Daniel Cil Brecher

Al Nakba und der Krieg von 1948: Narrative und Wunschbilder im Westen

In Vorträge on Juni 21, 2010 at 10:46 am

Vortrag gehalten am 19. Juni 2010 im Gemeindehaus „Lamm“ in Tübingen

Für die meisten Juden und viele Nicht-Juden im Westen erschien die Gründung des Staates Israels und der erfolgreiche Ausgang des Krieges als der Schlusspunkt einer außergewöhnlichen, fast mythischen Entwicklung: ein Triumph des gerade so gepeinigten und fast vernichteten jüdischen Volkes über seine Feinde, als ein Richterspruch der Geschichte, der das durch Antisemitismus und Holocaust verursachte Leiden endlich auszugleichen schien.

Für die nicht-jüdische Bevölkerung Palästinas, und für die Öffentlichkeiten in arabischen und vielen anderen nicht-westlichen Ländern, bedeutete das Jahr 1948 den Sieg einer verkehrten Idee: die Ansiedlung von europäischen Juden gegen den Willen und auf Kosten der Ursprungsbevölkerung, eine Ansiedlung, die nur mit Waffengewalt durchgeführt werden konnte, von einer Kolonialmacht, die sich des Zionismus für eigenen Zwecke bediente; und die gewaltsame Gründung eines Staates auf Basis eines UN-Teilungsplanes, der äußerst ungerecht erschien. Für diese Gruppen bedeutete das Ergebnis des Krieges vor allem eines: den Untergang des arabischen Palästinas, so wie es über tausend Jahre bestanden hatte.

Vom Jahresende 1947 bis zum Beginn des Jahres 1949 wurden etwa 750.000 Menschen zur Flucht aus dem jüdischen Staatsgebiet gezwungen. Die Flüchtlinge ließen ganze Städte und Stadtviertel leer zurück, Häuser, Geschäfte, Betriebe, und Hunderte von Dörfern. Noch im Laufe des Jahres 1948 wurden die Dörfer zerstört, das Land und die auf Feldern und Hainen heranreifenden Erzeugnisse von den jüdischen Nachbarn übernommen, und der Häuserbestand ganzer Ortschaften und Stadtviertel unter jüdischen Einwanderer verteilt.

Die Beschreibung dieser Katastrophe ist eine emotionierende und zugleich politisch komplexe Aufgabe. Emotionierend, weil es um das Leben und Leid von so vielen unschuldigen Menschen geht, politisch komplex, weil das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, bislang nicht adäquat anerkannt ist und weil die Verantwortlichen ihre Verantwortung noch nicht angenommen haben. In Israel ist ein System der Leugnung und Verdrängung von Schuld und Verantwortung entstanden, mühevolle Konstruktionen und Wunschbilder, die es den Juden möglich machen, das idealisierte Selbstbild einer durch das eigene Leid moralisch sensitivierten und nach besonders hohen ethischen Maßstäben handelnde Gruppe aufrecht zu erhalten. Der Wunsch nach der Bestätigung des eigenen Leids und nach Anerkennung von Schuld ist bei allen Opfern von Gewalt und Unrecht zu finden. Bei den Juden wurde dieser Wunsch durch die öffentlichen Schuldbekenntnisse in Deutschland und die Entschädigungsmaßnahmen zum großen Teil erfüllt. Angesichts der ungebrochenen Verdrängungshaltung der israelischen Juden bleibt bei der arabischen Bevölkerung Israels und der Gebiete und unter den Flüchtlingen dieses Bedürfnis völlig unbefriedigt.

I

Es gibt – zusammengefasst – drei Thesen zur Entstehung der palästinensischen Katastrophe.

1. Die Flucht wurde hauptsächlich durch Kriegswirren ausgelöst und beruhte auf Führungsfehlern auf der arabischen Seite: schlechte Planung und eine falsche Taktik, die zu der, später fatalen, Aufforderung an Teile der arabischen Bevölkerung führte, das Kampfgebiet zu verlassen.

2. Die Flucht war die Folge einer beabsichtigten Vertreibung, die auf die Notwendigkeit zurückging, das für Juden vorgesehene Gebiet von einer Bevölkerung zu säubern, die sich den zionistischen Plänen widersetzte. Der Plan eines jüdischen Palästina musste zwangsläufig zur ethischen Säuberung der nichtjüdischen Bevölkerung führen.

3. Die Flucht war weder das Ergebnis des Zufalls der Kriegswirren noch – zwangsläufig- der Logik des Zionismus, sondern –  der Schutzlosigkeit der arabischen Bevölkerung, die sich nicht adäquat auf die Kämpfe vorbereitet hatte und von den Briten und den arabischen Nachbarländer im Stich gelassen wurde; und von gezielten Gewaltmaßnahmen der jüdischer Seite, die keine Zukunft für einen jüdischen Staat mit einer feindlich gesinnten arabischen Bewohnern sah, die mehr als 40% der Gesamtbevölkerung ausgemacht hätte. Eine Säuberungsaktion also, für die sich die ausschlaggebenden Motive und Gelegenheiten erst in der Situation des Krieges ergaben.

Ich neige zu dieser dritten These und habe die folgende Rekonstruktion darauf basiert, mit Hinweisen auf andere Meinungen.

Wer sich die Frage nach dem Schicksal der arabischen Bevölkerung stellt, muss mit den Plänen und Haltungen beginnen, die unter Zionisten seit den Zwanziger Jahren gegenüber den Arabern und der „Araberfrage“ vorherrschten. Das Resultat von 1948, das Verschwinden von neunzig Prozent der im zukünftigen Staat der Juden lebenden Nichtjuden, muss selbstverständlich in diesem weiteren Zusammenhang diskutiert werden und nicht nur im Kontext des Krieges von 1948.

Trotz der großen Zielstrebigkeit, mit der die Zionistische Bewegung die Ansiedlung von Juden betrieb, blieb die Kernfrage des Zionismus lange unbeantwortet: Die Schaffung eines unabhängigen jüdischen Staates in einem Land, das von einem anderen Volk bewohnt wurde. Die jüdische Besiedlung hatte pragmatisch begonnen – wo immer eine Stück Land zum Kauf stand, wurde gekauft, gebaut und gesiedelt, während die Führung sich wenig um die langfristigen Fragen kümmerte. So löste schon der erste Protest der arabischen Bevölkerung im April 1920 einen Schock aus. Der deutsch-jüdische Volkswirtschaftler Arthur Ruppin, der seit 1908 die Kolonisationsarbeit in Palästina im Namen der Zionistischen Bewegung leitete, schrieb am 7. April 1920, einen Tag nach Abflauen des zweitägigen Protests, in sein Tagebuch: „Wenige Tage haben genügt, um das Bild Palästinas und den Ausblick auf unsere Arbeit zu verändern. Bis heute Abend sind sechs tote Juden gezählt, mehrere Verletzte schweben noch in Lebensgefahr. Weizmann ist unter der Wucht dieser Ereignisse ganz zusammengebrochen und schien heute früh in einer Sitzung das Ende des Zionismus für gekommen anzusehen.“

