Daniel Cil Brecher

Ein radikal revidiertes Geschichtsbild des Sechstagekrieges

In Buchbesprechungen Israel und Palästina on Mai 23, 2007 at 11:44 am

Tom Segev: 1967. Israels zweite Geburt. Siedler Verlag, München 2007, 800 Seiten, € 28

Der israelische Journalist und Historiker Tom Segev stellt seinem Panorama der Monate April bis November 1967 eine Skizze der israelischen Gesellschaft in den achtzehn Monaten vor Ausbruch des Sechstagekrieges voran. Die Wirtschaft befand sich in einem Tief, die Stimmung im Volk war schlecht. Für viele war der israelische Traum ausgeträumt – der Traum von nationaler Erneuerung, Gleichheit und vor allem von Prosperität, Frieden und Sicherheit. Segev zitiert Schlagzeilen aus der israelischen Presse der Vorkriegszeit.

„Krise.“ „Tod einer Vision. “ „Vision und Fehlschlag.“ „Wie haben sie es geschafft, dieses Land zu zerstören?“

Israels Isolierung in der Region, der andauernde Kriegszustand mit den Nachbarstaaten und die Feindschaft der arabischen Ursprungsbevölkerung, von der siebzig Prozent Land, Wohnung und Auskommen durch die Schaffung des jüdischen Staates verloren hatte, spielten dabei eine ebenso große Rolle wie die wirtschaftliche Rezession.

„In den achtzehn Monaten vor dem Sechstagekrieg wurden in Israel fast 120 Sabotageanschläge auszuführen versucht oder tatsächlich verübt – durchschnittlich alle fünf Tage einer. Die Saboteure kamen gewöhnlich aus Syrien [und] aus Jordanien, sprengten Wasserleitungen, Wasserpumpen, Lagerhäuser und Kraftwerke in die Luft und verminten Straßen, Autobahnen und Bahngeleise. Bei diesen Anschlägen wurden elf Israelis getötet, mehr als sechzig verletzt, die Hälfte davon Zivilisten. Die Zahl der Zwischenfälle stieg stetig. Der Terrorismus wurde zu einem Alltagsphänomen.“

Bei der Diskussion um die Gegenmaßnahmen entwickelte sich ein Konflikt zwischen der von Levi Eshkol geführten Koalitionsregierung aus sozialdemokratischen und religiösen Parteien und der Armee. Generalstabschef Yitzhak Rabin forderte groß angelegte Operationen gegen Jordanien und Syrien, die den palästinensischen Kämpfern der Fatah-Bewegung Unterschlupf boten. Das Kabinett aber wollte defensive Maßnahmen: Zäune, Hinterhalte, elektronische Überwachung.

„Hier ging es weniger um taktische und politische Auseinandersetzungen als um einen Generationenkonflikt. Eshkol und das Kabinett fürchteten die politischen Folgen von Großangriffen. Die Armee hingegen war nicht auf Verteidigung ausgelegt, sondern darauf, offensiv vorzugehen. Die Staatsgrenzen seien nicht befestigt und gesichert, und zwar aus gutem Grund, erklärte Moshe Dayan im April 1967.“

An der Grenze zu Syrien, am Rande der Golanhöhen und am See Genezareth, sorgten nicht nur eindringende palästinensische Kämpfer für Spannungen. Die umstrittene Bewirtschaftung von Ackerland durch Israel in der seit 1948 bestehenden Pufferzone – und der damit demonstrierte Besitzanspruch – führte zu häufigen Schusswechseln zwischen Syrien und Israel – meist mit Kleinwaffen. Die Armee, die überzeugt war, dass der stärkste Bundesgenosse Syriens, Ägypten, sich nicht in einen Krieg hineinziehen lassen würde, forderte eine groß angelegte Strafaktion. Auch die jüdischen Bauern im Norden und die von Menachem Begin geführte Opposition in Jerusalem verlangten radikale Maßnahmen.

