Daniel Cil Brecher

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Krieg gegen die Juden? Die Dekontextualisierung des Palästinakonflikts

In Allgemein on Oktober 29, 2025 at 10:47 am

in: Wolfgang Benz (Hrsg.) Nakba. Erinnerungsdefizite und Denkverbote im Palästinakonflikt. Berlin (Metropol) 2025, S. 169-197




Eine kurze Szene und ein Zitat sollen am Anfang stehen. Ort ist das US-Außenministerium in
Washington, Datum der 16. Juli 2008. Die US-Außenministerin Condoleezza Rice spricht mit
dem palästinensischen Premierminister Ahmed Qureia (Abu Alaa) und dem PLO-
Verhandlungsführer Saeb Erakat über die Verantwortung für das palästinensische
Flüchtlingsproblem. Konkret geht es um die Frage der Entschädigung und um die mögliche
Rückkehr der Flüchtlinge nach Israel. Das Gespräch ist Teil des sogenannten
Friedensprozesses, hier zwischen den Palästinensern und der Regierung Olmert/Livni. Wir
verdanken die Veröffentlichung des Protokolls dem Fernsehsender Al Jazeera.
Rice stellt fest: „Zwei Dinge sind schwierig: die nicht-materielle Entschädigung und die Frage
der Verantwortung.“ Abu Alaa wirft ein: „Schwierig, weil es die Verantwortung Israels ist.“
„Wenn Sie über Verantwortung sprechen wollen“, antwortet Rice, „dann trägt nicht Israel die
Verantwortung, sondern die internationale Gemeinschaft. Sie hat Israel geschaffen.“ Sie fährt
fort: „Verantwortung, das ist ein befrachteter Begriff. Ich habe ihn immer abgelehnt; er ist
nicht zukunftsorientiert.“1
Rice wies mit ihrer Bemerkung auf für beide Seiten unbequeme Umstände hin: dass die
arabische Bevölkerung Palästinas schon lange vor dem Krieg von 1948 für die europäischen
Mächte keine Bedeutung hatte, bevor sie schließlich vertrieben wurde – in einem Krieg, auf
dessen kleinen zeitlichen Rahmen sich die israelische Diskussion über die Nakba heute
bequemerweise beschränkt; und auf die Mitverantwortung der Großmächte nach 1948, die
sich mit der Nichtrücknahme der Flüchtlinge abfanden. Sie wies auch auf den historischen
Raum, in dem die Fragen der Nakba kontextualisiert werden sollten: die kolonialen
Vorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Ansiedlung von Juden in Palästina
legitim erschienen ließen, und die europäische Kolonisierung der Region, die die Ansiedlung
praktikabel machte.
Von Anfang an war der Konflikt von sehr unterschiedlichen Sichtweisen über die Frage des
Ursprungs und der Dynamik geprägt. Die einen situieren ihn im Kolonialismus, die anderenim Kontext der zionistischen Idee jüdischer Geschichte, aus der sich die „Rückkehr“ der Juden und eine „nationale Wiedergeburt“ organisch zu ergeben schienen.2 Beide Seiten begriffen ihre Politik als defensiv und ihre Gewaltmittel als legitim. „Die Araber betrachten die nationalistischen Juden Palästinas als Eindringlinge und Aggressoren“, fasste der UN-Vermittler Folke Bernadotte 1948 die Kriegsgründe auf arabischer Seite zusammen.3 Der palästinensische Jurist Henry Cattan, der das Arabische Hohe Komitee 1947–1948 vor der UN vertrat, lehnte alle völkerrechtlichen Schritte, auf die sich die Zionisten beriefen, die
Balfour-Erklärung, das Völkerbundmandat und die Entscheidung der UN-Vollversammlung
vom November 1947, als von Anfang an ungerecht ab.4 In der Perspektive der jüdischen
Siedlergesellschaft (Jischuw) hingegen war der Angriff von 1948 der erneute Versuch, die
Schaffung eines international legitimierten jüdischen Gemeinwesens zu verhindern. „1947
gingen die Araber, wie schon 1921 und 1936, in der Hoffnung, ihre politischen Ziele mit
Gewalt durchzusetzen, zu offener Feindseligkeit über“, schrieb der spätere Außenminister
Abba Eban, wobei er die sehr unterschiedlichen Motive palästinensischer Proteste und die
Ablehnung durch arabische Staaten miteinander verschmolz.5
Die Nakba stellte Israel vor ganz neue politische Herausforderungen. Flucht und Vertreibung
und die spätere Weigerung der Rücknahme der Flüchtlinge schufen einerseits die von der
zionistischen Führung lange herbeigesehnte jüdische Mehrheit im Land. Die Weigerung der
Rücknahme und vor allem die Ablehnung jeglicher Verantwortung zogen allerdings auch
einen Wechsel auf die Zukunft. Die Nakba sei der erste große „Plonter“ (jiddisch für Fehler,
Verwicklung) Israels gewesen, gefolgt vom Plonter der Besiedlung der besetzen Gebiete,
schrieb im Jahr 2023 die israelische Tageszeitung Haaretz.6 Die Vertreibung vergiftete zudem
die Beziehungen zur eigenen palästinensischen Bevölkerung und zu den Nachbarn sowie die
Entwicklung der israelischen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur.
Auch außenpolitisch musste sich Israel Sorgen über die Nakba machen. Kaum zehn Jahre
nach den Ereignissen sah sich Ben Gurion genötigt, geheime Studien über die Schuldfrage in
Auftrag zu geben, um sich gegen eine mögliche US-Initiative zur Rücknahme der Flüchtlinge
zu wehren.7 Auch wenn die Flüchtlingsfrage nach den Camp David Accords mit Ägypten
1978 marginalisiert und durch die nebulöse Haltung der arabischen Staaten und der PLO
entschärft wurde, spielten die unterschiedlichen Auffassungen über die Nakba, und damit
über Ursprung und Dynamik des Konflikts, in den Verhandlungen der 1990er-Jahre eine
Schlüsselrolle.8
In der jüdischen Gesellschaft Israels entstand ein System der Rechtfertigungen, das es der
Bevölkerung möglich machte, das idealisierte Selbstbild einer durch das eigene Leid
moralisch sensitivierten und nach besonders hohen ethischen Maßstäben handelnden
Gruppe aufrechtzuerhalten. Der Konflikt der Narrative stieß dabei immer wieder auf die
Frage, wie eine Kontextualisierung vor dem Hintergrund anderer kolonialer Projekte mit der
zionistischen Sicht der inhärent einzigartigen, unvergleichbaren Geschichte der Juden zu
vereinbaren war. Eine gemeinsame fundierte Grundlage, die den Konflikt diskutabel gemacht
hätte, fehlte von Anfang an. Die fast unüberbrückbare Kluft der Narrative führte zu einem
Vokabular der prinzipiellen Ablehnung und zur Gewalt. „Der Zionismus entwarf eine
Gesellschaft, die immer nur ‚einheimisch‘ sein konnte“, schrieb Edward Said, „und zielte
gleichzeitig darauf ab, die Einheimischen zu ersetzten“. „Mit anderen Worten, wir müssen
den Kampf zwischen Palästinensern und Zionisten als einen Kampf zwischen einer Präsenz
und einer Interpretation verstehen.“9

