wo palästinensisches Personal, von der Krankenschwester bis zum Oberarzt, gut vertreten ist. Bestimmend für diese gemeinsamen Bereiche von Wohnen und Arbeiten bleibt die Gruppenhierarchie: oben steht der jüdische Mann europäischen Ursprungs, unten die Frau mit Kopftuch. 

Auch das Primar- und Sekundarschulwesen trägt zum starken ethnisch-religiösen Gruppenbewusstsein bei. Kinder, die in Israel aufwachsen, begegnen nur Kindern, Lehrkräften und Eltern ihrer eigenen Gruppe. Im späteren Leben ändert sich daran fast nichts.

Das israelische Schulwesen besteht aus einem öffentlichen und einem privaten Sektor. Der öffentliche Sektor umfasst drei Schultypen: einen weltlichen, einen jüdisch-religiösen und einen „arabischen“, in dem die Unterrichtssprache arabisch ist. Alle öffentlichen Schulen folgen einem einheitlichen nationalen Grundlehrplan, der in jüdisch-religiösen Schulen mit Unterricht nach orthodoxer Auffassung angereichert wird, in Schulen für Palästinenser mit gesamtarabischer Geschichte, Kultur und Religion. Die jüdisch-ultra-orthodoxen Schulen sind im privaten Sektor untergebracht, der nicht unter Kontrolle des Bildungsministerium steht. Der nationale Grundlehrplan gilt hier nicht. Der Unterricht findet nach Geschlechtern getrennt statt. Diese Schulen widmen weltlicher Bildung, Fremdsprachen, Naturwissenschaft und Mathematik nur sehr geringen Raum. 

In allen staatlichen Schulen, auch in den arabischsprachigen, wird die Geschichte Israels, Landes- und Gemeinschaftskunde aus Sicht des zionistischen Narrativs unterrichtet. Der Lehrstoff soll die „Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel“ fördern, wie das Bildungsministerium betont. Trotz der Tatsache, dass es auch im arabischsprachigen Bildungssystem angewandt wird, enthält das Programm keine Inhalte, die sich auf die palästinensische Geschichte des Landes und die Nakba beziehen. Im Unterricht zum „Religiösen Erbe“ wird an arabischsprachigen Schulen Material zum Islam, Christentum und der Drusischen Religion angeboten, in hebräisch-sprachigen aber nicht. 

Der Staat Israel hat sich mit der Institutionalisierung von Gruppenunterschieden ein ausgeklügeltes aber sehr anfälliges System der Marginalsierungen und Privilegierungen geschaffen. Das System basiert auf den Kräfteverhältnissen von 1948. Seitdem haben vor allem die beiden marginalisierten Gruppen, Palästinenser und Ultra-Orthodoxe, ihren Anteil an der Bevölkerung mehr als verdoppelt. Sie machen inzwischen zusammen rund 40 Prozent der Bevölkerung aus. Mit Hilfe eigener politischer Parteien versuchen sie ihre Position zu verbessern – mit einigem Erfolg. 

Das israelische Verhältniswahlrecht mit niedriger Sperrklausel setzt das Gruppenschema ins Kleinste um. Es begünstigt dabei allerdings das säkular-zionistische Lager, das in große, etwa gleich starke links- und rechtszionistische Blöcke geteilt ist. Koalitionen beruhen meist auf 6-8 Parteien unter Führung von einem der beiden Blöcke und verfügen nur über sehr knappe Mehrheiten. Palästinensische und ultra-orthodoxe Parteien werden dabei doppelt benachteiligt. Mit Mehrheitswahlrecht könnten sie in ihren kulturell homogenen Gebieten mehr Sitze erlangen. Zusätzlich erhalten sie beim Wahlgang die Quittung für ihre Staatsferne. Eine deutlich geringere Wahlbeteiligung in ihren Sektoren kostet sie jeweils rund fünf Sitze.