Ein Jahr später, am 1. Mai 1921, nahmen arabische Bürger Jaffas eine von jüdischen Arbeitern abgehaltene Maifeier zum Anlass, erneut gegen das zionistische Mandat und die Einwanderung von Juden zu protestieren. Ruppin notierte am 1. Mai in seinem Tagebuch: „Für mich ist es besonders deprimierend, dass diese Vorfälle wirklich auf eine so judenfeindliche Stimmung der Araber schließen lassen, dass man an einer aufrichtigen Versöhnung zwischen Juden und Arabern fast verzweifeln muss“. In den folgenden Tagen verbreiteten sich die Proteste auf das ganze Land und forderten eine große Zahl von Opfern. Ruppin begriff sofort, dass eine „aufrichtige Versöhnung“ nicht die einzige Möglichkeit bildete, mit dem arabischen Widerstand umzugehen. Am 5. Mai 1921 notierte er: „Viele Kenner des Landes sagen, dass [eine konsequente Versöhnungspolitik] den palästinensischen Arabern gegenüber verfehlt ist und dass diese nur durch eine ’starke Hand‘ gewonnen werden können. Ich bin jedenfalls entschlossen, mich von meiner führenden zionistischen Stellung zurückzuziehen, wenn es sich zeigt, dass man zur Gewaltpolitik greifen muss.“ Ende Zitat. Angesicht des nicht nachlassenden Widerstandes der Araber war es in der Tat die „Gewaltpolitik“, der die Zukunft gehörte.

1923 schrieb der Führer der zionistisch-revisionistischen Bewegung, Ze’ev Jabotinsky, dazu: „Wir versuchen, eine Land gegen den Willen seiner Bevölkerung zu kolonisieren, in anderen Worten, mit Gewalt. […] Jede Urbevölkerung in der Welt würde sich gegen die Kolonisten wehren, solange es noch ein Funken Hoffnung gibt, der Kolonisierung zu entgehen. […] Wir haben den palästinensischen Arabern im Tausch für Palästina nichts anzubieten. Deshalb wird es nie zu einem freiwilligen Kompromiss kommen. Alle, die das Erreichen eines Kompromisses als das Sine Qua Non für den Zionismus betrachten, können gleich jetzt „Non“ sagen und den Zionismus fallen lassen. Die zionistische Kolonisierung muss entweder sofort stoppen oder andernfalls ohne Rücksicht auf die eingeborene Bevölkerung fortgesetzt werden.“ Ende Zitat.

Trotz der von prominenter zionistischer Seite schon so früh formulierten Bedenken wurde weiter Land aufgekauft, immer da, wo sich gerade ein arabischer Verkäufer fand, und so eine ständig wachsende Zahl von landwirtschaftlichen Siedlungen geschaffen. Das Ziel war, Juden anzusiedeln und mit ihrer Hilfe die wirtschaftlichen, politischen und räumlichen Voraussetzungen zu schaffen, um noch mehr Juden anzusiedeln. Ab Mitte der Dreißiger Jahre, als sich die Teilung des Landes abzuzeichnen begann, bekam die Besiedlung noch eine zusätzliche Funktion – die Eroberung des arabischen Raumes durch Zersiedlung. Durch den gezielten Ankauf von Ländereien und die Errichtung von versprengten Siedlungen in arabischen Ballungsgebieten konnte der Anspruch auf späteren Einschluss in das jüdische Staatsgebiet begründet werden. Die von der UNO 1947 eingesetzte Teilungskommission versuchte in monatelangen Sitzungen, das Problem des zersiedelten Raumes zu lösen und um die unzusammenhängenden jüdischen Siedlungsgruppen herum eine Grenze zu ziehen. Trotz der vielen Lösungen, die gefunden wurden, enthielt der auf diese Weise gezielt erweiterte jüdische Raum eine große Zahl von arabischen Bewohnern und damit schon das Motiv für die spätere Vertreibung der arabischen Bewohner des jüdischen Hinterlands.

Diese ebenso skrupellose wie kurzsichtige Politik der Zersiedlung des arabischen Raumes wurde übrigens ab 1967 in den besetzten Gebieten fortgesetzt. Die Durchsetzung des arabischen Raumes als Strategie zur Rückgewinnung des gesamten „Landes Israel“ bleibt damit weiterhin der Kern der jüdisch-arabischen Tragödie.

Nach Ausbruch der bislang schwersten Unruhen Mitte der Dreißiger Jahre tauchte zum ersten Mal die Idee der Teilung des Landes auf, vorgeschlagen von einer Britischen Untersuchungskommission, die sich mit dem bewaffneten Aufstand der arabischen Bevölkerung befasste. Dieser erste Teilungsplan von 1937 wurde in veränderter Form zehn Jahre später von den Vereinten Nationen gebilligt. Kurz darauf formulierte die jüdische Führung einen ersten, detaillierten Plan. Er sah im Fall eines Rückzugs der Briten die Übernahme der Mandatsverwaltung durch jüdische Organe vor und beauftragte die Untergrundarmee Hagana mit dem Schutz des jüdischen Siedlungsgebiets, das eine große arabische Minderheit einschloss. Der Plan basierte auf der Annahme, dass die britische Armee sich nicht in die Kämpfe zwischen Arabern und Juden einmischen und der Hagana für ihre Operationen freie Hand lassen werde.

Die zionistische Führung sagte die zwei Jahre spätere britische Entscheidung zu Nichteinmischung und Rückzug richtig voraus und begann sich darauf vorzubereiten. Das war ein entscheidender Vorteil. Zur gleichen Zeit ging die arabische Führung vom Gegenteil aus: dass die Briten das Mandat nicht abgeben, die Armee nicht zurückziehen und eine gewaltsame Machtübernahme der Juden nicht zulassen würden. Die Mehrheit der arabischen Bevölkerung war ohnehin zu einer militärischen Konfrontation weder willens noch fähig, während die zerstrittene und unbeliebte arabische Führung, wie ein Kritiker schrieb, eine „im Ganzen naive und unrealistische Politik“ betrieb. Die unterschiedlichen Erwartungen und Vorbereitungen erklären das äußerst ungleiche Kräfteverhältnis zwischen den beiden Seiten, das Ende 1947 vorherrschte, als Großbritannien ihren Rückzug und die Politik der Nichteinmischung verkündete. Die arabische Seite begann sich erst jetzt militärisch vorzubereiten. Die meisten neutralen Beobachter erwarteten – sollte es zu einer direkten Konfrontation zwischen den Milizen beider Seiten kommen – eine Niederlage der Araber. Der arabischen Führung blieb nichts anderes übrig, als ihre Hoffnungen auf eine Intervention von außen zu richteten.