„Juden ins Meer werfen“
Für die meisten Juden und viele Nicht-Juden im Westen erschien die Gründung des Staates
Israel und der erfolgreiche Ausgang des Krieges als Schlusspunkt einer außergewöhnlichen, ja
mythischen Entwicklung: ein Triumph des gerade so gepeinigten und fast vernichteten
jüdischen Volkes über seine Feinde, als ein Richterspruch der Geschichte, der das durch
Antisemitismus und Holocaust verursachte Leiden auszugleichen schien. Auch die
israelischen Sichtweisen der Hintergründe des Konflikts und der Vertreibung und Flucht der
arabischen Bevölkerung passten in dieses Bild.
Der israelische Außenminister Moshe Shertok schrieb im August 1948 an den UN-Vermittler
Folke Bernadotte: „Der Exodus der palästinensischen Araber […] ist eines jener
katastrophalen Phänomene, die den Lauf der Geschichte verändern. Die Massenflucht […] ist
eine direkte Folge der arabischen Aggression von außen. Ohne das Eingreifen der arabischen
Staaten hätte es eine überwältigende Zustimmung der einheimischen Araber zur Gründung
des Staates Israel gegeben, und inzwischen würden auf dem gesamten Staatsgebiet Frieden
und angemessener Wohlstand herrschen, zur Freude von Juden und Arabern
gleichermaßen.“10 Bernadotte war anderer Ansicht. In seinem Bericht vom Sommer 1948, den
er einige Wochen vor seiner – u. a. durch den späteren israelischen Premier Jitzchak Shamir
veranlassten – Ermordung verfasste, verwies er auf Fluchtgründe, die in Israel und Teilen der
westlichen Öffentlichkeiten erst vier Jahrzehnte später zum Gemeingut wurden: „Der Exodus
der palästinensischen Araber war das Ergebnis von Panik, die durch die Kämpfe ausgelöst
wurde, von Gerüchten über tatsächliche oder angebliche Terroranschläge und Vertreibung.“11
Die Frage von Ursprung und Motiven für den Exodus spielte in Israel allerdings zu diesem
Zeitpunkt nur eine praktische Rolle: wie konnte die Fluchtbereitschaft ausgenutzt und
verstärkt werden. Die israelische Armeeführung machte sich vor allem Sorgen über die
Kampfmoral der hastig rekrutierten, unerfahrenen Soldaten. Während der Kämpfe von 1948
verbreitete die Armee Nachrichten über genozidale Absichten der Gegenseite, über einen
angeblichen arabischen Plan, „die Juden ins Meer zu werfen“. Der Kampf mit den arabischen
Invasoren und palästinensischen Milizen sei ein Kampf auf Leben und Tod, der kein Pardon
dulde.12
Der israelische Historiker Shay Hazkani untersuchte Briefe von Teilnehmern an den
Kämpfen von 1947–48 und stieß auf Spuren dieser Vernichtungsängste unter den jüdischen
Soldaten.13 Die angebliche arabische Absicht, die Juden ins Meer zu werfen, wurde in den
folgenden Jahrzehnten zu einem Pfeiler der israelischen Hasbara, der auf das Ausland, aber
auch auf die eigene Gesellschaft gerichteten Propaganda.Siesollte den Kontext der
Auseinandersetzung und die drakonischen Gegenmaßnahmen Israels erklären. Juden seien
gezwungen, sich im Kampf gegen Araber und Palästinenser (zum wiederholten Mal) gegen
eine totale Vernichtungsabsicht zu wehren. Hazkani schrieb 2022 dazu: „Jede Woche
berichtet der Kolumnist Ben-Dror Yemini seinen Lesern in Yedioth Ahronoth von arabischen
Führern, die 1948 dazu aufriefen, die Juden ins Meer zu werfen. Mit anderen Worten: Sie
wollten sie systematisch abschlachten. In 15 Jahren Recherche, in denen ich Hunderte von
Propagandadokumenten aus den Jahren 1947 bis 1949 gelesen habe, bin ich nur auf einen Fall
gestoßen, in dem ein arabischer Führer ‚Meer‘ und ‚Juden‘ im selben Satz erwähnte. Die
bekannteren Zitate (wie jenes, das dem damaligen Generalsekretär der Arabischen Liga,
Azzam Pasha, zugeschrieben wird) werden nicht durch arabische Quellen gestützt. […] Den
Dokumenten zufolge, die ich für mein Buch gesammelt habe, entstammen die Behauptungen
[…] der offiziellen zionistischen Propaganda.“14
Ein ähnliches Beispiel ist die Behauptung, dass arabische Staaten die palästinensische
Bevölkerung im April 1948 in Rundfunksendungen zur zeitweisen Evakuierung ihrer Dörfer
und Städte aufgerufen hätten. Damit sollte die These untermauert werden, dass nicht Israel,
sondern die Araber schuld an der Tragödie seien. Auch dies war pure Propaganda.15

