Reiner Bernstein: Von Gaza nach Genf. Die Genfer Friedensinitiative von Israelis und Palästinensern. Wochenschau-Verlag, Schwalbach/Ts. 2005, 182 Seiten, € 19,80
Rupert Neudeck: Ich will nicht mehr schweigen. Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina. Melzer Verlag, Neu-Isenburg 2005, 304 Seiten, € 19,95
Der ungelöste Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hat zu einer schleichenden Krise der Solidarität mit dem jüdischen Staat geführt. Spätestens seit Beginn der massiven Besiedlung der besetzten Gebiete in den 80er Jahren wird gerade die besondere Verbundenheit der Deutschen ständig auf die Probe gestellt. In zwei neuen Büchern zum Nahost-Konflikt melden sich deutsche Autoren zu Wort, bei denen die Solidarität angesichts der Entwicklungen in Israel auf Grenzen gestoßen ist. Der eine ist Rupert Neudeck, Journalist und Gründer des Komitees Cap Anamur, den die Erlebnisse in den palästinensischen Gebieten zur einer Streitschrift veranlaßt haben. Ich will nicht mehr Schweigen, heißt sein Buch. Der andere ist der Münchner Nahostexperte Reiner Bernstein, der in seinem Buch „Von Gaza nach Genf“ alte und neue Friedenspläne bespricht. Bernstein war Geschäftsführer der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, zog sich aber wegen der Schwierigkeiten, in einer deutsch-israelischen Freundschaftsgesellschaft Kritik an der Politik israelischer Regierungen zu üben, zurück.
„Artikel 1: Das Abkommen über den endgültigen Status beendet die Epoche des Konflikts und leitet eine neue Epoche ein, die auf Frieden, Kooperation und gutnachbarlichen Beziehungen basiert.
Artikel 2: Der Staat Israel erkennt den Staat Palästina ab dessen Gründung an. Der Staat Palästina erkennt unverzüglich den Staat Israel an.“
So beginnt der Entwurf des Friedensabkommens, der im Dezember 2003 von israelischen und palästinensischen Politkern in Genf unterzeichnet wurde. Der Entwurf, die sogenannte „Genfer Initiative“, bindet niemanden, doch stellt er die bislang einzige Hoffnung auf Frieden dar, die einzige Lösung, auf die sich maßgebliche Kräfte auf beiden Seiten einigen konnten. Reiner Bernstein hat den Text erläutert und ihn in den Zusammenhang der bisherigen Friedensbemühungen gestellt. Er geht zunächst der Frage nach, warum die bisherigen Lösungsmodelle und die teilweise implementierten Osloer Verträge gescheitert sind. Auf knapp vierzig Seiten analysiert Bernstein die Faktoren, die eine Einigung gefördert oder verhindert haben. Wer sich einen knappen und verläßlichen Überblick über die Lösungsversuche seit der Friedensinitiative Anwar Sadats 1977 bis heute verschaffen will, ist hier gut bedient. Wichtigste Ursachen für das Scheitern des Friedensprozesses von Oslo, der im Camp-David-Gipfel im Sommer 2000 mündete: die Unebenbürtigkeit der Verhandlungspartner, die Weigerung Israels, sich auf ein klares Endziel einzulassen, und die Parteilichkeit des Vermittlers, US-Präsident Clinton.
„Für Martin Indyk, den damaligen US-Botschafter in Tel Aviv, verstand sich Clinton als Israels Rechtsbeistand, der Fairness und den Willen zur Umsetzung von Vorschlägen vermissen ließ. Die politische Bearbeitung der israelischen und der palästinensischen Öffentlichkeit durch Washington unterblieb. Dagegen sorgte in Israel die psychologische Kriegsführung dafür, daß für den Fall des Scheiterns die Verantwortung klargestellt war. Vor dem Treffen wurden Berichte gestreut und von den beiden auflagenstärksten israelischen Zeitungen aufgenommen, wonach Israel den besten aller möglichen Kompromisse unterbreiten werde, während die palästinensische Delegation voraussichtlich dazu neige, Entscheidungen zu vertagen.“
Bei dieser Vor-Verurteilung blieb es, auch bei den traditionellen Freunden Israels. Arafat wurde als uneinsichtiger Maximalist abgestempelt, der sein langfristiges Ziel – die Vernichtung Israels – nicht aufgeben wollte.
„Historiographisch ist das Urteil über Arafats vermeintliche Absichten zwar kaum mehr als eine Fußnote wert, aber international verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Noch 2002 glaubte Joschka Fischer an Israels „quälende Erfahrung“ mit dem Scheitern von Camp David und fragte, „ob die palästinensische Führung am Ende nicht mehr und ganz anderes wollte“.
Auch Bernsteins Analyse der „Road Map“, des seit 2003 propagierten internationalen Friedensplanes, hebt die Ungleichheit hervor, mit der die USA und die Europäische Union die Kontrahenten behandeln. Die „Road Map“ fordere nur von der palästinensischen Seite weitreichende Schritte.