Am 3. Dezember 1947, vier Tage nach dem UN-Teilungsbeschluss, sprach David Ben Gurion in einer Rede vor Parteigenossen das Problem der arabischen Bevölkerung an. Im geplanten arabischen Teilstaat sollten auf 42 Prozent der Fläche des Mandatsgebietes rund 820.000 Araber und 10.000 Juden leben; im separaten Gebiet von Jerusalem etwa je 100.000 Araber und Juden; und im geplanten jüdischen Teil – auf 56 Prozent der Fläche – ca. 500.000 Juden zusammen mit 430.000 Arabern. Ich zitiere: „Diese Tatsache muss in voller Klarheit und Schärfe gesehen werden“, sagte Ben Gurion. „Bei diesen Zahlenverhältnissen kann nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden, ob die Regierung durch eine jüdische Mehrheit gestellt werden wird. Es wird solange keinen stabilen und starken jüdischen Staat geben, solange er eine jüdische Mehrheit von nur 60% hat. Diese Situation erfordert eine neue Haltung, neue Denkgewohnheiten.“

Am Morgen nach der Abstimmung über den Teilungsplan griffen arabische Jugendliche zwei Busse in der Nähe des Flughafens in Lydda an und plünderten einen jüdischen Markt in Jerusalem. Ein dreitägiger Proteststreik gegen die Teilung wurde ausgerufen. An den Rändern jüdischer und arabischer Stadtviertel in Haifa, Jerusalem und Jaffa fanden die ersten Scharmützel zwischen den Milizen beider Seiten statt. Der erste Tag endete mit sieben Toten auf jeder Seite. Die Hagana erhielt den Befehl, sich auf Vergeltungsschläge zu beschränken, um den „Zirkel der Gewalt“ nicht auszudehnen und weitere Schichten der arabischen Bevölkerung nicht mit einzubeziehen. Trotzdem weitete sich der Zirkel von Angriff und Vergeltung immer weiter aus. Schon Mitte Dezember fürchtete die jüdische Führung, dass die defensive Strategie als Schwäche ausgelegt werden könnte.

In der Stadt Haifa, in der ca. 70.000 Araber wohnten und eine gleiche Zahl von Juden, setzte der Auszug der arabischen Mittel- und Oberschicht ein. Nach Schätzung der Mandatsregierung hatten Mitte Dezember bereits 15.000 Araber die Stadt verlassen. Viele gingen in den nahe gelegenen Libanon und nach Beirut. Auch die Bevölkerung von Jaffa, begann vor dem sich ausweitenden Bürgerkrieg zu weichen. Jaffa war damals die modernste arabische Stadt Palästinas mit fast 80.000 Einwohnern und dem Zentrum der Apfelsinenplantagen, der berühmten Jaffa-Orangen, deren Anbau damals noch in arabischen Händen lag. Sechs Wochen der Feindseligkeiten an der Stadtgrenze zu Tel Aviv hatten zu einem fast völligen Zusammenbruch des Lebens in der Stadt geführt. Am 6. Januar sprengten Mitglieder der von Menachem Begin geleiteten rechts-extremen Irgun-Miliz das Rathaus von Jaffa mit Hilfe einer Autobombe. Damit begann auch hier der Exodus der Mittel- und Oberschicht. Die meisten schlossen ihre Wohnungen und Betriebe in der Hoffnung ab, in einigen Monaten – nach dem Einmarsch arabischer Truppen aus den Nachbarländern – zurückkehren zu können.

In Jerusalem war die politische und militärische Lage anders. Die Zugangswege standen unter der Kontrolle der arabischen Milizen. Diese hatten, wie überall im Land, ihre Taktik auf die Unterbrechung des Verkehrs zwischen den verstreuten jüdischen Siedlungsgebieten verlegt. In Jerusalem ist einer der ganz wenigen Fälle des Krieges zu finden, in denen Juden aus belagerten Stadtvierteln flüchten mussten. Die Taktik der jüdischen Milizen war entsprechend aggressiver. Im Dezember und Anfang Januar führten Hagana und Irgun wiederholt Angriffe auf arabische Vororte aus, die über der Straße nach Tel Aviv lagen. Am 5. Februar gab Ben Gurion den Befehl, die arabischen Stadtviertel im Westen zu erobern und Juden in den geräumten Gegenden anzusiedeln. Das Ergebnis beschrieb Ben Gurion auf einer Parteisitzung am 7. Februar 1948: „Wenn ihr heute nach Jerusalem hineinfahrt – durch Lifta, Romema, Machane Jehuda, King George Street und Mea Shearim – seht ihr nirgends Fremde. Alles ist 100% jüdisch.“ Zitat Ende.

In der Küstenebene, in den ländlichen Gebieten Galiläas und des Flachlands südlich von Tel Aviv begann im Januar und Februar ein langsamer, ständiger Auszug der arabischen Dorfbevölkerung. In diesen Gebieten fand der immer heftiger werdende Kampf um die Landstraßen statt. In den meisten Fällen flüchteten die Bewohner nach Angriffen oder Vergeltungsaktionen von Hagana und Irgun oder aus Furcht vor solchen Angriffen. In einigen Fällen wurden ganze Dorfbevölkerungen gezielt vertrieben, durch Einschüchterung zur Flucht bewegt oder auf Befehl arabischer Milizen evakuiert. Der übergroße Teil dieser Flüchtlinge, und vor allem die Stadtbevölkerung, rechnete weder mit permanentem Exil noch mit permanentem Flüchtlingsdasein. Die meisten wichen der jüdischen Übermacht und hofften auf eine baldige Rückkehr.

In den ersten vier Monaten seit dem New Yorker Teilungsbeschluss waren bereits 75.000 bis 100.000 Araber geflohen. Diese erste Massenflucht war nicht das Resultat einer allgemeinen Vertreibungspolitik. Sie wurde ausgelöst durch die Haltung der Britischen Regierung, die der schwächeren arabischen Bevölkerung keinen Schutz gewähren wollte, durch Angriffe und Vergeltungsschläge der jüdischen Seite, die zur Verteidigung der eigenen Gebiete unternommen wurden, und durch die Fehler und Kurzsichtigkeit der arabischen Führung, die keine adäquaten politischen und militärischen Vorbereitungen getroffen hatte und die eigene Bevölkerung weitgehend ihrem Schicksal überließ. Das Ausmaß und die Schnelligkeit des Auszugs überraschten alle. Bei der jüdischen Führung führten sie zu einem neuen strategischen Denken.