Die politischen Ziele der ultra-orthodoxen Parteien beschränken sich auf den eigenen Sektor: Wahrung und Förderung eines völlig separaten religiösen und gesellschaftlichen Lebens und eines eigenen Schulsystems. Sie binden etwa 15% der Wähler an sich und haben sich mehrmals an rechts-zionistischen Koalitionen beteiligt. Sie engagieren sich kaum bei Fragen, die über die direkten Belange der ultra-orthodoxen Enklaven hinausgehen. So hat ihr Separatismus, auch ohne ideologische Präferenzen, unter anderem die Ausweitung der Besatzung und Blockade der Zwei-Staaten-Lösung möglich gemacht.

Im palästinensischen Sektor, 20% der Bevölkerung, erhalten palästinensische Parteien regelmäßig rund 13% der Wählerstimmen. Nur eine der vier heute in der Knesseth vertretenen Parteien, die „Vereinigte Arabische Liste“, vertritt dabei eine den Ultra-Orthodoxen vergleichbare Politik des Separatismus. Dieser Separatismus schließt Regierungsteilnahme ausdrücklich ein, allerdings mit Zielen, die auf den eigenen Sektor beschränkt sind. 

Die Vereinigte Arabische Liste ist seit Juni 2021 Teil einer israelischen Regierungskoalition. Nur einmal haben palästinensische Parteien davor eine jüdisch-zionistische Regierung unterstützt – durch parlamentarische Rückendeckung für die Minderheitsregierung unter Yitzchak Rabin, die 1992 den Friedensprozess mit der PLO einleitete.

Die Vereinigte Arabische Liste ist sozial konservativ und propagiert das Primat des Islam in Familie und Gesellschaft. Schon bei ihrer Gründung 1996 sprach sie sich für Teilnahme an Regierungen mit jüdischen Parteien aus und stimmte für die Oslo-Verträge und die Zwei-Staaten-Lösung. Im Gegensatz zu den anderen palästinensischen Parteien verfolgt sie eine Politik sektoraler aber nicht nationaler Rechte. Die politische Haltung der Vereinigten Arabischen Liste passt in die Rolle, die innerhalb des Gruppen-Paradigmas marginalisierten Parteien zugeordnet wird. So begründete sie ihre Regierungsbeteiligung mit dem Wunsch, die Lebensverhältnisse der palästinensischen Minderheit zu verbessern, ungeachtet anderer Ziele der Koalition. Ein Beschluss der Regierung Bennet, bestimmte Siedlungen in den besetzen Gebieten auszubauen, wurde schweigend hingenommen. Ihre Beteiligung an der Regierung Bennet durchbrach allerdings auch das Tabu der Regierungsbeteiligung von Palästinensern.

Kurz nach der Installierung der Regierung Bennet im Juni 2021 kritisierte der palästinensische Politologe Ameer Fakhoury, dass die Vereinigte Arabische Liste ein palästinensisches „Stetl“ in Israel errichten wolle. Palästinenser fügten sich damit, schrieb er, der Logik der vier Stämme und geständen ein, dass sie mit anderen Israelis nichts Gemeinsames hätten. Für Palästinenser bedeute dies einen einseitigen Verzicht auf das Prinzip der Staatsbürgerschaft.

Die politischen Ziele der anderen Parteien haben sich von einem Kampf um individuelle Rechte von palästinensischen Bürgern über kollektive Rechte hin zur Forderung eines nationalen Status entwickelt. Diese seit mehr als zwanzig Jahren im palästinensischen Sektor dominante Strömung fordert die politische und rechtliche Umsetzung der bi-nationalen Realität des Landes und die Transformation Israels vom „Staat der Juden“ zum „Staat aller Bürger“. 