Warum gebrauchen sie Gewalt?
Der Jischuw musste sich von Anfang an mit der Frage des gewaltsamen palästinensischen
Protests und Widerstands auseinandersetzen. Trotz der großen Zielstrebigkeit, mit der die
zionistische Bewegung die Ansiedlung von Juden betrieb, war eine Kernfrage offengeblieben:
Wie konnte ein jüdischer Staat in einem Land geschaffen werden, das von einem anderen
Volk bewohnt wurde? Schon der erste Protest der arabischen Bevölkerung im April 1920 löste
einen Schock aus. Der deutsch-jüdische Soziologe Arthur Ruppin, der seit 1908 die
Kolonisationsarbeit in Palästina im Namen der zionistischen Siedlungsbewegung leitete,
schrieb am 7. April 1920, einen Tag nach Abflauen des zweitägigen Protests, in sein
Tagebuch: „Wenige Tage haben genügt, um das Bild Palästinas und den Ausblick auf unsere
Arbeit zu verändern. Bis heute Abend sind sechs tote Juden gezählt, mehrere Verletzte
schweben noch in Lebensgefahr. Weizmann ist unter der Wucht dieser Ereignisse ganz
zusammengebrochen und schien heute früh in einer Sitzung das Ende des Zionismus für
gekommen anzusehen.“16
Ein Jahr später, am 1. Mai 1921, nahmen arabische Bürger Jaffas eine von jüdischen Arbeitern
abgehaltene Maifeier zum Anlass, erneut gegen die Einwanderung von Juden zu protestieren.
Ruppin notierte am 1. Mai in seinem Tagebuch: „Für mich ist es besonders deprimierend,
dass diese Vorfälle wirklich auf eine so judenfeindliche Stimmung der Araber schließen
lassen, dass man an einer aufrichtigen Versöhnung zwischen Juden und Arabern fast
verzweifeln muss.“
In den folgenden Tagen weiteten sich die Proteste auf das ganze Land aus und forderten eine
große Zahl von Opfern. Ruppin begriff, dass eine „aufrichtige Versöhnung“ nicht die einzige
Option war, mit dem arabischen Widerstand umzugehen. Am 5. Mai 1921 notierte er: „Viele
Kenner des Landes sagen, dass [eine konsequente Versöhnungspolitik] den palästinensischen
Arabern gegenüber verfehlt ist und dass diese nur durch eine ‚starke Hand‘ gewonnen werden
können. Ich bin jedenfalls entschlossen, mich von meiner führenden zionistischen Stellung
zurückzuziehen, wenn es sich zeigt, dass man zur Gewaltpolitik greifen muss.“17 1923 schrieb
der Führer der zionistisch-revisionistischen Bewegung, Ze’ev Jabotinsky: „Wir versuchen, ein
Land gegen den Willen seiner Bevölkerung zu kolonisieren, in anderen Worten, mit Gewalt.
[…] Jede Urbevölkerung in der Welt würde sich gegen die Kolonisten wehren, solange es
noch einen Funken Hoffnung gibt, der Kolonisierung zu entgehen.“18 Angesichts des nicht
nachlassenden Widerstandes der Araber war es in der Tat die Gewalt, der die Zukunft
gehörte.
Das Bild arabischer Gewalt, das zunächst eine unbeschönigte Sicht der Ursachen enthielt,
begann in der Periode 1948–1967 auf einen durch den Holocaust erweiterten historischen
Kontext zu verweisen, in dem die Vorstellung der immerwährenden Diskriminierung und
Gefährdung der Juden die Grundlage bildete. Die neue Sichtweise umfasste aber auch
postkoloniale Elemente. Juden waren nun das Staatsvolk, das palästinensischen Bürgern
einen Status zuweisen musste. Dieser Bevölkerungsteil wurde jetzt „Araber Israels“ genannt,
Mitglieder einer transnationalen Ethnizität, deren Heimat und nationale Rechte nicht
organisch mit diesem Land verbunden waren. Juden, ehedem selbst transnational, nahmen
die Rolle der Urbevölkerung an. Der Status der „Anderen“ wurde auch noch dadurch
bekräftigt, dass die palästinensischen Bürger bis 1966 unter Militärverwaltung standen.
Als Anfang der 1950er-Jahre palästinensische Gruppen Anschläge gegen Ziele in Israel zu
verüben begannen und die israelische Armee mit Vergeltungsschlägen reagierte, stellte sich
die Frage der Motive und des Charakters der Gewalt erneut. Der tunesisch-jüdische
Sozialwissenschaftler Albert Memmi schrieb 1957 über die Haltung der Franzosen als
Herrscher in den Kolonien: „Die Menschlichkeit der Kolonisierten wird vom Kolonisator
geleugnet und ist für ihn undurchsichtig. Es sei sinnlos, behauptet er, zu versuchen, die
Handlungen der Kolonisierten vorherzusagen (‚Sie sind unberechenbar! ‚Bei ihnen weiß man
nie!‘). Es scheint ihm, dass die Kolonisierten von einer seltsamen und beunruhigenden
Impulsivität beherrscht werden.“19
Ähnliche Konstruktionen lassen sich auch in Israel finden. Die Anschläge wurden der
„Mentalität“ und „Unmenschlichkeit“ der Araber zugeschrieben. Der koloniale
Zusammenhang und die Menschlichkeit der Vertriebenen begannen schon hier völlig aus
dem Blickfeld zu verschwinden. Der in Ostjerusalem ansässige Sari Nuseibeh, später Rektor
der Al-Quds-Universität, beschloss 1968, kurz nach der Eroberung der Westbank, einen
Hebräischkurs in einem Kibbuz in Israel zu besuchen: „Der typische Kibbuznik war ein
vorbildlicher Humanist und Sozialist, eine Person, die ich einfach bewundern musste.
Gleichzeitig [hatten] diese Kibbuzniks keine Ahnung von dem hohen Preis, den wir Araber
für ihre Freiheit bezahlten. Ihr Humanismus schloss uns nicht ein.“20
Auch die israelische Historiografie der Nachkriegszeit bezog sich auf die Kategorien des
„Andersseins“ und der „arabischen Mentalität“. So wurden die Motive des Angriffs 1948 u. a.
der starken Emotionalität und fehlenden „Logik“ der Araber zugeschrieben, während die
Kriegsführung Israels als von Rationalität und Menschlichkeit geprägt galt. In den 1950er-
Jahren bürgerte sich auch die Bezeichnung „Befreiungskrieg“ ein, ein Topos, der in der Idee
vom Zionismus als „Befreiungsbewegung“ gründete.21 Israel versuchte sich damit im globalen
Prozess der Entkolonialisierung die Rolle der Kolonisierten anzueignen und die
Auseinandersetzung mit den Arabern als zivilisatorischen Konflikt zu stilisieren. Edward Said
bemerkte dazu: „Zionismus und Israel wurden mit Liberalismus, mit Freiheit und
Demokratie, mit Wissen und Licht assoziiert. Im Gegensatz dazu waren die Feinde des
Zionismus lediglich eine Version des fremden Geistes des orientalischen Despotismus, der
Sinnlichkeit, der Ignoranz und ähnlicher Formen der Rückständigkeit.“22 Alle diese Elemente
trugen dazu bei, dass der koloniale Kontext des Konflikts im öffentlichen Diskurs negiert und
im Laufe der Zeit tabuisiert werden konnte. In der Haltung der jüdischen Gesellschaft Israels
gegenüber den „Arabern“ blieb er jedoch latent fortbestehen.
In israelischen Filmen dieser Zeit wurde der heroische Kampf des „Sabra“, des in Palästina
geborenen Juden, gegen die zahlenmäßig überlegenen, aber zivilisatorisch unterlegenen
Araber gefeiert. Der nur einige Jahre zurückliegende Vernichtungsfeldzug des
Nationalsozialismus gegen die Juden bildete hier bereits die Folie. Im ersten in Israel
produzierten Spielfilm, „Hügel 24 antwortet nicht“ (1955, Giv’a 24 Eina Ona), müssen vier
gerade mobilisierte Soldaten einen Hügel am wichtigsten Zugangsweg nach Jerusalem
verteidigen. Der Film, der eine Generation lang das Bild des „Befreiungskrieges“ formen half,
verbindet die Handlung auf vielfältige Weise mit den Verbrechern der Nazis, mit jüdischem
Widerstand und der Metamorphose des schwächlichen Diaspora-Juden zum Sabra. Drei der
vier Soldaten waren vor 1948 am Schmuggel von Überlebenden nach Palästina beteiligt und
unterstützten ihre Integration in den kämpfenden Jischuw. In einer Schlüsselszene versucht
einer der vier Soldaten, einen verwundeten ägyptischen Soldaten zu retten. Dabei entdeckt er
eine Tätowierung, die den ägyptischen Soldaten als Deutschen und Mitglied der SS ausweist.
In einem langen, bemerkenswert absurden Monolog gesteht der ehemalige Obersturmführer
seine ungebrochene Treue zum „Führer“23
Auch zwei internationale, in Israel gedrehte Spielfilme stellen die Verbindung zwischen
Arabern und NS-Deutschland her. In Judith (1966) spielt Sophia Loren die Frau eines
ehemaligen SS-Offiziers. Sie wird von der Hagana nach Israel entführt, um ihren Mann zu
identifizieren, der im Krieg von 1948 auf der Seite der Araber teilgenommen hat.24 In Exodus
(1960) erscheint der Streit um Palästina ausdrücklich als eine Fortsetzung des jüdischen
Kampfes gegen die Nazis. Dieses Werk – die „beste Werbung, die Israel je hatte“ (Film
Quarterly 1961) – war einer der erfolgreichsten Spielfilme der Zeit, der großen Einfluss auf
das Bild von Zionismus und Israel in den Vereinigten Staaten hatte. Der Film beschreibt das
Schicksal von Holocaust-Überlebenden, die vor 1948 gegen den Widerstand der Briten in
Palästina an Land gebracht wurden und sich dem Kampf gegen die Araber anschlossen, u. a.
auch gegen die Freischärler von Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem. Gezeigt
wird explizit, wie die Holocaust-Erfahrung die Überlebenden zu besonders entschlossenen
Kämpfern gemacht hat. In einer Schlüsselszene nehmen die Freischärler Rache an Taha,
einem arabischen Dorfältesten in Galiläa. Er hatte freundschaftliche Beziehungen zu einem
benachbarten Kibbuz unterhalten. Die Anhänger des Mufti hängen seine Leiche im Dorf auf
und schneiden einen Davidstern in seine Brust. An den Dorfmauern hinterlassen sie
Hakenkreuze und die Aufschrift „Jude“.25
Die Vorstellung vom arabischen Kampf gegen den Zionismus als einen vom Antisemitismus
inspirierten genozidalen Krieg gegen Juden spiegelt sich auch in der prominenten Rolle, die
in Israel Mohammed Amin al-Husseini zugewiesen wird. Der geistige Führer der arabisch-
palästinensischen Bevölkerung der Mandatszeit, von den Briten zum „Großmufti“ ernannt,
kollaborierte mit dem faschistischen Italien und mit Nazi-Deutschland, half bei der
Rekrutierung von Moslems und verbreitete während seines Exils in Deutschland
antisemitische und antizionistische Propaganda. Nach dem Rückzug der Briten aus Palästina
versuchte er, sich dem Kampf gegen die Gründung des Staates Israels anzuschließen, er
konnte aber seine führende Position nicht mehr zurückgewinnen. Seine Rolle im Holocaust
und die Bedeutung seiner antisemitischen Überzeugungen sind heftig umstritten, vor allem
die Einschätzung, dass seine Aktivitäten während des Zweiten Weltkriegs ein Beweis für die
antisemitischen Absichten und Motive des palästinensischen Widerstandes gegen Israel seien.
2015 erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, dass Amin al-Husseinis
Treffen mit Hitler 1941 in Berlin ausschlaggebend für den Holocaust gewesen sei. Hitler habe
die Juden lediglich vertreiben wollen. Um ihre Einwanderung nach Palästina zu verhindern,
habe Amin al-Husseini Hitler vorgeschlagen, die Juden zu vernichten.26 Der Historiker Shay
Hazkani stellte fest: „Jedes Kind in Israel weiß, dass alles bereits bekannt ist, wenn es um den
berüchtigten Mufti von Jerusalem geht. Schließlich sind Amin al- Husseinis Verbindungen zu
hohen Funktionären der NSDAP und die grausame Propaganda, die er während des Zweiten
Weltkriegs im Radio verbreitete, seit nunmehr sieben Jahrzehnten die Lieblingsthemen der
israelischen Öffentlichkeitsarbeit.“27