Im März 1948 war der britische Rückzug weit fortgeschritten. Die arabischen Nachbarländer hatten eine Intervention zwar noch nicht formell beschlossen, aber alle Seiten gingen davon aus, dass sich der Bürgerkrieg zwischen den Milizen innerhalb kürzester Zeit zu einem Krieg zwischen den Armeen Israels und der Nachbarländer ausweiten würde. Die arabischen Armeen mussten die formelle Aufhebung des Mandats und den völligen Rückzug der Briten abwarten. Die jüdische Führung hatte somit ein bis zwei Monate Zeit, das Innere des zukünftigen Staatsgebiets zu sichern, in dem vorerst nur die schwachen arabischen Milizen operierten, und die verstreuten jüdischen Siedlungsgebiete zu einem verteidigungsfähigen Ganzen zusammenzufügen. Das Oberkommando der Hagana präsentierte dafür Anfang März einen Plan – Plan D. Teile diese Planes wurden später als Beweis angeführt, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine planvolle, systematische Vertreibung der arabischen Bevölkerung beabsichtigt war. Eine genaue Analyse der unter diesem Plan ausgeführten Operationen und Befehle, die nur zu einem kleinen Teil schriftlich erteilt wurden, ergibt ein komplexeres Bild. Im Resultat allerdings führten die im Prinzip defensiven Aktionen des Plan D in den Monaten März bis Juni zu einer fast völligen Entvölkerung der arabischen Gebiete. Die Zwischenwirkungen von militärischen Operationen und einer verängstigten, schutzlosen und fluchtbereiten arabischen Bevölkerung waren ausschlaggebend.

Plan D sah eine schrittweise Übernahme der von den Briten nach und nach geräumten Gebiete, der militärischen und zivilen Einrichtungen vor. Die Hagana sollte in diesen Gebieten, ich zitiere, “ Operationen gegen feindliche Siedlungen ausführen, die sich hinter, in der Nähe oder auf unseren äußeren Verteidigungslinien befinden mit dem Ziel, ihre Verwendung als Basis militärisch aktiver Kräfte zu verhindern. Siedlungen sollen umstellt, nach Waffen und Milizionären abgesucht werden. Im Fall des Widerstands sollen die feindlichen Kräfte zerstört und die Bewohner aus dem Staatsgebiet vertrieben werden. Im Fall der kampflosen Übergabe werden die Orte entwaffnet und eine Garnison hinterlassen. In den Fällen, in denen eine ständige Sicherung nicht möglich ist, sollen die Dörfer niedergebrannt oder abgerissen und die Reste vermint werden.“

Die Hagana wollte keinerlei Risiko eingehen. Während der erwarteten Kämpfe mit den arabischen Armeen an den äußeren Grenzen musste das Innere des Landes ruhig bleiben. Praktisch waren damit alle arabischen Orte innerhalb des zukünftigen Staatsgebiets zu militärischen Zielen erklärt.

Die im Plan D vorgesehenen militärischen Operationen begannen am 6. April in Jerusalem. Das Ziel war die Aufhebung der fast vollständigen Umzingelung der westlichen, von Juden gehaltenen Stadtteile. Innerhalb von vierzehn Tagen wurden Dutzende arabische Dörfer an den Zugangswegen angegriffen und die Milizionäre vertrieben. Die gesamte Bevölkerung dieser Orte flüchtete entweder vor oder während der Attacken. Einige leere Dörfer wurden völlig vernichtet, in anderen alle Häuser gesprengt, die nicht zur Verteidigung nötig waren. Diese erste, große Aktion der Hagana, deren Erfolge in den späteren Kämpfen zum Teil revidiert wurden, wirkte wie ein Schock auf die arabische Bevölkerung. Der Fall eines Dorfes, Deir Yassin, hatte eine derartige Wirkung, dass viele Araber und Juden in diesem einzigen Ereignis den wichtigsten psychologischen Faktor in den Geschehnissen der kommenden Monate sahen.

Nachrichten über das Massaker von Deir Yassin, das von den linksgerichteten jüdischen Parteien und der Führung sofort verurteilt wurde, drangen über das Radio in alle Dörfer und Städte. Die konkrete Drohung und Einschüchterung, die davon ausging, beeinflusste das Geschehen in den Städten Haifa und Jaffa, die zwei Wochen später hinter den sich zurückziehenden Briten von jüdischen Truppen angegriffen wurden.

Der jüdische Angriff auf das arabische Haifa begann überstürzt. Die Briten hatten sich unerwartet in der Nacht von 20. zum 21. April an den Stadtrand und Hafen zurückgezogen. Um das Vakuum zu füllen, begannen jüdische Truppen sofort mit der Eroberung strategischer Zufahrtswege und am Abend mit dem Angriff auf die arabischen Stadtviertel. Die sogenannte Schlacht um Haifa, die eine totale Katastrophe für die arabische Bevölkerung mit sich brachte, dauerte etwa 24 Stunden. Auf jüdischer Seite beteiligten sich etwa 500 Soldaten, von denen 20 getötet wurden. Die Hagana setzte alles auf größtmöglichen Schock und beschoss kurzerhand das Zentrum des arabischen Haifa, den Markt, mit Mörsern.

Die Beschießung des Marktes trieb nicht nur die etwa 1500 arabischen Milizionäre in die Flucht sondern auch fast die gesamte Zivilbevölkerung – 50.000 Menschen – die von britischen Truppen per Boot nach Acre/Akko evakuiert wurden, jedes Mal 200 oder 300 Menschen, in einer Aktion, die mehr als eine Woche dauerte. Auch in Acre fanden sie keine dauerhafte Zuflucht. Noch in der gleichen Woche begann die Hagana, auch diese alte Hafenstadt zu beschießen. Zwei Wochen später wurde Acre erobert. Von den inzwischen über 40.000 Menschen in der Stadt flohen neunzig Prozent über die Grenze nach Libanon und Syrien oder in die Gebiete des westlichen Jordanufers.

Drei Tage nach der „Schlacht um Haifa“ fand der Angriff auf Jaffa statt, die größte arabische Stadt Palästinas, die als Enklave im jüdischen Gebiet zum arabischen Staat gehören sollte. Die Hagana betrachtete diese Nachbarstadt von Tel Aviv, die von jüdischen Siedlungen umgeben war, nicht als Bedrohung und plante, die in Jaffa anwesenden Milizen durch eine Blockade zur Aufgabe zu zwingen. Aber die von der rechten Opposition geführte Irgun sah hier eine Gelegenheit, ein politisches Signal zu setzen.

Der Angriff auf Jaffa begann im Morgengrauen des 25. April mit einer Beschießung durch schwere Mörser, die von den Briten gestohlen worden waren. Die Irgun brauchte drei Tage, um die gut verteidigte Stadt einzunehmen. 72 Stunden lang blieben die inneren Stadtviertel unter Granatfeuer. Auch hier wurde die arabische Bevölkerung per Schiff oder über Land evakuiert. Von den ca. 80.000 ursprünglichen Einwohnern blieben nach Ende der Kämpfe nur 3.000 in der Stadt zurück. Jaffa wurde Teil der Stadt Tel Aviv.