Auch der israelische Staatspräsident Rivlin sprach in einer Grundsatzrede 2015 die Probleme der institutionalisierten Gruppenidentitäten an. Sie ist in Israel als die „Vier-Stämme-Rede“ bekannt. Rivlin wies auf die wachsende Unregierbarkeit des Landes und die Behinderung wirtschaftlichen Wachstums. Sein Hauptargument aber war von einer anderen Qualität: die zionistisch-säkulare Mehrheit des Landes beginne ihre Mehrheit zu verlieren, sagte er, und damit die Kontrolle über das System. 1992 hätten noch 52% der Schulanfänger das staatlich-säkulare Schulsystem besucht. 2018 würden es nur noch 38% sein. 25% würden dann arabischsprachige Schulen besuchen, und 22% ultra-orthodoxe. 

Das alte Bild von der zionistisch-säkularen Bevölkerung, die das kulturelle und politische Zentrum Israels bilde, sei nicht mehr gültig. Eine neue Ordnung sei im Entstehen. Die Stämme, sagte er, müssten zu einem neuen Konzept der Partnerschaft übergehen, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Rivlin erkannte die kulturellen Eigenheiten der „Stämme“ ausdrücklich als wertvoll an und forderte, dass der Staat diese kulturellen Unterschiede schützen müsse. Jede Gruppe müsse wissen, dass ihre Identität nicht bedroht sei. 

Seine Vorschläge legten eine Verschiebung in der ideologischen Landschaft bloß. Hier formulierte ein Rechts-Zionist Vorschläge, die dreißig Jahre davor aus dem Mund eines linken Zionisten gekommen wären. Die links-zionistischen Parteien haben sich inzwischen in Richtung eines post-zionistischen Realismus bewegt – einer teilweisen Anerkennung palästinischer Anliegen und dem Willen, die Besatzung zu beenden. 

Die zionistische Rechte hält dagegen weiter am Model des jüdischen Nationalstaats fest, an den gegensätzlichen Zielen von Gleichheit und ethnischer Dominanz, und an der angestrebten Kongruenz von Territorium, Volk und Staat. Diese Idee hat mit der Besiedlung der Westbank durch jüdische Israelis eine Sackgasse erreicht. Mit sieben Millionen Juden und sieben Millionen Palästinensern in „Groß-Israel“, also dem gesamten ehemaligen Mandatsgebiet, war kein jüdischer und gleichzeitig demokratischer Staat mehr zu machen.

Parallel zu Rivlins Initiative propagierten rechtszionistische Politiker ein anderes Mittel, um eine zukünftige Kollision von „jüdisch“ und „demokratisch“ abzuwenden: das Nationalstaatgesetz. Dieses Gesetz, zuerst 2011 als Zusatz zu den israelischen Grundgesetzen eingebracht, wurde 2018 mit einer Mehrheit von zwei Stimmen verabschiedet. Hier wird zum ersten Mal in einem Gesetz explizit vom Staat Israel alsNationalstaat des jüdischen Volkes gesprochen und von Israel als dem Ort, an dem es exklusiv nationale, kulturelle und religiöse Selbstbestimmung ausübe.

Das Gesetz rief in Israel und in der internationalen Gemeinschaft viel Kritik hervor. Die Opposition ließ die Verfassungsmäßigkeit prüfen. Im Juli 2021 entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Gesetz den demokratischen Charakter des Staates und das Prinzip der Gleichheit nicht negiere. Die Präsidentin des Gerichtshofs erklärte, dass es nur das Offensichtliche deklariere: dass Israel ein jüdischer Staat sei.

Hinter Rivlins Rede und dem Nationalstaatgesetz verbirgt sich das alte Wunschbild von Israels als Bollwerk demokratisch-universeller Werte und gleichzeitig als Förderer und Verteidiger des jüdischen Ethnos. Rivlin sprach zwar von der Suche nach einer neuen, gemeinsamen bürgerlichen Identität, aber unter einer spezifischen Prämisse. Der Staat müsste zionistisch definiert bleiben. 