„Israels stärkste Waffe“
Mit der „Revolution“ (Mahapach) von 1977 kam zum ersten Mal die rechtszionistische
Likud-Partei unter Menachem Begin an die Macht. Damit begann sich der Diskurs über den
Holocaust und den Konflikt mit den Palästinensern in die heute bekannte Richtung zu
entwickeln. Politiker sprachen nun fast täglich von den Lehren, die aus der Judenverfolgung
zu ziehen seien. Der Holocaust wurde zur allgegenwärtigen Metapher und diente als
wichtigste Legitimation öffentlichen Handelns gegenüber den Palästinensern, den arabischen
Ländern und im Verhältnis zur Welt.
Die Folgen der politischen Wende von 1977 für die nationale Erinnerungskultur konnte ich
selbst in der ersten Reihe miterleben. 1978 trat ich als Historiker in die israelische Armee ein
und wurde in der Abteilung „Kampftraditionen“ mit der Einführung der Materie „Holocaust
und Heldentum“ in den Schulungsplan für Rekruten und Offiziersanwärter beauftragt. Die
militärhistorische Abteilung „Kampftraditionen“ hatte bis dahin Material zur Geschichte der
israelischen Streitkräfte herausgegeben, in dem die Operationen von 1948, 1967 und 1973
ebenso wie die Aktivitäten der jüdischen Milizen vor 1948 behandelt wurden. Jetzt sollten die
Aufstände in den Ghettos und die Heldentaten jüdischer Partisanen vorrangig behandelt
werden. Diese Erweiterung der Perspektive hatte das Ziel, eine Analogie zwischen den
Aktionen der israelischen Armee und dem verzweifelten Überlebenskampf der Opfer der
Vernichtungsmaschinerie zu schaffen.28
In den ersten Jahren der Regierung Begin wurde die unbequeme und ambivalente Erinnerung
an die Judenverfolgung in ein umfassendes Holocaust-Ethos verwandelt, das die
Wehrbereitschaft von Armee und Bevölkerung festigen und das zionistische Narrativ
bekräftigen sollte. Als europäische Staaten im Juni 1980 erstmals zu Friedensverhandlungen
mit der PLO aufriefen, zu der bis dahin Kontakte tabu waren, berief sich Ministerpräsident
Begin in seiner Ablehnung auf den Holocaust: „Wir werden aufgefordert, die Arabische SS,
auch PLO genannt, in den Friedensprozess mit einzubeziehen. Diese Mörderbande hat am
Vorabend des Gipfels von Venedig ihre Absicht kundgetan, die ‚Zionistische Einheit‘, wie sie
es nennt, politisch, ökonomisch, militärisch, kulturell und ideologisch zu beseitigen. Seit
‚Mein Kampf‘ hat niemand mehr so deutlich seine Absicht erklärt, die jüdische Nation zu
vernichten.“29
In einer Stellungnahme während der Invasion des Libanon 1982 ging Begin mit identitären
Konstruktionen noch einen Schritt weiter: „Ich fühle mich wie ein Regierungschef, der seine
tapfere Armee nach Berlin führt, wo sich Hitler und seine Henker in einem Bunker tief unter
der Erde eingegraben haben. Meine Generation […] hat am Altar Gottes geschworen, dass
derjenige, der seine Absicht verkündet, den jüdischen Staat oder das jüdische Volk zu
vernichten, sein Schicksal besiegelt hat. Das, was einmal von Berlin ausging, Berlin ohne
Anführungsstriche, wird nie wieder geschehen.“30 Dieser neue Holocaust-Diskurs
beschleunigte den Prozess der Umdeutungen, die den Konflikt mit den Palästinensern um
Territorium und Souveränität dem Geschichtsraum von Judenverfolgung und Holocaust
zuordneten. Er wies zudem der arabischen-palästinensischen Seite die entscheidende
Verantwortung für den Grundkonflikt zu, indem er die Feindschaft gegenüber dem jüdischen
Staat im Antisemitismus lokalisierte.
Für den vierzigsten Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto, der am 9. April 1943
begonnen hatte, plante das israelische Kabinett ein besonderes Zeremoniell – eine
Ordensverleihung an jüdische Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Der runde Jahrestag sollte
genutzt werden, um den „jüdischen Kampf gegen die Nazis“, wie es wörtlich hieß, an der
Klagemauer zu würdigen. Die Regierung wollte diesmal jüdische Bürger anderer Staaten
ehren, Veteranen der alliierten Armeen, die gegen die Wehrmacht gekämpft hatten. Die
Abteilung „Kampftraditionen“ erhielt Anweisungen, dafür eine Reihe von Publikationen
vorzubereiten, die den gemeinsamen Kampf beschreiben sollten. Durch die Verleihung eines
Ordens der israelischen Armee sollte der „Gerechte Krieg“ gegen Nazideutschland nun ganz
in die Kampftraditionen des Staates integriert werden.
Zwanzig Jahre später, zum 60. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto, veranstaltete
die Israelische Armee wiederum eine besondere Gedenkfeier, diesmal in Auschwitz.
Auschwitz hatte für Israel nach der Öffnung Osteuropas die Funktion einer nationalen
10Gedenkstätte angenommen, eines heiligen Ortes, an dem bedeutende zivile und militärische Zeremonien abgehalten werden konnten. Die Gelegenheit zum besonderen militärischen Gedenkakt 2003 ergab sich durch eine Einladung der polnischen Luftwaffe zu einem Treffen auf dem Luftwaffenstützpunkt Radom, bei der Piloten aus aller Welt ihre Flugkunst samt der Waffentechnologien zur Schau stellen sollten. Israel kündigte die Entsendung einer Staffel von Kampfjets des Typs F-15 an. Sie sollten neben der Teilnahme an der Luftshow auch das Lager Auschwitz überfliegen.31
Der Leiter des israelischen Kontingents, Brigadegeneral Amir Eshel, gab in einem
Zeitungsinterview kurz vor dem Abflug nach Polen Ende August 2003 die Pläne der Luftwaffe
bekannt: „Wir werden in Auschwitz einen zeremoniellen Überflug abhalten und dabei Israels
stärkste Waffe an dem Ort präsentieren, an dem das jüdische Volk seine schrecklichste
Tragödie erlebt hat. Das wird in einer eindrucksvollen Weise symbolisch zeigen, woher wir
kommen und wohin wir gehen.“ Damit gab Eshel zu erkennen, welche Funktion dem
Holocaust in der zionistischen Sichtweise zugewiesen wurde – der Niederlage von Auschwitz
folgen Sieg und Triumph des jüdischen Volkes in Israel. Der Einsatz israelischer Kampfjets
über Auschwitz stellt den vorläufigen Höhepunkt im Prozess der Transformation des
Konfliktes in jenen mythischen Geschichtsraum dar, in dem die jüdische Nation immerfort
gezwungen ist, sich gegen seine Erzfeinde zu wehren.32
Aus den Gedenkfeiern und der Einführung der Thematik „Holocaust und Heldentum“ in den
Schulungsplan für Rekruten und Offiziersanwärter sollten Soldaten das Selbstbild von starken
und stolzen Israelis schöpfen, die im gerechten Kampf gegen überlegene Kräfte schließlich
triumphieren. Allgemeine Erziehungsziele, die aus der Holocaust-Erinnerung hätten
abgeleitet werden können, wie Toleranz, Stärkung demokratischer und humanistischer
Gesinnung, Ablehnung von Nationalismus und Militarismus, galten nicht als opportun. Auch
die menschliche Identifikation mit den Opfern und die Förderung von Solidaritätsgefühlen
mit anderen verfolgten Minderheiten, Grundelemente der in der Diaspora gepflegten
Gedenkkultur, passten nicht in das Schema. Erst in den späten 1980er-Jahren, als das
unmenschliche Verhalten einzelner Soldaten in den besetzten Gebieten während der „Ersten
Intifada“ Anlass zur Sorge gab, fand ein Sinneswandel hinsichtlich dieses Holocaust Redux
statt. Erziehungsoffiziere erkannten, dass diese Instrumentalisierung der Holocaust-
Erinnerung auch zur Identifizierung mit den Tätern führen konnte. So bestand nach Ansicht
mancher Offiziere im Erziehungskorps eine direkte Verbindung zwischen den Ausschreitungen gegenüber palästinensischen Zivilisten und der Einführung völlig
deplatzierter, ethisch verarmter Holocaust-Mythen, die in den späten 1970er-Jahren
verbreitet worden waren. Wenn im Kampf gegen das absolut Böse alle Mittel geheiligt werden
und die palästinensische Bevölkerung als dessen neueste Inkarnation dargestellt wird, können
Exzesse nicht ausbleiben.33


Eine Annäherung der Narrative
Mit der Eröffnung israelischer Archive für die Periode 1947–1949 begann Ende der 1980er-
Jahre ein neues Kapitel im Konfliktverständnis. Historiker wie Benny Morris, Ilan Pappe, Avi
Shlaim and Simha Flapan revidierten das Bild der zionistischen Politik, der Vertreibungen
und des Krieges von 1948 und sorgten für eine begrenzte Enttabuisierung dieser Themen in
der Öffentlichkeit. Die Öffnung der Archive ging auch mit einer politischen Öffnung einher.
1991 brachte die Konferenz von Madrid zum ersten Mal Vertreter Israels und der
palästinensischen Seite zusammen. 1993 folgte in Israel ein kurzes Interregnum der
Arbeitspartei, in das die Initiative zum Friedensprozess von Oslo fiel. Die arabischen
Nachbarn und die PLO durften, wollte man mit ihnen Frieden schließen, nicht länger als das
absolut Böse dargestellt werden.
Die Annäherung in der Interpretation der Ereignisse 1947–1949 führte nicht zu einer
umfassenderen Versöhnung der politisch-historischen Standpunkte. Immerhin konnten
Israelis nun von Massakern und Vertreibungsmaßnahmen der Hagana und der IDF während
der Auseinandersetzungen vom November 1947 bis Ende 1948 Kenntnis nehmen und vom
Wunsch der zionistischen Führung, die nichtjüdische Bevölkerung zu „transferieren“. Auch
in israelischen und palästinensischen Schulbüchern kam ein neuer Ton auf: „Wir beginnen
eine neue Ära im Geschichtsunterricht, in der zum ersten Mal in israelischen Schulbüchern
das Bild nicht mehr schwarz-weiß ist und die palästinensische Perspektive einbezogen wird“,
erklärte ein hoher Beamter des israelischen Erziehungsministeriums 1999.34
Diese Entwicklungen bedeuteten nicht, dass der Konflikt in einem wichtigen Bereich
entmythologisiert wurde: dem kolonialen Ursprung und Kontext des zionistischen Projekts.
Die politische wie die historiografische Diskussion beschränkte sich auf die
Kriegshandlungen, auf die Vorbereitungen, Nachwirkungen und Motive. Der Historiker
Benny Morris gab mit seiner Analyse der politischen und militärischen Quellen in Israel 1987
den Startschuss für die Debatte,35 setzte mit seinem Buch zur „Entstehung des
Flüchtlingsproblems“ aber auch den sehr begrenzten Rahmen und den Ton. Vertreibungen
seien Teil des Krieges: „Ohne den Krieg von 1948 keine Nakba“.36 Einige Jahre später
bezeichnete Morris in einem Interview die Vertreibungen als notwendigen Schritt zur
Errichtung des Staates und die Palästinenser als Barbaren: „Wenn man es mit einem
Serienmörder zu tun hat, ist es nicht so wichtig herauszufinden, warum er zum Serienmörder
wurde. Wichtig ist, den Mörder einzusperren oder hinzurichten.“37
Die israelische Perestroika dauerte weniger als zehn Jahre und endete mit dem Scheitern der
Verhandlungen zwischen den USA, Israel und der PLO und dem Ausbruch der „Zweiten
Intifada“ im Herbst 2000. Die fünf Jahre andauernden Gewaltexzesse beider Seiten hatten
erhebliche politische Folgen. Die zionistische Rechte brandmarkte den Friedensprozess, der
1993 in Oslo begonnen hatte, als von Anfang an illusorisch und brach die Gespräche mit der
gemäßigten Führung der Palästinenser ab. Wiederum spielte die Gewalt der
palästinensischen Seite eine legitimierende Rolle. Sari Nusseibeh, selbst Zeuge der „Zweiten
Intifada“ in Ramallah, schrieb dazu: „Gewalt war der Schlüssel. Israel setzt Gewalt oft als
taktisches Mittel ein, um eine gewalttätige Reaktion zu provozieren, die es dann als Vorwand
für weitere Gewalt zur Verfolgung seiner politischen Ziele nutzte. Die israelischen Führer
wollten den Eindruck erwecken, es handle sich um einen Kampf auf Leben und Tod gegen
eine Bande skrupelloser Terroristen […], die sich der völkermörderischen Zerstörung des
jüdischen Staates verschrieben hatten. […] Oft schien es, als bekämpfe die israelische
Militärbesatzung den Terror nur, um ihn zu fördern, denn ihre wahren Feinde waren
Gemäßigte. So entstand die Strategie, Gemäßigte für die Taten von Extremisten
verantwortlich zu machen, sie zu zerschlagen und die Extremisten in Ruhe zu lassen, nur für
den Fall, dass sie sie als Vorwand brauchten, um die nächste Generation Gemäßigter zu
zerschlagen.“38