Mitte April gab Ben Gurion zum ersten Mal einen direkten Befehl, eine ganze ländliche Region südöstlich von Haifa von Arabern zu „säubern“, trotz eines Waffenstillstandsangebots der arabischen Milizen. Der linksgerichtete Koalitionspartner Mapam protestierte. Ben Gurion bezichtigte seine Kabinettskollegen der Heuchelei. Ich zitiere: „Die Ideologie der jüdisch-arabischen Verbrüderung ist eine Sache, strategische Notwendigkeiten eine andere. Unsere Truppen sind mit einer grausamen Realität konfrontiert und hatten nur eine Wahl: die Araber zu vertreiben und ihre Dörfer zu zerstören.“

Seit Anfang April wurden noch einmal fast 200.000 Menschen zur Flucht gezwungen. Am 14. Mai, zwei Wochen nach dem Fall von Jaffa, beendeten die Briten ihren Rückzug. Der Staat Israel wurde ausgerufen und konnte endlich die jüdischen Einwanderer ins Land lassen, die auf die Öffnung der Grenzen gewartet hatten.

Diese Kombination von Faktoren – die Stärkung der strategischen Position der Juden durch die einsetzende Einwanderungswelle und die Fluchtbereitschaft der arabischen Bevölkerung angesichts der Hagana-Angriffe – führte zu der Politik der gezielten Vertreibungen. Am 15. Juni schrieb der israelische Außenminister Shertok an Nachum Goldmann, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses: „Bei der sich jetzt bietenden Gelegenheit zur einer dauerhaften und radikalen Lösung eines der lästigsten Probleme des jüdischen Staates stockt einem der Atem. Selbst wenn sich gewisse Nachwirkungen nicht vermeiden lassen, müssen wir doch diese große Chance nutzen, mit der uns die Geschichte so geschwind und unerwartet beschenkt hat.“

Mit der Intervention der arabischen Nachbarländer am 15. Mai wandelte sich der Bürgerkrieg zu einer Auseinandersetzung zwischen Armeen. Aber auch hier war das Ungleichgewicht der Kräfte groß. Die arabischen Länder, unterentwickelt und verarmt aus dem kolonialen Joch entlassen, schickten widerwillig und halbherzig eine Truppe von 23.000 Mann in den Kampf gegen die gerade gegründete israelische Armee, die über 35.000 Soldaten in Kampfeinheiten verfügte. Nur die Arabische Legion Jordaniens wurde von israelischer Seite als Gegner ernst genommen. Das von der jüdischen Führung bereits 1947 geschaffene Bild einer arabischen Übermacht war pure Fiktion und sollte das Ausland dazu bewegen, mehr und bessere Waffen zu liefern. Trotzdem – auch der Ausgang dieses Krieges blieb ungewiss. Die Angst der jüdischen Bevölkerung vor einer Niederlage und ihren Folgen war keine Fiktion.

Auf Grund geheimer Vereinbarungen zwischen der jüdischen Führung und dem Jordanischen König Abdallah beschränkte sich die Legion auf die Verteidigung der im Teilungsplan vorgesehenen arabischen Gebiete. Abdallah wollte sie seinem Königreich einverleiben. Nur über Jerusalem und die Verbindung zur Küste hatte es in den geheimen Gesprächen der vergangenen Jahre keine Übereinstimmung gegen. Hier kam es zu Kämpfen zwischen der Legion und der israelischen Armee.

Nach dem ersten Waffenstillstand am 11. Juni beschäftigte sich das Kabinett mit der Frage, ob die Flüchtlinge zurückkehren könnten. Ben Gurion sah in der Rückkehr den Keim eines neuen Krieges. Zu viele arabische Dörfer und Städte seien inzwischen zerstört und geplündert. Außerdem müsse Platz für die jüdischen Einwanderer geschaffen werden. Am 16. Juni wurde diese Haltung zur offiziellen israelischen Politik erhoben. Gegenüber dem UN-Vermittler Graf Bernadotte, der die Rücknahme der inzwischen über 300.000 Flüchtlinge verlangte, erklärte die Regierung am 17. Juni: „Diese Frage kann nicht behandelt werden, solange der Kriegszustand andauert. Die Regierung hat noch keinen Standpunkt gegenüber einer endgültigen Lösung eingenommen. Die Eigentumsrechte der Flüchtlinge bleiben solange gewahrt.“ Damit wurde eine Politik formuliert, die bis heute gültig ist. Im Juli telegraphierte der Außenminister Instruktionen an die israelische UN-Delegation. In diesen Richtlinien ist schon das Schlüsselargument enthalten, mit dem die israelische Regierung auch in den folgenden Jahrzehnten alle Schuld von sich wies. Ich zitiere:

„1. Der arabische Exodus ist eine direkte Folge der von den arabischen Staaten ausgehenden Aggression.

2. Arabische Rückkehr bleibt ausgeschlossen, solange Kriegszustand andauert. Ausnahmen nur in Sonderfällen auf Grund humanitärer Erwägungen.

3. Lösung Rückkehrfrage nur als Teil eines Friedensvertrages mit arabischen Staaten.“

Aber noch war die erste Phase der arabischen Tragödie nicht beendet. In kurzen, dem Waffenstillstand folgenden militärischen Operationen wurden zwischen Sommer und Winter 1948 neue Gebiete erobert – im Norden das gesamte Galiläa, im Süden die Negev-Wüste und ein breiter Landstreifen zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Hier lagen die arabischen Städte Ramle und Lydda, das heutige Ramla und Lod, auf deren Gebiet der internationale Flughafen „Ben Gurion“ liegt. Nur eine einzige Kompanie jordanischer Truppen – etwa 150 Soldaten – stand im Juli 1948 zu ihrem Schutz bereit, in der Erwartung, dass sich die israelische Regierung an die geheimen Abmachungen mit Abdallah halten werde. Die israelische Regierung jedoch sah in den außerhalb des designierten Staatsgebiets aber kaum 20 Kilometer von Tel Aviv liegenden Städten eine so große Bedrohung, dass sie mehrere Brigaden zu ihrer Eroberung einsetzte. Der Auftrag lautete: die Verteidiger möglichst schnell zu überwältigen und die Bevölkerung zur Flucht zu bewegen.