Der rein deklarative Charakter des Nationalstaatgesetzes und die Tatsache, dass es mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen verabschiedet wurde, lässt allerdings keinen Zweifel darüber, wie prekär das Verhältnis von „jüdisch“ und „demokratisch“ ist. Sollte die heutige Konstruktion des „Nationalstaates der Juden“ eines Tages die Mehrheit verlieren, könnte Israel ohne weiteres auf das „Demokratische“ zurückfallen.

Eine Partnerschaft mit einer palästinensischen Partei war neu, aber was bedeutete sie? Koalitionen mit den Ultra-Orthodoxen hatten bislang den Rang eines ungeliebten Zweckbündnisses – eines notwendigen Übels, bei dem die Minderheit finanzielle Unterstützung für ihre peripheren Ziele erhielt im Tausch für ihre Stimmen. 

Aus der Perspektive der zionistischen Mitte leben Palästinenser und Ultra-Orthodoxe in einem selbstgewählten Randdasein. Sie gelten als „un-israelisch“. Dieser Diskurs hat sich im Laufe der letzten Jahre verstärkt. Den Gruppen werden dabei Eigenschaften zugeordnet, die ihnen das Recht auf volle staatsbürgerliche Beteiligung quasi von selbst nehmen. Wie der israelische Soziologe Baruch Kimmerling vor zwanzig Jahren zeigte, entstand die neue israelische Identität direkt aus der Ablehnung dieser Kulturen – dem „dekadenten“ und schwächlichen Diasporajudentum und dem orientalisierten, zivilisatorisch unterlegenen „Araber“.

Die Kritik am ultra-orthodoxen Sektor richtet sich gegen das „Ghettohaftige“, das Festhalten an anti-modernen Traditionen, die Trennung der Lebenswelten von Männern und Frauen und den Verzicht auf säkulare Bildung. Besonders umstritten ist die Befreiung ultra-orthodoxer Männer vom Militärdienst. Ultra-orthodoxe Männer sind in den Augen der Mehrheit unpatriotisch, „unproduktiv“, dekadent und „schmarotzerhaft“. Ihre Haltung wird als kollektive Weigerung verstanden, sich mit dem Staat zu verbinden und seine Existenz zu sichern.

Die Vorstellungen über die Palästinensische Peripherie zeigen ein ähnliches Muster. Neben einem deutlichen Respektgefälle und starken kulturellen Vorurteilen werden palästinensische Politiker regelmäßig als „Terroristen“ bezeichnet oder als Unterstützer von „Hamas-Mördern“. Politiker der Linken, die in Wahlkämpfen eine mögliche Koalition mit palästinensischen Parteien nicht von vornherein explizit ausschließen, riskieren Wählerstimmen.

Die Dämonisierung palästinensischer Parteien ist auf dem Hintergrund ihrer Wahlerfolge zu einer politischen Waffe ersten Ranges geworden. Naheliegende Partnerschaften zwischen jüdischen und palästinensischen Parteien bei der Liberalisierung der Gesellschaft und der Schaffung einer permanenten Lösung für die besetzten Gebiete ließen sich so bislang nicht verwirklichen. Dieses Tabu konnte nur von einer rechten Partei durchbrochen werden. Im Anlauf zu den Wahlen im März 2021 war es dann die Likud-Partei Benjamin Netanjahus, die um ihr Überleben kämpfte und sich offen um die Unterstützung durch die Vereinigte Arabische Liste bemühte. 