„Der Nakba-Tag ist ein Tag der Delegitimierung“
Die Diskussion um den Charakter der Nakba in den zehn Jahren der israelischen Perestroika
produzierte nicht nur Verständnis für die palästinensische Sache, sondern auch das
Gegenteil. Im rechten Spektrum zionistischer Politik, die auf die völlige Einverleibung der
Westbank und des Gazastreifens zielte sowie auf die völlige Verdrängung der Palästinenser,
wurden alle Manifestationen palästinensischen Unabhängigkeitsstrebens zur „Quintessenz
des Bösen“ erhoben: „Logisch betrachtet, erzeugt der Manichäismus des Siedlers einen
Manichäismus der Einheimischen. Auf die Theorie des ‚absoluten Bösen des Einheimischen‘
antwortet die Theorie des ‚absoluten Bösen des Siedlers‘, hatte Frantz Fanon über diese
Dynamik geschrieben.39 Die rechten und rechtsextremen Parteien, die ab 2000 die israelische
Politik dominierten, ordneten nun fast alle Kritik am militärischen Vorgehen Israels und
Sympathien für die palästinensische Sache diesem Dualismus von Gut und Böse zu. Die
Zweite Intifada, die etwa 5000 Palästinensern und 1400 Israelis das Leben kostete, führte so
zu einer weltweiten Mobilisierung im Kampf gegen den Antisemitismus.
Die Kampagne, die der Logik des „Kriegs gegen die Juden“ folgte, war gegen den „neuen“
oder „israelbezogenen“ Antisemitismus gerichtet. Damit war insbesondere die Vorstellung
von Israel als dem „Juden der Welt“ gemeint,40 die sich im öffentlichen Diskurs über den
Nahostkonflikt überall zu manifestieren schien. Um antisemitische Äußerungen über Israel
von „legitimer“ Kritik zu unterscheiden, schlug der israelische Politiker Natan Sharansky drei
Kriterien vor, mit denen sich der antisemitische Gehalt identifizieren lasse: Dämonisierung,
Doppelstandards und Delegitimierung. „Seit Jahrhunderten ist die Anwendung von
Doppelstandards ein klares Zeichen für den antisemitischen Impuls“, schrieb Sharansky 2003.
„Soziales Verhalten, das bei anderen unkommentiert oder nur mit milden Fragen bedacht
wird, wird bei Juden zum Vorwand für eine pauschale Denunziation. Solche Doppelstandards
werden heute rücksichtslos gegenüber dem jüdischen Staat angewendet.“41
Die drei Kriterien des „3D-Tests“ waren ausreichend subjektiv, um fast jede Kritik an der
israelischen Politik zu desavouieren. Wer seine Kritik übertrieb, andere nicht im gleichen
Maße kritisierte oder das „Recht“ auf einen Staat zionistischer Prägung in Zweifel zog, konnte
als „Antisemit“ abgestempelt werden. Die Kriterien flossen u. a. in die „Arbeitsdefinition
Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ein. Die
Abwehrstrategie war nicht nur auf das ferne Ausland gerichtet. Auch zentrale
palästinensische Narrative gerieten in den Bannstahl des Antisemitismusvorwurfs: „Die
Beschreibung des Zionismus und der Gründung Israels als koloniale Verschwörung […] und
die Behauptung, dass Israel während des Krieges 1948 eine vorsätzliche ‚ethnische Säuberung‘
oder einen ‚Völkermord‘ an der palästinensischen Bevölkerung durchgeführt habe“, wurden
nun auch dem „neuen Antisemitismus“ zugerechnet.42
Im Januar 2011 veröffentliche der Fernsehsender Al Jazeera Material über den israelisch-
palästinensischen Friedensprozess (die „Palestine Papers“) mit fast 1700 Dokumenten des
PLO-Chefunterhändlers Saeb Erekat.43 Sie zeigten, dass die Verhandlungen mit der Regierung
Olmert/Livni 2008 sehr konkrete Fortschritte gemacht hatten. Ehud Olmert erklärte 2011,
dass es hinsichtlich der Flüchtlingsfrage und der verschiedenen Geschichtsauffassungen
möglich gewesen sei, „eine Formel zu finden, die jeder Seite ihre eigene Interpretation
erlaubt“. Israel habe sich sensibel gezeigt gegenüber dem „Leid der Palästinenser, die im
heutigen Israel gelebt haben und infolge des Konflikts aus ihren Häusern vertrieben
wurden“.44 Tzipi Livni, die 2008 als Ministerpräsidentin folgte, stellte fest: „Der
Friedensprozess ist nicht gescheitert, und er ist nicht erschöpft. Er […] konnte aufgrund der
Wahlen nicht bis zu einer Einigung reifen.“45 Netanjahu, der ab 2009 die neue Regierung
führte, entschied sich, den Friedensprozess nicht fortzusetzen.
Die potenziellen Gefahren, die von einer Legitimierung des palästinensischen Nakba-
Narrativs ausgingen, waren Anhängern rechts-zionistischer Ideen vollkommen bewusst: „Die
Nakba ist das Herzstück der rückwärtsgewandten nationalen Erzählung der Palästinenser, die
die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 als Erbsünde darstellt, die zur Enteignung der
ursprünglichen Einwohner des Landes führte“, fasste Sol Stern in der Zeitschrift des
konservativen Manhattan Institute das Problem unter dem Titel „Das palästinensische
Narrativ ist das größte Hindernis für den Frieden“ zusammen. „Eine internationale Koalition
von Linken spiegelt diese Nakba-Erzählung und feiert die Palästinenser […] als die letzten
Opfer [des] westlichen Rassismus und Kolonialismus.“46
Die Regierung Netanjahu wollte es nicht bei Worten belassen. Um die Verortung des
Konflikts im „westlichen Rassismus und Kolonialismus“ wirksam zu bekämpfen, waren
staatliche Maßnahmen nötig. Anfang 2011 trat Änderungsantrag 40 des
Haushaltsgrundsatzgesetzes in Kraft. Die als „Nakba-Gesetz“ bekannte Gesetzesnovelle
ermächtigte den Finanzminister, staatliche Mittel für Aktivitäten zu kürzen, die den
„Grundsätzen des Staates“ zuwiderliefen, darunter die „Ablehnung der Existenz des Staates
Israel als jüdischer und demokratischer Staat“ und das „Gedenken am Unabhängigkeitstag
oder am Tag der Staatsgründung als Trauertag“47 Damit war der „Nakba-Tag“ gemeint, an
dem die palästinensische Gemeinschaft in Israel und in der Diaspora am 15. Mai, dem
Jahrestag der Staatsgründung, der Katastrophe von 1948 gedenkt.
Das Gesetz führte zur Selbstzensur bei Schulen, Gemeinderäten, Bildungs- und
Kulturinstitutionen und anderen staatlich geförderten Organisationen. „Selbst die bloße
Erwähnung des Ereignisses könnte zu einer Kürzung der Haushaltsmittel führen“, warnten
zwei israelische Menschenrechtsorganisationen und sahen die Meinungsfreiheit und den
demokratischen Diskurs in Israel beeinträchtigt.48 Die Wirkung der staatlichen Kampagnen
blieb nicht aus. Eine 2014 veröffentlichte Studie über die Darstellung der Nakba in den fünf
größten israelischen Tageszeitungen kam zu dem Ergebnis, dass „selbst die Erinnerung an die
Nakba für die israelischen Medien eine Bedrohung darstellt“. Israels Mainstream-Medien
hielten an der offiziellen Geschichtsversion fest, sie „schieben die volle Verantwortung für die
Tragödie von 1948 der palästinensischen Führung zu und sprechen Israel damit von jeglicher
Verantwortung […] frei“. In den Medien herrsche die Meinung vor, dass die Erinnerung an
die Nakba gefährlich sei und darauf abziele, Israel zu delegitimieren.49
Da bereits die Erinnerung als eine existenzielle Bedrohung des Staates Israel wahrgenommen
wurde, konnte sie auch als ein Aufruf zur Gewalt gesehen werden. „Der Nakba-Tag ist in
Wirklichkeit ein Tag der Delegitimierung. Er legt den ideologischen Grundstein dafür, uns
als ‚legitime Ziele der Gewalt‘ zu brandmarken“, schrieb die Jerusalem Post am Vorabend des
Nakba-Tages 2015. Zum Artikel veröffentlichte die Zeitung ein Foto von Amin al-Husseini,
wie er 1943 bosnische Freiwillige der Waffen-SS inspiziert und den Arm zum Hitler-Gruß
erhebt.50
Sechs Jahre nach der Veröffentlichung der Studie über das Bild der Nakba in den israelischen
Medien meldete sich 2021 einer der Autoren, der Tel Aviver Politologe Amal Jamal, noch
einmal mit einer Studie über die Nakba in den Lehrplänen der israelischen Oberschulen zu
Wort. In Jerusalem war zu diesem Zeitpunkt eine Koalition aus Oppositionsparteien an der
Macht, darunter zum ersten Mal auch eine israelisch-palästinensische Partei. Jamal stellte
fest, dass im Frühjahr 2021 erstmals eine Frage zur Nakba Teil der Abschlussprüfung gewesen
sei. Trotz dieser kleinen Veränderungen werde in der Öffentlichkeit und im Schulsystem die
ethnische Säuberung und die Entstehung des Flüchtlingsproblems weiterhin kaum
thematisiert. Der bescheidene Wandel stelle den hegemonialen Diskurs nicht infrage. Jamal
führte die geringen Fortschritte auf die staatliche Kampagne zur Unterdrückung des Nakba-Tages, die Tabuisierung der palästinensischen Nationalfrage und die Feindseligkeit gegenüber
palästinensischen Anliegen zurück.
„Ein Blick auf die Inhalte der Geschichtsbücher […] macht deutlich, dass die Nakba als
bedeutendes Ereignis, das aktuelle Auswirkungen auf das tägliche Leben von Millionen
Israelis und Palästinensern hat, kaum erwähnt wird. Der Krieg von 1948 […] wird aus
israelischer Perspektive unterrichtet, die dem israelischen Narrativ eines ‚gerechten Krieges‘
und dem Mythos der ‚Wenigen gegen die Vielen‘ entspricht. Zwar stehen mehrere
Geschichtsbücher für den Unterricht zur Verfügung, aber keines darf die Nakba direkt
behandeln. Bücher, die dies in der Vergangenheit taten, wurden wegen ‚Fehlinformationen‘
zurückgerufen. […] Wo die Nakba erwähnt wird, wird sie als Teil des
Unabhängigkeitskrieges […] und Folge der militärischen Niederlage der Araber dargestellt.
“ Jamal kommt zu der Schlussforderung, dass „eine weitere Generation von Schülern […] mit
dem hegemonialen israelischen Moraldiskurs aufwachsen [wird], der die historischen
Ereignisse verzerrt und leugnet“.51