Am 10. und 11. Juli wurden die Städte vom Boden und aus der Luft bombardiert. Ein Teil der Bevölkerung floh. In der Nacht zum 12. Juli zogen sich die jordanischen Truppen zurück. Zur selben Zeit unterzeichnete der Stadtrat von Lydda die Übergabe. Das Dokument garantierte der Bevölkerung Schutz von Leben und Gut. Israelische Truppen betraten Lydda im Morgengrauen und internierten – um ungestört nach Waffen suchen zu können – die männliche Bevölkerung in den Moscheen und Kirchen der Stadt. Um die Mittagszeit entstand eine Schießerei zwischen Soldaten und in der Stadt noch versteckten Milizionären. Unter der relativ kleinen israelischen Besatzungsmacht, etwa 300 Mann in einer Stadt von mehr als 60.000 Einwohnern, brach Panik aus. Die Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte. In einigen Moscheen wurden die internierten Männer umgebracht. Am Ende lagen etwa 300 Bewohner der Stadt tot auf der Straße. Der Großteil der Bevölkerung beider Orte wurde sofort von der israelischen Armee in einem Gewaltmarsch über die jordanischen Linien in die Westbank abgeschoben.

Ein zweiter Waffenstillstand im Juli gab der israelischen Armee Gelegenheit, das Innere des jüdischen Gebiets und die Fronten von „feindlichen oder potentiell feindlichen“ arabischen Bewohnern zu räumen. Diesmal provozierten die Angriffe auf noch intakte Dörfer südlich und südöstlich von Haifa erstmals Proteste im Ausland. Die UNO entschloss sich zu einer Untersuchung. Der UN-

Gesandte Graf Bernadotte bezeichnete die Eroberungen als nicht gerechtfertigt, besonders „angesichts der Bereitschaft zu Verhandlungen“, und verurteilte Israel wegen der „systematischen“ Zerstörung von Dörfern. Die Angriffe von Juli bis Oktober trieben noch einmal ca. 100.000 Menschen in die Flucht.

Nach der Wiederaufnahme der Kämpfe am 15. Oktober gelang es der israelischen Armee weitere Gebiete zu erobern: das obere Galiläa, den Küstenstreifen südlich von Tel Aviv, das Vorgebirge des Judäischen Hochlands und den nördlichen Teil der Negev-Wüste mit der arabischen Stadt Beersheba. Ende Dezember 1948 waren weitere 100.000 bis 150.000 Araber geflohen.

Während der Operationen im Oktober kam es zu einer Welle von Übergriffen auf Gefangene und auf die arabische Zivilbevölkerung. In den letzten Kriegswochen eroberte die israelische Armee den gesamten Negev bis nach Eilat und vertrieb die meisten der dort lebenden Beduinen. Zum Jahreswechsel waren von den ursprünglich etwa 1 Million Arabern im israelischen Staatsgebiet nur noch 100.000 übrig. Der 1913 in Polen geborene und 1933 eingewanderte Yitzchak Pundak war gerade in der neuen israelischen Armee zum Brigadegeneral befördert worden. Als Befehlshaber des Südabschnitts hatte er während des Krieges Hunderte von Dörfern räumen lassen. 1997 wurde er gefragt, wie er heute zu dem Unrecht steht, dass der arabischen Bevölkerung unter seinem Befehl angetan wurde. Ich zitiere: „Die Bevölkerung von 200 Dörfern flüchtete. Wir zerstörten die Dörfer. Sie können sagen: Das ist ein Unrecht. Aber das größere Unrecht wurde den Juden angetan, im Holocaust. Hunderttausende Juden warteten darauf, ins Land zu kommen, eine Heimat zu finden. Ihre einzige Heimat war Israel. Niemand wollte sie aufnehmen. Europa. Frankreich, England, die Vereinigten Staaten – keiner wollte sie. Sie suchten eine Heimat, und die einzige Zuflucht war Israel. Also, wo konnten wir sie ansiedeln? In Tel Aviv? Wir brauchten Land, um die Leute aufzunehmen, um Siedlungen für sie zu bauen. So waren wir natürlich glücklich, dass die Araber flüchteten.“

Damit endet das erste Kapitel der palästinensischen Katastrophe.

Das folgende Kapitel begann mit der Weigerung der israelischen Regierung, die Flüchtlinge ganz oder teilweise zurückzunehmen. Von diesem Moment ab kann von einer ethnischen Säuberung auch im rechtlichen Sinne gesprochen werden. Die Rücknahme von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten nach Ende der Kampfhandlungen ist eine Verpflichtung, die im internationalen Recht verankert ist. So forderten die UNO und die dortigen Förderer Israels inklusive die USA die Regierung Ende 1948 unzweideutig dazu auf, der Rückkehr aller Rückkehrwilligen im Prinzip zuzustimmen. Dabei wurde angenommen, dass nicht alle früheren arabischen Bewohner im israelischen Staatsgebiet zu wohnen wünschten. Die entsprechende UNO-Resolution vom Dezember setzte der Rückkehr keine Fristen und sprach nur vom „frühest möglichen Zeitpunkt“. Die israelische Regierung weigerte sich trotzdem. Die arabischen Nachbarstaaten, die den Flüchtlingen Asyl gewährten, erklärten sich wirtschaftlich außerstande, alle Flüchtlinge in ihren Ländern zu absorbieren.

Inzwischen hatte sich durch den Zustrom von jüdischen Einwandern und die völlige Übernahme oder Zerstörung arabischen Besitzes das Primat der Nichtrücknahme so stark in der israelischen Politik verfestigt, dass selbst die Möglichkeiten zu einem Friedensschluss, die während der Genfer Friedensverhandlungen im Frühjahr 1949 auftauchten, von der israelischen Regierung abgewiesen wurden.

Die israelische Strategie, die bis in die 90er Jahre gültig blieb, brachte der spätere Außenminister Abba Eban im Juli 1949 so zum Ausdruck: „Es gibt keine Notwendigkeit, dem Frieden nachzulaufen. Ein Waffenstillstand reicht uns. Wenn wir dem Frieden nachrennen, werden die Araber ihren Preis fordern: Gebietsaufgabe oder Rücknahme der Flüchtlinge oder beides. Wir können es uns erlauben, noch einige Jahre zu warten.“ Aus einigen Jahren wurden Jahrzehnte. Die arabischen Länder, die anfangs bereit waren, einen Teil der Flüchtlinge zu integrieren, suchten die Hilfe der UNO. Damit begann das nächste Kapitel der Katastrophe: das fortdauernde Flüchtlingsdasein unter den elenden Bedingungen der von der UNWRA verwalteten Lager.

Am Ende des Krieges umfassten die neuen Staatsgrenzen Israels fast achtzig Prozent des gesamten Mandatsgebiets Palästinas. Bis zum Sommer 1949 kamen etwa 200.000 jüdische Einwanderer ins Land. Sechzig Prozent davon wurden in verlassenen arabischen Häusern untergebracht. Jüdische Siedlungen, Kibbuzim oder Moschavim, entstanden auf den Ruinen oder in der Nähe zerstörter Dörfer. Nach einer UN-Studie befand sich in den verlassenen arabischen Orten etwa ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes, und von den 370 Siedlungen, die zwischen 1948 und 1958 entstanden, lagen 350 auf arabischem Land. Der verlassene Besitz der arabischen Bevölkerung sicherte so den wirtschaftlichen Fortbestand des jungen Staates. Während Israel von der Flucht und den Enteignungen profitierte, zerbrach die arabische Gesellschaft Palästinas in Stücke.