Die Probleme der Randgruppen werden in der Mitte der Gesellschaft hauptsächlich als Defizite aufgefasst, die durch die Eigenheiten der Kultur hervorgerufen und nur durch kulturelle Anpassung verändert werden können. Ein Beispiel ist die hohe Zahl von Tötungsdelikten in der palästinensischen Gesellschaft. Rund 70% aller Morde in Israel entfallen auf diesen Sektor. Der Diskurs über Ursachen und mögliche Lösungen zeigt deutlich den Einfluss des israelischen Gruppen-Paradigmas. Auf Seiten der Regierung und der israelischen Polizei wird auf die Schwierigkeiten bei der Aufklärung gewiesen. Die palästinensische Gesellschaft sei geschlossen, und es herrsche eine Kultur des Schweigens. Auf palästinensischer Seite und von Kriminologen wird eine andere Geschichte erzählt. Die Polizei habe sich 2001, nach blutigen Zusammenstößen während der zweiten Intifada, aus den palästinensischen Ortschaften zurückgezogen. Seitdem werde nicht mehr in diese Gebiete investiert, weder in die akute Verbrechensbekämpfung noch in die vorbeugende. Das Problem sei eine unkontrolliert wachsende Bandenkriminalität, und nicht die „Mentalität“ der Bewohner. 

Bei Problemen in ultra-orthodoxen Gemeinschaften finden wir ein ähnliches diskursives Muster. Im Sektor herrscht große Armut. In der breiten Öffentlichkeit werden mangelnde Schulbildung, religiöser Lebensstil und schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Ursachen gesehen. Mögliche Lösungen, zum Beispiel die Einführung des nationalen Lehrplans auf ultra-orthodoxen Schulen, gelten allerdings nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch hier wird der einzelne Bürger vom Staat im Stich gelassen. 

Die Institutionalisierung von Gruppenidentitäten war von Anfang an mit dem Paradigma vom „Jüdischen Staat“ verbunden. Der Staat sollte mit staatlichen Mitteln den jüdischen Charakter des Landes garantieren, durch Privilegierung von Juden und die Abdrängung von anderen. Ist das heute noch nötig?  Durch Einwanderung von mehr als drei Millionen Juden und der Schaffung einer jüdischen Mehrheit von 75% scheint mir die kulturelle und politische Dominanz dieser Gruppe gesichert, zumindest in Israel selbst. Die Besiedlung der besetzten Gebiete und die Entschlossenheit der zionistischen Rechten, die Gebiete zu behalten, stellen die Frage allerdings neu. 

Auch generationelle Unterschiede fordern das System heraus. Unter jungen Israelis, Juden wie Palästinensern, herrscht ein zunehmender Individualismus. Sie wollen in einer modernen, liberalen Gesellschaft ohne Gruppenzwänge leben. Aber auch auf ihre Eltern ist längst nicht mehr Verlass. So haben bei den Wahlen der letzten Jahre jüdische Israelis zum ersten Mal in großen Zahlen palästinensische Parteien gewählt. Neue politische Allianzen von Juden und Palästinensern scheinen jetzt zum ersten Mal in Reichweite. 

Wie können die Bürger Israels zu einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität gelangen? Die Frage der besetzen Gebiete spielt hier eine große Rolle. Auf welches Israel soll sich das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung für Staat und Gesellschaft beziehen? Auf ein demokratisches Land, dessen grundlegende Politik und Grenzen auf einem breiten Konsens beruhen? Oder auf einen Staat, der viele Schattierungen von institutionalisierter Ungleichheit in Stand hält? Ohne Konsens in diesen Fragen ist eine Zusammenarbeit der „Stämme“ zum Wohle der gesamten Gesellschaft kaum möglich.

Welche Stellung sollte den Gruppen in Zukunft zukommen? Jede Gruppe müsse wissen, sagte Präsident Rivlin, dass ihre Identität nicht bedroht sei. Er meinte damit die Randgruppen. Aber das Problem scheint mir eher bei der Identität der Mehrheit zu liegen. Die jüdische Bevölkerung hat sich lange auf staatliche Garantien für ihre Vormachtstellung verlassen. Die nicht-jüdische und nicht-zionistische Bevölkerung hat längst ihren Frieden mit dem Leben im „jüdischen Staat“ gemacht. Im Weg steht nicht mehr die Dominanz einer Gruppe, sondern die Institutionalisierung dieser Dominanz. Sie bildet die eigentliche Hürde zu einer völligen Demokratisierung Israels.