„Die Israel zugedachten Verpflichtungen ließen sich kaum unverbindlicher formulieren. Dieser Bescheidenheit schloß sich das Auswärtige Amt in Jerusalem erfreut an: Es verlangte von den Palästinensern das Ende des Terrors, bevor die Vision eines palästinensischen Staates realistisch sei.“
Bernstein beendet sein Resumé der verpaßten Chancen lakonisch: „Mitte Juni 2002 begann die israelische Regierung mit dem Bau der „Trennungsmauer“. Im März 2004 zählte das von Ost-Jerusalem aus tätige „UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs“ in der Westbank 695 Sperranlagen.“
Aus den Trümmern des Friedenswerks von Oslo retteten einige führende Politiker die wichtigsten Teile und fügten sie zum Entwurf der „Genfer Initiative“ zusammen, für die Bernstein in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum wirkt. In dem im Buch vollständig übersetzten und abgedruckten Entwurf erkennt die palästinensische Seite Israel in seiner zionistischen Dimension als Staat für Juden an, dem nur ein geringer Zuwachs der arabischen Bevölkerung zugemutet werden darf, während die israelische Seite die Teilung Jerusalems akzeptiert, das zur Hauptstadt Israels und Palästinas werden soll. Israel hat sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen; durch einen Gebietsaustausch von etwa 70 qkm im Verhältnis 1:1 soll allerdings ein Teil der Siedlungen mit ca. der Hälfte der heutigen Siedlerbevölkerung in situ bleiben können. Ein Korridor mit Straßen- und Schienenverbindungen muß die Staatshälften Palästinas, Westbank und Gazastreifen, in Zukunft verbinden. Dem Plan schlägt vor allem in Israel ein äußerst ungünstiger Wind entgegen. Laut Bernstein betreiben israelische Regierungen anstatt einer Friedens- eine „Medienpolitik“, die dazu dient, die Verantwortung für die Verfestigung des Status quo den Palästinensern zuzuschieben.
„Die Genfer Initiative bleibt der letzte, fast verzweifelte Versuch eines Lösungsansatzes auf der Grundlage der politischen Vernunft. Ohne Implementierung von Vorgaben aus Genf sind neue gefährliche Etappen der Eskalation zu erwarten.“
In einem Nachwort zu Bernsteins Buch richtet sich der Leiter des israelischen Verhandlungsteams in Genf, Yossi Beilin, direkt an die deutschen Leser: „Die besonderen Beziehungen, die unsere beiden Länder verbindet, sollten in einem konstruktiven Dialog über die Zukunft und nicht allein über die Vergangenheit umgesetzt werden. Wahre Freundschaft darf nicht blinde Unterstützung und diplomatische Hängepartien auf dem Rücken dessen bedeuten, was Israel auch immer tut.“
Das ist das Thema des Buches von Rupert Neudeck: Ich will nicht mehr schwiegen. Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina. Neudeck skizziert das Unrecht des Besatzungsregimes in der Westbank, dem er auf humanitären Missionen begegnet ist, und argumentiert, daß gerade Deutsche dazu nicht schweigen dürfen. Er kritisiert vor allem die traditionelle Zurückhaltung, die in Deutschland gegenüber Israels Vorgehen geübt wird, und den mangelnden Mut derer, die es besser wissen müßten: deutsche Politiker, Journalisten, deutsch-jüdische Publizisten.
„Recht und Gerechtigkeit leben von engagierten und couragierten Bürgern. Das wurde all die Jahre meine wichtigste Maxime. Niemals feige sein, so wie die Generation unserer Eltern feige gewesen ist, tödlich feige bis zum Tod. Israelis und Juden, besonders deutsche Juden, sollten über jeden Deutschen, der nicht mehr gewillt ist feige zu sein, froh und dankbar sein.“
Neudeck erzählt von seinen Erlebnissen in der Westbank zwischen 2002 und 2004, vom Bau der „Mauer“ und den Folgen für die arabische Bevölkerung. Er zitiert Politiker, Presseberichte, Telefonate, aber vor allem jüdische und israelische Kritiker des nahöstlichen Status quo. Sein vieltöniger Text wird von einem fiktiven Dialog mit Martin Buber begleitet. Neudeck stellt sich darin die Frage, wie die heutige Situation in den Augen des 1965 verstorbenen jüdischen Religionsphilosophen ausgesehen hätte, der einen Zweivölkerstaat in Palästina anstrebte und die gewaltsame Kolonialisierung durch die Juden ablehnte.
„Martin Buber, wie haben sie ihre Zeit erlebt? Was würden sie sagen, wenn sie sehen könnten, daß Unrat von den Wohnungen orthodoxer Juden auf die in den engen Gassen der Altstadt von Hebron herumspazierenden Palästinensern ausgeleert wird. Was wäre ihre Reaktion, wenn sie vor den Checkpoints der israelischen Armee stehen würden?“
Kritik an der Besatzung wird laut Neudeck nicht ausreichend geübt, weil die Deutschen sich in einer Schuldfalle befinden oder einfach Angst haben, in die Ecke des Antisemitismus gestellt zu werden. Hinzu kommt, daß Ausländern seit Ausbruch der zweiten Intifada der Zugang zu den besetzten Gebieten verwährt wird. Beobachtern wie Neudeck, die auf humanitärer Mission unterwegs sind, kommt daher eine besondere Rolle zu.
„Man muß nur einmal durch Teile der Westbank gefahren sein, um selbst zu sehen, daß dort kein Staat errichtet werden kann. Das Gebiet ist regelrecht untauglich gemacht worden, noch ein Staat zu werden. Große eingezäunte und von Mauern umgebene Straßen „for Jews only“ durchziehen in immer größerer Zahl das Gebiet der sogenannten Westbank. Die palästinensischen Gebiete veröden, während die israelischen Siedlungen vorzüglich angelegt sind. Während die arabischen Dörfer ringsherum kaum Trinkwasser haben, vergnügen sich die Siedler in Swimmingpools.“
Neudeck schließt sein Buch mit dem schrecklichen Menetekel der deutschen Geschichte: „Es soll keiner später sagen, er habe nicht gewußt, was in Israel geschieht. Wer es wissen will, hat genügend Möglichkeiten, sich zu informieren, wer es nicht tut, will es nicht wissen.“
Gesendet im Deutschlandfunk am 30. Januar 2006 * copyright 2006 Daniel Cil Brecher