II

In der jüdischen Gesellschaft Israels sind diese Ereignisse von mächtigen, allgegenwärtigen Mythen umrankt. Sie gehören zusammen mit der israelischen Deutungsweise der Ursprünge und Folgen des Krieges von 1948 zu jenem umfassenden Entstehungsmythos des Staates, der nicht nur in Israel verbreitet ist, sondern auch in einem großen Teil der westlichen Welt.

Die Frage nach Schuld oder Verantwortung für die Tragödie des palästinensischen Volkes wurde in Israel lange Zeit eindeutig beantwortet: Die Katastrophe wurde von der palästinensisch-arabischen Führung und den Regierungen der arabischen Nachbarländer selbst verursacht. Sie war eine Konsequenz des von arabischer Seite provozierten Bürgerkriegs von November 1947 bis Mai 1948 und des sich anschließenden ersten Nahostkriegs, der mit einem Angriff der arabischen Nachbarstaaten auf Israel begann und mit einem Eroberungsfeldzugs Israels in der Negev-Wüste 1949 endete. Die Flucht der Zivilbevölkerung kam dieser Version nach durch das spontane Ausweichen der arabischen Bevölkerung vor Kriegshandlungen zustande und durch die Aufforderung der arabischen Führung an die Zivilbevölkerung, sich zeitweise hinter die arabischen Linien in Sicherheit zu bringen. Da die arabische Seite mit ihrer Aggression die von der UNO beschlossene Teilung Palästinas zu verhindern suchte, müsse sie für die Kriegshandlungen, die dadurch ausgelöste Flüchtlingswelle und das seitdem bestehende Flüchtlingsproblem die alleinige Verantwortung tragen.

Die Rückkehr der Flüchtlinge lehnte und lehnt Israel mit dem Argument ab, dass die Ausübung dieses Rechts den „jüdischen Charakter“ des Staates gefährden würde. Mit „jüdischem Charakter“ ist nicht die Prägung des Landes durch jüdische Geschichte oder Kultur gemeint, nicht die Wahrung religiöser Freiheiten, sondern das Festhalten an einem deutlichen demographischen Übergewicht der Juden gegenüber dem arabischen Bevölkerungsteil. Israelische Regierungen haben sich bisher erfolgreich auf dieses Prinzip berufen können, trotz der einschneidenden Folgen für die Flüchtlinge und die Rechte der nichtjüdischen Bürger Israels, weil es zu den auch im Ausland akzeptierten Grundlagen des Staates gehört. Das Prinzip des „ethnischen Charakters“ Israels, also eines für die Ethnie der Juden reservierten Gemeinwesens, ist durch das Völkerbundsmandat von 1922, den UN-Teilungsbeschluss von 1947 und andere Entscheidungen der Staatengemeinschaft rechtlich legitimiert, und durch die Unterstützung des Westens politisch gesichert.

Die These von der Unschuld an der palästinensischen Katastrophe ist in der jüdischen Gesellschaft Israels von fundamentaler Bedeutung. Von ihr hängt das System der Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen ab, das die israelische Gesellschaft sich geschaffen hat und in Form der „Hasbara“, der auf das Ausland gerichteten Propaganda, der Welt präsentiert. Mit ihr steht und fällt das Gefühl der moralischen Überlegenheit und Integrität, auf denen die Opferbereitschaft der Bevölkerung und der Kampfeswillen der Armee basiert und die Unterstützung durch die Juden und Nicht-Juden im Ausland. In der Innenpolitik Israels ist die These so stark verfestigt, dass sie der Außenpolitik kaum Spielraum lässt. Jedes Eingehen auf arabische Forderungen, die sich aus der Katastrophe von 1948 ergeben, die Rückkehr von Flüchtlingen, die Restitution von hinterlassenem Eigentum oder die Leistung von Entschädigung, wird in der israelischen Öffentlichkeit nicht als moralische der rechtliche Verpflichtung hingestellt sondern als Entgegenkommen und mögliche Belohnung für Konzessionen, die von der anderen Seite zu leisten sind. Die Kluft zwischen den in Israel und unter Palästinensern gängigen Versionen der Konfliktgeschichte ist so groß, dass sie die Verhandlungen mit den Nachbarländern und den Palästinensern schwer belastet. Jeder Versuch, an den Grundannahmen der These zu rütteln, wird in der israelischen Öffentlichkeit sofort desavouiert und bekämpft.

Neben der quasi offiziellen israelischen Version der Entstehungsgeschichte des Flüchtlingsproblems gibt es Darstellungen, die – wie erwähnt – von komplexeren Ursachen oder von einer geplanten Vertreibung der Araber durch die israelische Armee ausgehen. Alle Versionen hatten bis in die späten Achtziger Jahre hinein gemein, dass sie sich nicht untermauern ließen und allein auf den Erinnerungen von Beteiligten basierten, die zu der einen oder anderen Seite gehörten. Die nach Öffnung der israelischen Archive einsetzende Forschung begann ein anderes, viel differenziertes Bild zu zeichnen, das allerdings der gängigen Unschuldsthese völlig widersprach. Während die „Neuen Historiker“ versuchten, das auf Mythen basierende Geschichtsbild der Epoche zu revidieren oder zu versachlichen, gingen andere Historiker zum Gegenangriff über. Sie unterlegten den „Neuen Historikern“ politische Motive und taten ihre Ergebnisse als antizionistische Propaganda ab. Beim Material aus den staatlichen Archiven, den Sitzungsprotokollen des israelischen Kriegskabinetts, den Kriegstagebüchern und schriftlichen Befehlen der militärischen Instanzen war höchstens an der Interpretation zu rütteln. Die Verlässlichkeit der mündlichen Quellen allerdings, der Zeugenaussagen von arabischen Flüchtlingen, die bei der Eroberung von Hunderten von Dörfern oft die einzigen Informationen lieferten, ließ sich grundsätzlich in Zweifel ziehen. Damit blieb an einem bestimmten Teil der Forschung, der Rekonstruktion von Vertreibungen, Gewaltakten und Massakern, der Makel der Einseitigkeit und Parteilichkeit haften.

In der israelischen Öffentlichkeit schlägt die Forschung der „Neuen Historiker“ kaum zu Buche. Dort, wo sie die Massenmedien beschäftigt, werden nur die vermeintlich politischen Motive der Historiker diskutiert. Der Inhalt der Arbeiten erscheint zu abwegig, um ernsthaft erörtert zu werden. So beharrt die israelische Öffentlichkeit weiterhin auf der These der durch Kriegswirren und arabische Hetze ausgelösten Flucht der Ursprungsbevölkerung.