„Zwei Millionen Nazis direkt hinter dem Zaun“
Mit dem beispiellos brutalen Angriff auf israelische Grenzgemeinden am 7. Oktober 2023
und der erbarmungslosen israelischen Vergeltung öffnete sich der manichäische Raum des
Kampfes des Guten gegen das Böse erneut. Im Januar 2024 berichtete der monatliche
„Friedensindex“ der Universität Tel Aviv, dass über 90 Prozent der jüdischen Israelis der
Meinung waren, Israel würde im Gazastreifen entweder richtig handeln oder ein zu geringes
Maß an Gewalt anwenden. 87 Prozent rechtfertigten die Zahl der palästinensischen Opfer.
Auf palästinensischer Seite war das Bild ähnlich. Einer Umfrage des Forschungszentrums
Arab World Research and Development (AWRAD) vom Oktober 2023 zufolge unterstützten
Dreiviertel der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland die „Militäroperation“
der Hamas (so die Fragestellung). In einer im Dezember vom Palestinian Center for Policy
and Survey Research durchgeführten Umfrage hielten 72 Prozent den Angriff der Hamas für
„richtig“.52
In der israelischen Öffentlichkeit wurden die israelischen Opfer als „Juden“ und die
Gewalttaten als schlimmstes „Pogrom“ seit dem Holocaust dargestellt. Palästinenser seien „zum Hass prädestiniert“, und ihr Ziel sei der Völkermord. Dieser Sicht des Konflikts wurde
kaum widersprochen. Der Bezug auf die Holocaust-Erinnerung wurde auch von Kritikern
übernommen. „Benjamin Netanjahu hat während seiner gesamten politischen Karriere die
Erinnerung an den Holocaust auf irreführende und manipulative Weise genutzt. Er versprach
den Israelis, eine Wiederholung der größten Katastrophe in der Geschichte des jüdischen
Volkes könne nur verhindert werden, wenn sie ihn immer wieder wählen würden. Jahr für
Jahr verband er in Reden und Erklärungen seine Machtposition mit den Worten ‚Nie wieder‘.
[…] Unter seiner Herrschaft haben die Israelis jetzt Erfahrungen gemacht, die dem Holocaust
ähneln.“53 Der Verweis auf den Nationalsozialismus fand auch im Ausland Zustimmung.
Nach einem Treffen mit Vertretern der neuen Trump-Regierung Anfang 2025 fasste der
israelische Finanzminister Bezalel Smotrich die Meinung der US-Beamten so zusammen:
„Wir werden nicht zulassen, dass zwei Millionen Nazis direkt hinter dem Zaun leben.“54
Dieses Narrativ verstärkte die Wirkung der ohnehin schockierenden und auch Beobachter
traumatisierenden Ereignisse. Die Gleichsetzung der Verfolgungserfahrungen von Juden in
der Diaspora mit den Konflikterfahrungen von Israelis wirkte in Israel radikalisierend, in der
Diaspora weckte sie vor allem Ängste. Sie untergrub zudem das Verhältnis zur nichtjüdischen
Umgebung. Das Resultat machte sich u. a. Ende 2024 in Amsterdam bemerkbar.
Am 6. und 7. November 2024 besuchten mehrere Hundert Israelis ein Fußballspiel zwischen
Maccabi Tel Aviv und Ajax in Amsterdam. Die jüdische Gemeinschaft der Stadt gedachte zu
diesem Zeitpunkt des Pogroms vom November 1938, dessen Opfer zu Zehntausenden in die
Niederlande geflüchtet waren. Schon in der ersten Nacht kam es zu Zwischenfällen zwischen
den Fußballfans aus Tel Aviv und einigen Bewohnern der Stadt. Nach dem Ende des
Fußballspiels am 7. November eskalierte die Gewalt. Dutzende israelische Fans wurden in der
Innenstadt verfolgt und zusammengeschlagen. Die Amsterdamer Bürgermeisterin berichtete
zwei Tage später an den Stadtrat: „Mehrere Menschen wurden verletzt, fünf von ihnen
wurden im Krankenhaus behandelt. Sie haben das Krankenhaus inzwischen verlassen.
Zwanzig bis dreißig israelische Fans mit leichten Verletzungen wurden von der jüdischen
Gemeinde aufgenommen. […] Am frühen Freitagmorgen wurde bekannt, dass Israel zwei
Flugzeuge in die Niederlande schicken werde, um die Israelis abzuholen und dass sich
Vertreter der israelischen Regierung und der Sprecher der Knesset an Bord befinden.“55
App-Gruppen der jüdischen Gemeinschaft von Amsterdam schlugen gleich in der Nacht des
Fußballspiels Alarm. Juden würden durch die Stadt gejagt, hieß es, und bräuchten Hilfe. Jüdische Bürger der Stadt stiegen in ihre Autos, um die Fans zu suchen und sie in Sicherheit
zu bringen. Schon in der Nacht tauchten Bezeichnungen wie „Pogrom“, „Judenhetze“ und
„Kristallnacht“ auf. Am Morgen des 8. November erklärte Ministerpräsident Netanjahu in
Jerusalem, dass sich am Jahrestag des Novemberpogroms „auf den Straßen Amsterdams“ die
„Kristallnacht“ wiederholt habe. „Vor 86 Jahren hat die Kristallnacht stattgefunden, als Juden
auf europäischem Boden angegriffen wurden, weil sie Juden waren. Dies hat sich nun erneut
ereignet.“56
Die Mobilisierung der jüdischen Diaspora im Kampf gegen den „neuen Antisemitismus“
zeigte Wirkung, erwies der Diaspora aber auch einen Bärendienst. Politische Parteien, die den
Islam als Gefahr darstellen und in Israel und Juden Bundesgenossen sehen, bereiten der
israelischen Hasbara den Weg für eine brisante politische Konstellation. Der „neue
Antisemitismus“ hatte eine Perspektive geschaffen, in der die Grenzen zwischen Israel und
der Diaspora verwischt waren. Jüdische Gemeinschaften wurden nun regelmäßig verdächtigt,
Komplizen israelischer Politik zu sein und gegenüber Moslems Vorurteile zu hegen.57


