Daniel Cil Brecher

Zionismus und Nahostkonflikt – zwei Standpunkte

In Buchbesprechungen Israel und Palästina on Oktober 30, 2006 at 10:34 am

John Rose: Mythen des Zionismus. Stolpersteine auf dem Weg zum Frieden. Rotpunktverlag, Zürich 2006, 333 Seiten, € 24,00

Yosef Hayim Yerushalmi: Israel, der unerwartete Staat. Messianismus, Sektierertum und die zionistische Revolution. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2006, 120 Seiten, € 19,00

Welchen Anteil hat der Zionismus, die Ideologie und politische Bewegung, die zur Schaffung Israels geführt hat, am Fortbestehen des israelisch-palästinensischen Konflikts? Ein amerikanisch-jüdischer Historiker und ein britisch-jüdischer Sozialwissenschaftler haben sich zu dieser Frage geäußert – mit entgegengesetzten Ausgangspunkten und Schlußfolgerungen.
Der an der New Yorker Columbia-Universität lehrende Geschichtswissenschaftler Yosef Hayim Yerushalmi wird von vielen als der bedeutenste jüdischen Historiker der Gegenwart gesehen. Er nahm einen Vortrag bei der Entgegennahme des Lukas-Preises der Universität Tübingen 2005 zum Anlaß, seine Sicht von der Rolle des Zionismus im Konfliktgeschehen des Nahen Ostens zu entwickeln.

„Ich möchte ihnen heute die These vorstellen, daß Zionismus und der Staat Israel einen unerwarteten Bruch in der jüdischen Geschichte darstellen, einen Aufstand gegen den jüdischen Messianismus. Weiterhin behaupte ich, daß die Anerkennung der Spannung zwischen Zionismus und Messianismus unerläßlich ist, um die Probleme zu verstehen, die dem jüdischen Staat inhärent sind.“

Der Bruch bestehe darin, so Yerushalmi, daß der Zionismus eine Erlösung vom Leiden des Exils im Hier und Jetzt propagierte, und nicht zur Endzeit, und nicht auf die Intervention Gottes oder ein Wunder warten wollte. Der Messianismus sei dadurch nicht ausgelöscht und bestehe weiter, mit potentiell katastrophalen Folgen für den Nahen Osten. Die pragmatische Suche nach einem Ende des Exils habe der Zionismus mit der Assimilationsbewegung gemein, die dem anfangs „sektiererischen“ Zionismus den Weg ebnete.

„Der Staat, der als Traum einer sektiererischen Minderheit begann, entwickelte sich zum lebenswichtigen Mittelpunkt des gesamten jüdischen Volkes. Doch im Grunde genommen waren weder die Juden noch die Welt darauf vorbereitet. Die Gründung eines solchen Staates [kam] nicht nur in der jüdischen Tradition, sondern auch in der christlichen und der muslimischen Tradition unerwartet.“

Der Verlust jüdischer Souveränität im Altertum sei von Christentum und Islam als sicheres Zeichen dafür begriffen worden, daß Gott die Juden zu Gunsten der Christen und Muslime zurückgewiesen hatte. Beide Religionen bekräftigten diese Sicht, indem sie die anschließende Erniedrigung der Juden sicherstellten. Deshalb werde auch der Staat Israel abgewiesen.

„Die Probleme, auf die Israel nach wie vor bei dem Versuch stößt, sich einen normalen Platz unter den Nationen zu sichern, können nicht nur mit dem aktuellen politischen Geschehen erklärt werden.“

Damit schließt sich Yerushalmi denen an, die eine Sonderbehandlung Israels durch die Weltgemeinschaft konstatieren und sie als eine Fortsetzung der diskriminierenden Außenseiterposition der Juden identifizieren. Nur die Gründung Israels im Nahen Osten werde als Akt des Kolonialismus gesehen, argumentiert Yerushalmi, während die Legitimität der anderen nahöstlichen Staaten, ebenfalls durch die Kolonialmächte Großbritannien oder Frankreich künstlich geschaffen, nicht in Frage gestellt werde. Diese Staaten könnten sich – im Gegensatz zu Israel – noch nicht einmal auf eine geschichtlich gewachsene nationale Identität berufen.

„Ich kenne keinen anderen Staat, der gegenwärtig nicht nur von arabischen, sondern auch von westlichen Ländern so verleumdet wird wie Israel. Das scheinbar ungewöhnlich hartnäckige Fortbestehen eines jüdischen nationalen Bewußtseins nach dem Verlust des Staates über fast zwei Jahrtausende hinweg ist eine Tatsache, die nicht abgetan, sondern vielmehr Erstaunen hervorrufen sollte.“

Dem erstaunlich einseitigen Bild Yerushalmis vom unverstandenen und verleumdeten Zionismus setzt der am Süd-Londoner Southwark College unterrichtende Soziologe John Rose, Nahost-Sprecher der britischen Socialist Workers Party, das nicht weniger einseitige Bild vom unverstandenen und verleumdeten Exil entgegen. Rose kritisiert in seinem Buch das traditionelle Zweistufenmodell der jüdischen Geschichtsauffassung, Altertum – Exil, auf das sich Yerushalmi beruft. Mit dem Exil sollen für die Juden zwei Jahrtausende der Heimatlosigkeit begonnnen haben – laut Rose aber ist das ein Mythos.