III

Im Westen war die israelische Version der Ereignisse aus eigenen, sehr unterschiedlichen Gründen willkommen. Der Entstehungsmythos des Staates basierte auf Ideen, die der Zionismus mit seinem Umfeld im christlich geprägten Westen teilt – dass die Kolonialisierung Palästinas die Renaissance der Jüdischen Nation in ihrer alten Heimat darstellt und dass die jüdischen Ansprüche auf das Land zumindest gleichrangig mit den Interessen der arabischen Bevölkerung sind. Aus dieser Perspektive wuchs den Arabern Palästinas, die sich diesem Anspruch widersetzten, quasi von selbst die Schuld für den Grundkonflikt zu und damit auch für die Folgen.

Hinzu kommt noch eine Vielzahl anderer Faktoren, die in den einzelnen Ländern des Westens unterschiedliches Gewicht haben und von denen ich einige nennen will:

Die Solidarität mit Juden in der Nachkriegszeit: In vielen Länder, die 1939-45 von der Wehrmacht besetzt waren und in denen die jüdische Bevölkerung deportiert und umgebracht wurde, entstand nach 1945 das Wunschbild, dass mit der Entstehung Israels ein klein wenig des schrecklichen Geschehens wieder gut gemacht werden könnte. Auch die Gefühle von Mitschuld, Mitverantwortung und Ohnmacht, die sich unweigerlich nach der Deportation der jüdischen Mitbevölkerungen einstellten, haben eine Rolle gespielt. In den Niederlanden, in Belgien und Frankreich wurde Israel bis Anfang der Achtziger Jahre geradezu idolisiert, nicht zuletzt wegen seiner militärischen Leistungen und der Idee des gerechten Kampfes, den das kleine und tapfere Israel gegen die übermächtigen Araber zu führen scheint. Das Bild Israels als das Land der Schwachen und Verfolgten, das um seine Freiheit kämpft, war ein Mythos, dem sich nur wenige Bürger des Westens entziehen konnten.

Die Zionistische Führung, und nach 1948, israelische Regierungen haben diese Vorstellungen systematisch gefördert und für ihre eigenen Interessen genutzt.

Auch in den USA wurde und wird Israel als Militärmacht bewundert, hauptsächlich dafür, dass es sich 1948 und 1967 gegen eine vermeintliche Übermacht arabischer Staaten so glänzend gewehrt hat. In den USA war das idealisierte Bild der jüdischen Nation schon im 19. Jahrhundert mit wichtigen Elementen der eigenen Identität verbunden: den Tugenden der Pioniergesellschaft und mit dem Kampf um Territorium im Namen von Freiheit und Selbstbestimmung. In den Zwanziger Jahren begannen jüdische und zionistische Gruppen darauf einzugehen, in dem sie die jüdische Siedlergesellschaft in Palästina als Erbe der amerikanischen „Werte“ darstellten. Nach dem Krieg war John F. Kennedy einer der ersten, der eine „besondere Beziehung“ zwischen den USA und Israel beschwor, zuerst als Senator während des Wahlkampfs und dann als Präsident beim Versuch, Israel von der Entwicklung von Atomwaffen abzuhalten. Die Rhetorik der „besonderen Beziehung“ sollte nicht nur jüdische Wähler anziehen, sie musste auch die amerikanischen Verpflichtungen für die Sicherheit des bedrohten Staates betonen, ohne dass die USA gleichzeitig bereit waren, Israel eine formelle Sicherheitsgarantie zu geben.

Zum Schluss will ich auf die Gründe eingehen, warum das israelische Narrativ gerade in Deutschland besonders willkommen war und warum eine so einseitige und idealisierte Sicht israelischer Handlungen und Motive sich gerade hier besonders stark verfestigt hat.

In der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ist in der Bundesrepublik ab Mitte der Fünfziger Jahre ein umfassendes Wunschbild von Juden, vom jüdischen Staat und seinen jüdischen Bürgern entstanden. Ab 1960 setzte, begleitet von idealsierenden Darstellungen Israels in den bundesrepublikanischen Medien, eine umfassende Hinwendung zu Israel ein: Städtepartnerschaften, Schülerreisen, Exkursionen von Kirchengemeinden, Projekte deutscher Parteien, Gewerkschaften, wissenschaftlicher und kultureller Organisationen. Diese Hinwendung und die damit verbundenen Idealisierungen wurden zu einem wichtigen Element der politischen Identität der Bundesrepublik und seiner Eliten, zum Symbol der West-Orientierung und dem erfolgreichen Wandel Deutschlands zu Demokratie, Toleranz und Liberalismus.

Die Bilder von Israel in der Bundesrepublik trugen spezifische Züge: Die jüdischen Bürger des Staates wurden nicht mehr als „Juden“ dargestellt, sondern als „neue Menschen“, die von den negativen Assoziationen des Diasporatums befreit waren. Hier vermischten sich die Wunschbilder des Zionismus mit denen einer Gesellschaft, die jetzt eine Transformation vom Makel des Antisemitismus zum Philosemitismus herbeiwünschte. Gleichzeitig wurden in Israel ausgerechnet die deutschen Tugenden bewundert, die westliche Rationalität von Industrie, Landwirtschaft und der sozialen Institutionen. Israel repräsentierte die Fortschrittlichkeit des Westens. Die Araber galten als Verlierer, nicht nur des Krieges, sondern auch des Wettkampfs der Zivilisationen. Dabei waren die Juden, als Vertreter der Moderne, nichts anderes als die Vollstrecker eines unaufhaltsamen Schicksals. Das arabische Palästina hatte sich zwangsläufig, und verdientermaßen, zu einem jüdischen Israel gewandelt. Diese transformatorische Logik ist eines der Bindeglieder zwischen der Ideologie Israels und dem Geist der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Die Juden, für den deutschen Nationalismus ein Fremdkörper, schienen nun endlich auf ihrem „eigenen Grund und Boden“ angelangt zu sein und mussten nicht länger im fatalen Status der Minderheit – in der „Fremde“ – verharren. Das erschien manchen ein winziger Trost im großen Unglück der Judenverfolgung.

Diese Wunschbilder haben das Gespräch über Israel in der Bundesrepublik über Jahrzehnte beeinflusst, auf eine Art und Weise, wie sie sonst nur noch in den USA zu beobachten ist. In beiden Länder ist die Idealisierung Israels so stark Teil eigener kollektiver Identitätskonstruktionen geworden, dass ein Gespräch über den jüdischen Staat zu einem Gespräch über die eigene politische Identität geworden ist. Der öffentliche Diskurs über Israel und die Geschehnisse von 1948 ist aus diesen Gründen gerade in Deutschland  so normiert, eingeschränkt, ja erstarrt. Dieser Diskurs kann die komplexen Realitäten des jüdischen Staates schon längst nicht mehr adäquat erfassen.

© Daniel Cil Brecher 2010

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