Zurück zum Ausgangspunkt. Außenministerin Rice sagte im Juli 2008: „Verantwortung, das
ist ein befrachteter Begriff. Ich habe ihn immer abgelehnt; er ist nicht zukunftsorientiert.“
Ohne eine gemeinsame Sicht auf die Vergangenheit ist eine gemeinsame Zukunft allerdings
kaum denkbar. Die israelische Dekontextualisierung des Konflikts stand in den fast acht
Jahrzehnten seit 1948 im Zeichen verschiedener Themen – von Antisemitismus und
Judenverfolgung bis zum „Kampf der Kulturen“. In Momenten der politischen Annäherung
kam es zu einer zeitweisen Annäherung der historischen Sichtweisen, aber die Tabuisierung
des kolonialen Kontextes und die Ablehnung jeglicher Verantwortung blieben unverändert.
Die Dekontextualisierung wurde dabei zunehmend zum Instrument der Groß-Israel-Politik,
die am Mythos vom biblischen Anspruch auf die alte Heimat festhalten wollte – die völlige
Übernahme Palästinas und die Verdrängung der Palästinenser. Aber auch über diese direkten
politischen Ziele hinaus bildete der koloniale Kontext des zionistischen Traumes und seiner
Verwirklichung weiterhin eine so große Herausforderung, dass allein schon eine offene
Diskussion des Themas den Staat und seine Gesellschaft zu gefährden schien.

Eine Entmythologisierung der Entstehungsgeschichte Israels bleibt nicht nur dringend nötig,
sie ist auch möglich, ohne dass der Staat dabei „delegitimiert“ wird. Sollte das Argument der
„Delegitimierung“ nicht nur propagandistische Ziele beinhalten, liegt eine Lösung nahe. So
unterschiedliche Beispiele wie Nordirland oder Südafrika zeigen, dass im kolonialen Kontext
entstandene Staaten durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen
eine neue, gemeinsame Basis finden können. Dazu bedarf es der Versöhnung. Der Wunsch
nach Anerkennung der Verantwortung und Bestätigung des eigenen Leids ist allen Opfern
von Gewalt und Unrecht gemein. In Deutschland wurde diesem Wunsch der Juden durch
öffentliche Schuldbekenntnisse und Entschädigungsmaßnahmen zum großen Teil
entsprochen. Die anhaltenden Verdrängungsbestrebungen der israelischen Gesellschaft
deuten allerdings darauf hin, dass ähnliche Bedürfnisse der Palästinenser in absehbarer Zeit
nicht erfüllt werden.


1 https://www.aljazeera.com/news/2011/1/23/introducing-the-palestine-papers.
– Die Weblinks in diesem Beitrag wurden zuletzt am 24. 5. 2025 aufgerufen und geprüft.
2 Abba Eban, Dies ist mein Volk, Zürich 1970, S. 733, 744.
3 Progress Report of the United Nations Mediator on Palestine (A/648) Paris 1948, S. 48,
https://unispal.un.org/pdfs/AB14D4AAFC4E1BB985256204004F55FA.pdf.
4 Vgl. Henry Cattan, To Whom Does Palestine Belong?, Beirut 1967; ders., Palestine, The Arabs and Israel, London 1969.
5 Eban, Dies ist mein Volk, S. 738.
6 B. Michael, The Gaza War Is Yet Another Self-made, Inescapable Israeli Imbroglio, in: Haaretz,11. 12. 2023, https://www.haaretz.com/opinion/2023-12-11/ty-article-opinion/.premium/the-gaza-war-is-yet-another-self-made-inescapable-israeli-imbroglio/0000018c-5a10-d7d7-abce-7fd6e0ba0000.
7 Ilan Pappe, Ten Myths about Israel, London 2017, S. 56 ff.
8 Jalal Al Husseini, The Arab States and the Refugee Issue: A Retrospective View, in: Eyal
Benvenisti/Chaim Gans/Sari Hanafi (Hrsg.), Israel and the Palestinian Refugees, Berlin/Heidelberg 2007.
9 Edward W. Said, The Question of Palestine, New York 1979, S. 69, 28.
10 Progress Report of the United Nations Mediator on Palestine (A/648) Paris 1948, S. 57.
11 Ebenda, S. 26.
12 Shay Hazkani, Political Indoctrination of Soldiers in the IDF, 1948–1949, in: Israel Studies Review 30
(Summer 2015) 1, S. 20–41.
13 Shay Hazkani, Dear Palestine: A Social History of the 1948 War, Stanford 2021.
14 Shay Hazkani. Who’s Afraid to Reveal the Palestinian „Secrets“ of 1948?, in: Haaretz, 4. 12. 2022, https://www.haaretz.com/opinion/2022-12-04/ty-article-opinion/.highlight/whos-afraid-to-reveal-the-palestinian-secrets-of-1948/00000184-dc86-d305-adae-dfffa17a0000.
15 Erskine Childers, The Other Exodus, in: The Spectator Magazine, 12. 5. 1961,
https://archive.spectator.co.uk/article/12th-may-1961/9/the-other-exodus.
16 Arthur Ruppin. Tagebücher, Erinnerungen, Briefe. Hrsg. v. Schlomo Krolik, Königstein/Ts. 1985, S. 313.
17 Ebenda, S. 322 ff.
18 Vladimir Jabotinsky The Ethics of the Iron Wall (russ.), 1923, engl. Übersetzung; Typoskript, Jabotinsky Institute, Tel Aviv, https://en.jabotinsky.org/archive/search-archive/item/?itemId=158379.
19 Albert Memmi, The Colonizer and the Colonized, London 2003, S. 129.
20 Sari Nusseibeh, Once upon a country. A Palestinian Life, New York 2007, S. 206.
21 Ilan Pappe, The Idea of Israel. A History of Power and Knowledge, London 2014, S. 41 ff.
22 Said, The Question of Palestine, S. 38.
23 Pappe, The Idea of Israel, S. 50. Siehe für eine Zusammenfassung der Handlung und den Monolog des Obersturmführers: https://moviecrashcourse.com/2020/08/13/hill-24-doesnt-answer-1955/.
24 Pappe, The Idea of Israel, S. 49.
25 Vgl. den Wikipedia-Artikel „Exodus“, https://en.wikipedia.org/wiki/Exodus_(1960_film)#cite_ref-31.
26 Zur Rolle des Mufti ist eine umfangreiche Literatur erschienen. Die Äußerung Netanjahus ist u. a. hier zu finden: https://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-4714313,00.html.
27 Hazkani, Who’s Afraid to Reveal the Palestinian „Secrets“ of 1948?
28 Daniel Cil Brecher, Fremd in Zion, München 2005, S. 227 ff.
29 Vgl. Tom Segev, The Seventh Million, New York 2000, S. 399 ff.
30 Vgl. ebenda und Associated Press 1982.
31 Vgl. Daniel Cil Brecher, Die unverträgliche Erinnerung. Holocaust und kollektive Identitäten in Deutschland und Israel, in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 12 (2012) 1.
32 Ebenda.
33 Vgl. Cil Brecher, Fremd in Zion, S. 227 ff.
34 Israel’s History Textbooks Replace Myths With Facts, in: The New York Times, 14. 8. 1999,
https://www.nytimes.com/1999/08/14/world/israel-s-history-textbooks-replace-myths-with-facts.html.
35 Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949, Cambridge 1987.
36 Vgl. die umfangreiche Diskussion u. a. in Eugene L. Rogan/Avi Shlaim (Hrsg.), The War for Palestine. Rewriting the History of 1948, Cambridge 2001. Das Zitat entstammt einem Gespräch von Benny Morris mit dem Autor.
37 Interview mit Benny Morris in: Ari Shavit, Survival of the Fittest, in: Haaretz, 8. 1. 2004,
https://www.haaretz.com/2004-01-08/ty-article/survival-of-the-fittest/0000017f-e874-dc7e-adff-f8fdc87a0000.
38 Sari Nusseibeh, Once upon a Country, New York 2008, S. 206 f.
39 Frantz Fanon, The Wretched of the Earth, New York 1963, S. 93.
40 Vgl. Brian Klug, Die Sicht auf Israel als „Jude der Welt“, in: John Bunzl/Alexandra Senfft (Hrsg.), Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost, Hamburg 2008, S. 75 ff.
41 Natan Sharansky, On Hating the Jews, in: Commentary, November 2003,
https://www.commentary.org/articles/natan-sharansky-3/on-hating-the-jews.
42 Gil Murciano, Unpacking the Global Campaign to Delegitimize Israel, in: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Research Paper 7, Berlin 2020, S. 19.
43 https://www.aljazeera.com/news/2011/1/23/introducing-the-palestine-papers.
44 Bernard Avishai, A Plan for Peace That Still Could Be, in: The New York Times Magazine, 7. 2. 2011, https://www.nytimes.com/2011/02/13/magazine/13Israel-t.html.
45 Livni: „Palestine Papers“ show peace process is not over, in: The Jerusalem Post, 24. 1. 2011,
https://www.jpost.com/diplomacy-and-politics/livni-palestine-papers-show-peace-process-is-not-over.
46 Sol Stern, The Nakba Obsession, in: City Journal, Summer 2010, https://www.city-
journal.org/article/the-nakba-obsession.
47 Vgl. Adalah. The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel, in: „Nakba Law“ – Amendment No. 40 to the Budgets Foundations Law, https://www.adalah.org/en/law/view/496#:~:text=The%20“Nakba%20Law”%20authorizes%20the,“Jewish%20an
d%20democratic%20state.
48 Association for Civil Rights in Israel, „The Nakba Law“ and its Implications, 15. 5. 2011,
https://law.acri.org.il/en/2011/05/15/“the-nakba-law”-and-its-implications.
49 Vgl. Oren Persico, For Israeli Media, Even the memory of the Nakba poses a threat, in: +972 Magazine, 18. 12. 2014, https://www.972mag.com/for-israeli-media-even-the-memory-of-the-nakba-poses-a-threat.
50 Sarah Honig, Another tack: A delegitimization called Nakba, in: The Jerusalem Post, 14. 5. 2015, https://www.jpost.com/opinion/another-tack-a-delegitimization-called-nakba-403108.
51 Amal Jamal, The Nakba in Israeli Public Discourse and School History Curriculum, Arab Center Washington DC, 17. 11. 2021, https://arabcenterdc.org/resource/the-nakba-in-israeli-public-discourse-and-school-history-curriculum.
52 Für eine Übersicht der Meinungsforschung zum Gaza-Krieg vgl. u. a. Dahlia Scheindlin, Palestinians Are Souring on Hamas, in: Haaretz, 30. 12. 2024, https://www.haaretz.com/israel-news/2024-12-30/ty-article-magazine/.premium/palestinians-are-souring-on-hamas-and-they-want-an-end-to-the-war/00000194-18c8-d468-a7b5-99fc12570000.
53 Amir Tibon, In Netanyahu’s Israel, the words „never again“ have lost all meaning, in: Haaretz, 8. 2. 2025, https://www.haaretz.com/israel-news/haaretz-today/2025-02-08/ty-article/.highlight/in-netanyahus-israel-the-words-never-again-have-lost-all-meaning/00000194-e5d7-dc45-a79c-edff61350000.
54 Israel’s far right says new office to oversee mass transfer of Gazans, in: The Washington Post, 9. 3. 2025, https://www.washingtonpost.com/world/2025/03/09/gaza-displacement-israel-trump.
55 Femke Halsema, Geweld in Amsterdam rondom wedstrijd Ajax-Maccabi Tel Aviv, in: Raadsbrief, 11. 11. 2024, S. 7.
56 Netanyahu: 86th anniversary of Kristallnacht „marked on the streets of Amsterdam“, in: The Times of Israel, 8. 11. 2024, https://www.timesofisrael.com/netanyahu-86th-anniversary-of-kristallnacht-marked-on-the-streets-of-amsterdam.
57 Siehe z. B. zur Situation im Vereinigten Königreich: David Feldman/Ben Gidley/Brendan McGeever, Facing antisemitism: the struggle for safety and solidarity, London 2025.