„[Der Mythos vom „Exil“] wurde zur säkularen ideologischen Waffe, zu einem Schlachtruf des jüdischen Nationalismus im 20. Jahrhundert, mit dem dieser seinen Anspruch auf Palästina historisch begründete. In der zionistischen Zeiteinteilung werden die Juden aus ihrem Land vertrieben und unter feindselige Völker verstreut, um 2000 Jahre später wieder ihre wahre nationale Identität wiederzuentdecken. Der Mythos vom „Exil“ ist ein großes intellektuelles Ärgernis.“

In der zionistischen Vorstellung waren die jüdischen Gemeinden, die sich überall in der Welt bildeten, machtlos, unterdrückt und ständiger Verfolgung ausgesetzt. Für Zionisten wie Theodor Herzl konnte nur eine Übersiedlung in die alte Heimat Palästina das Leiden von achtzehn qualvollen Jahrhunderten beenden. Laut Rose beschreibt der Zionismus eine statische, unveränderlich feindliche Welt, in der Juden keinen Frieden finden können. Eigentlich aber sei das „Exil“ eine Erfolgsgeschichte.

„Die Juden haben sich als erfolgreichste ethnische Minderheit in Bezug auf Gleichstellung und sozialen Aufstieg erwiesen. Eine Mehrheit der Juden kann sich heute mit Recht als Angehörige der Mittelschicht bezeichnen und stolz auf ihren überragenden Beitrag zu Kunst, Wissenschaft, Bildung, Medizin, Journalismus, Politik und nicht zuletzt Handel sein. Ja, es gab Leid, aber das erzählt uns nur einen Teil der Geschichte über die außerordentliche wirtschaftliche und intellektuelle Begabung, die sich über die Jahrhunderte entwickelt hat.“

In der Sicht Roses wurden die Juden nie heimatlos, sondern besaßen und besitzen eine Vielzahl von Heimaten, auch in arabischen Ländern. Trotz der problematischen Seite des Lebens in der islamischen Gesellschaft sei die Bilanz des Zusammenlebens positiv.

„Die Mehrheit der Juden lebte bis vor 500 Jahren in arabischen Ländern. Im heutigen Israel stammen über eine Million der jüdischen Bürger aus den muslimischen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas. Als auffälliger Maßstab nicht nur für den Erfolg der Juden, sondern auch für ihren besonderen Beitrag zur islamisch-arabischen Zivilisation jener Zeit, kann die wirklich beindruckende Beteiligung von Juden in medizinischen Berufen gelten. Der Zionismus hat Araber und Juden entgegen der langen islamisch-arabischen Zivilisationsgeschichte auseinander getrieben.“

Das Gegenstück zum Mythos der Heimatlosigkeit sei die Mär von der Verfügbarkeit der alten Heimat Palästina, die wie durch ein Wunder durch keine andere Gruppe wirklich in Besitz genommen worden sei. Rose entkräftet den zionistischen Slogan von den Juden, dem Volk ohne Land, das ein Land ohne Volk, Palästina, zurückfordert, indem er eine Episode aus der arabischen Geschichte Palästinas erzählt – das Erblühen der arabischen Wirtschaft im Distrikt Nablus. In diesem Kapitel liegt das wirkliche Verdienst des Buches. Palästina war kein verödetes, brach liegendes Land, das von seinen Bewohnern vernachlässigt wurde, wie Shimon Peres noch 1986 behauptete. Rose zitiert den palästinensischen Historiker Beshara Doumani.

„Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts erwirtschaftete Palästina einen riesigen landwirtschaftlichen Überschuß. Auf dem Weltmarkt wurden Weizen, Gerste, Sesam, Olivenöl, Seife und Baumwolle verkauft. Zu diesem Zeitpunkt überstiegen die Exporte die Importe europäischer Fabrikgüter.“

John Rose schließt mit der Feststellung: „Der Zionismus ist das Problem, seine Beseitigung die Voraussetzung für Frieden im Nahen Osten und für arabisch-jüdische Verständigung.“

Man könnte auch das Gegenteil behaupten: Frieden ist die Voraussetzung für das Verschwinden des Zionismus, einer verhängnisvollen Ideologie, die als Reaktion – berechtigt oder nicht – auf das vielleicht nicht immer begründete aber immer präsente Gefühl von Heimat- und Schutzlosigkeit einer Minderheit entstanden ist.

Gesendet im Deutschlandfunk am 24.Juli 2006 * copyright 2006 Daniel Cil Brecher

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