„Am Freitag, den 7. April 1967 fuhren zwei Traktoren planmäßig auf ein sechs Hektar großes Grundstück. Die Syrer eröffneten das Feuer. Die israelische Armee schoss zurück. Rabin berichtete aufgeregt: „Ich sehe gerade, wie Granaten vor den Traktoren einschlagen“. Eshkol erklärte, die Arbeiten sollten fortgesetzt werden und wenn keine andere Wahl bleibe, müsse die Luftwaffe eingeschaltet werden. Am Ende des Tages hatte die israelische Luftwaffe insgesamt sechs [syrische] MiGs vom Himmel geholt, eine davon in der Nähe von Damaskus.“

Damit hatte die Armeeführung das Land an den Rand eines Krieges gebracht. Levi Eshkol schien entweder zu schwach, sich dem Druck der Generäle zu widersetzen, oder fühlte sich genötigt, so Segevs Spekulation, das Image des Schwächlings zu widerlegen, das seine politischen Gegner von ihm entwarfen – allen voran Altpremier Ben-Gurion und der ehemalige Stabschef Moshe Dayan. Im Hauptteil des Buch, einer minutiösen Rekonstruktion der Entscheidungsvorgänge im Kabinett und den Parteigremien vor, während und nach dem sechstägigen Krieg vom Juni 1967, steht diese Frage ständig im Hintergrund: Hat die politische Ebene versagt und sich vom Militär manipulieren lassen? Tom Segevs These lautet: Eine Kriegskoalition aus Generalstab und einigen Politikern sowohl der Regierung als auch der Opposition haben das Land gegen die Absichten und Neigungen der Regierungs- und Parlamentsmehrheit in einen unnötigen Krieg geführt. Syrien, Jordanien und Ägypten, die einen Angriff auf Israel in keinem Stadium beabsichtigten, lieferten dabei nur die Vorwände, das Feigenblatt, das Israel gegenüber der Schutzmacht USA und der internationalen Staatengemeinschaft brauchte. Der eigentliche Kriegsgrund war die Überzeugung des Militärs, dass die militärische Schlagkraft der Nachbarstaaten vorläufig noch gering sei und sich ihr Angriffspotential gegenwärtig noch leicht mit zehn Jahren zurückwerfen ließe. Der Slogan, der die Militärs beflügelte – und der die darauf folgende Besiedlung der besetzten Gebiete inspirierte – lautete: „Jetzt oder Nie“. Das Image des Krieges, das Israel erfolgreich in die Welt projizierte, war anders: Ein kleines, friedliebendes Land, das sich in einem verzweifelten Präventivschlag gegen übermächtige Feinde verteidigte, die kurz vor einem vernichtenden Angriff standen. Nichts war, so Segev, weiter von der Wahrheit entfernt.

„Ein Jahr zuvor hatte der [us-amerikanische Geheimdienst] vorhergesagt, dass die palästinensischen Terrorangriffe möglicherweise zu einem Krieg führen würden. In dem Fall werde Israel die ägyptische Luftwaffe zerstören und binnen Tagen oder Wochen Teile des Sinai, das Westjordanland und Ostjerusalem, sowie die Golanhöhen besetzen.“

Die Voraussage stimmte. Die Luftwaffe Ägyptens wurde am Morgen des 5. Juni 1967 innerhalb von achtzig Minuten zerstört. Damit war der Krieg entschieden. Ägypten hatte nur den Vorwand geliefert – die Schließung der Meerenge von Tiran für die israelische Schifffahrt und die Verlegung einer Panzerdivision in die demilitarisierte Sinaihalbinsel. Beide Maßnahmen sollten Israel von einem Angriff auf Syrien abhalten. Israel besetzte den Gazastreifen und Sinai in zwei Tagen. Auch Jordanien lieferte einen Grund, und büßte in einem Tag Ostjerusalem und die Westbank ein. Nur an der syrischen Front musste die Armee bis zum fünften Tag warten. Dann ging sie eigenmächtig vor. Die Regierung hatte eine mögliche Konfrontation mit der UdSSR, der syrischen Schutzmacht, vermeiden wollen. Dann war alles vorbei. Schon in der Kabinettssitzung vom 11. Juni, dem ersten Tag des Waffenstillstands, wurde über einen Namen für den Krieg nachgedacht.

„Bildungsminister Aran [wartete] mit der Bezeichnung „Israelischer Existenzkrieg“ auf. Eshkols Büro wurde mit Vorschlägen überhäuft: „Friedensfeldzug“, „Krieg des Heldentums“, „Lebenskrieg“. Die Presse sprach bereits kurz nach Kriegsende vom „Sechstagekrieg“. Dieser Name spielte auf die sechs Schöpfungstage an. Eshkol [teilte] mit, dass auch er sich für diese Bezeichnung entschieden habe.“

Die Propagandaleistung des Sechstagekrieges war ebenso beeindruckend wie die militärische. Die Zivilbevölkerung Israels und die einfachen Soldaten standen wochenlang Todesängste aus, weil sie einen vernichtenden Angriff des Feindes erwarteten. Auch die Menschen in den christlichen Ländern des Westens und die Juden der Diaspora bangten um die Zukunft des Landes und bejubelten später den glänzenden und offenbar völlig unerwarteten Sieg. Die israelische Regierung hatte sich auch im Verhältnis zu den USA erfolgreich geschlagen. Die Regierung Johnson gab – widerwillig und unter Vorbehalten – Israel in jedem Stadium der Vorbereitungen und der militärischen Maßnahmen grünes Licht. Nur der Frieden war in noch weitere Ferne gerückt. Achthundert Israelis und über fünfzehntausend Syrer, Jordanier und Ägypter hatten das Leben verloren. Die Nachbarstaaten waren schon im Oktober 1973 wieder in der Lage, sich für die demütigende Niederlage zu rächen. Auch die Besetzung der Gebiete, die Israel schon 1967 mit Juden zu besiedeln begann, brachte dem Land nicht mehr Sicherheit und zwang es zu neuen Kriegen. Der großen militärischen Entschlossenheit Israels stand und steht eine ebenso große Unentschlossenheit im Politischen gegenüber. Bei einem der vielen Geheimgespräche mit arabischen Führern in London, die auch direkt nach dem Krieg stattfanden, verhandelte Israels Außenminister Abba Eban mit dem jordanischen König Hussein.

„Auf Ebans Frage sagte Hussein, er schließe einen Separatfrieden mit Israel nicht aus. Er wollte wissen, was Israel anbot. Eban antwortete: Das sei noch nicht entschieden.“

Dieses ständige politische Zaudern gegenüber den sich immer wieder anbietenden Friedensszenarien bestimmt seit 1967 die israelische Politik. Segevs Buch schildert in beeindruckendem Detail den Ursprung dieses Problems: die korrumpierende Wirkung fast unbeschränkter militärischer Macht, der nicht nur die Nachbarstaaten, sondern auch die israelische Politik selbst wenig entgegen zu setzen hat. Aus der inzwischen umfangreichen hebräischen Fach- und Memoirenliteratur schöpfend konfrontiert Segev ein breites Publikum hier mit einem radikal revidierten Geschichtsbild des Sechstageskrieges. Diese Revision kommt gerade rechtzeitig für ein westliches Publikum, das für den schwierigen Dialog mit den arabischen Ländern eine sachliche Grundlage braucht und keine Mythen.

Gesendet im Deutschlandfunk am 11. Juni 2007 * copyright 2007 Daniel Cil Brecher

  1. Sehr geehrter Herr Brecher,

    im Deutschlandfunk wurde am 22.05.2007 ein Feature von Ihnen zum „Sechstagekrieg“ gesendet. Leider gibt es zu diesem Feature keinen MP3-Download zum Nachhören.

    http://www.dradio.de/dlf/sendungen/feature/604476/

    Wird dieser Beitrag auch bei anderen Radiosendern zu hören sein, so dass man ihn dann mitschneiden könnte? Oder gibt es sonst eine Möglichkeit, an eine Aufzeichnung zu gelangen?

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