Grenzen

In Vorträge on Februar 28, 2011 at 4:12 pm

Vortrag gehalten am 25. Februar 2011 in der Kreuzkirche Hannover

Wir haben uns eine einfache Frage gestellt. „Vor welchen Aufgaben stehen wir heute, die wir den Menschen im Nahen Osten Frieden wünschen.“ Die Antwort ist viel weniger einfach. Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind äußerst komplex, und der Frieden, den wir für den Nahen Osten wünschen, scheint von Jahr zu Jahr weniger erreichbar. Ich will hier auf einen dritten Aspekt der Frage zu sprechen kommen, auf eine implizite Konstruktion, die bei weitem komplexer ist, als sie scheint: Ich meine das Wir in diesem Satz. Wer ist Wir? Die Deutschen, die Christen, die Juden, die Moslems. Jedes Wir zieht Grenzen, und ich möchte sie einladen, mit mir über diese Grenzen nachzudenken.

Ich bin in Israel geboren, kam aber schon als kleines Kind 1953 nach Westdeutschland. Ich wuchs hier in einer Zeit und Umgebung auf, in der alte und neue Grenzen eine große Rolle spielten, Grenzen, die sehr fühlbar waren, aber nicht sichtbar sein dürften. Anfang der Fünfziger Jahre wurde der Wiederansiedlung von Juden, der so genannten “Wiedergutmachung“ und der Aussöhnung eine zentrale Bedeutung zugewiesen. Dies war einer der Gründe, die meine Eltern, mein Vater hatte bis 1936 in Berlin gelebt, dazu bewegt haben, nach Deutschland zurückzukehren. 1949, kurz vor Gründung der Bundesrepublik, hatte der US-Hochkommissar John McCloy gerade ein neues Verhältnis der Deutschen zu Juden zum „Prüfstein ihrer Gesittung und eines echten demokratischen Aufbauwillens“ erhoben. Die Aufforderung an Juden, sich in Deutschland wieder zuhause zu fühlen, war hauptsächlich eine politische Geste, bei der die Frage der kollektiven Selbstbilder der Bundesrepublik und die Selbstdarstellung im Ausland immer im Hintergrund standen, und vielleicht auch im Vordergrund. Die menschliche Seite fehlte meist.

Meine Generation und ich erfuhren sehr schnell, dass nationalistische Denkbilder und Grenzziehungen weiter bestanden, ja sich sogar noch verstärkt hatten. Der Gegensatz von “Deutschen“ und “Juden“, im Entstehen einer nationalen deutschen Identität von Anfang angelegt und in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Hetze noch verschärft – war als Identität und Kontinuität stiftender Gegensatz in der anhaltenden Krise der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht weniger wichtig geworden. Wer “Jude“ war, konnte auch weiterhin kein “Deutscher“ sein und umgekehrt. Der Neubeginn von 1945 hatte in dieser Hinsicht nur den Effekt, diese Haltungen und Gefühle in den Untergrund zu treiben. Offiziell herrschte ein politisch korrektes Wunschdenken vor. Politiker sprachen nun von „jüdischen Menschen“ und hofften, die negative Konnotation von „Jude“ und das völkische Denken, das dahinter stand, zu überwinden. Das alte Gegensatzpaar “Deutscher“ und “Jude“ wurde durch die neue, zusätzliche Bedeutung “Opfer“ und “Täter“ zwar moralisiert, aber gleichzeitig in eine politisch korrekte Form gebracht, die den alten Inhalt verdeckte.

Das Verhältnis zu den jüdischen Bürgern der jungen Bundesrepublik, und zu Juden überhaupt, konnte sich nur auf einem Wege verändern: durch eine ehrliche Auseinandersetzung mit den zwölf Jahren der Nazi-Herrschaft und dem Holocaust, durch eine Selbstbefragung des Einzelnen und des Kollektivs, durch eine Auseinandersetzung, die opportunistische Selbstbilder erst einmal zerstörte, und sie nicht einfach durch neue Wunschbilder ersetzte. Die pauschalisierenden, unpersönlichen Konstruktionen von „Täter“ oder „Tätergesellschaft“ halfen eher dabei, diese Auseinandersetzung zu vermeiden.

Der gerade gegründete Staat Israel spielte in diesem Prozess eine ganz besondere Rolle. Die westdeutsche Nachkrieggesellschaft begann gerade damit, sich nach einer langen Periode der Wortlosigkeit über die so genante „Vergangenheit“ zu Juden und zu Israel hinzuwenden. Die Hinwendung zu Juden war sehr schwierig. Der Staat Israel allerdings fühlte sich Anfang der Fünfziger Jahre bedroht und ohne Freunde und war schnell bereit, sich mit der Bundesrepublik einzulassen, in den Verhandlungen über Entschädigungsleistungen und Waffenlieferungen. Ende der Sechziger Jahre schrieb die deutsch-jüdische Journalistin Inge Deutschkron im Rückblick auf diese Zeit:

„Israel, der Staat der Juden, wurde in der deutschen Öffentlichkeit zum beliebten Gesprächsthema. Es war einfacher, sich mit ihm zu befassen als mit den Juden in Deutschland, mit denen man Seite an Seite leben musste. Israel war weit, man konnte es vorbehaltlos bewundern.“ Bei der westdeutsche Hinwendung zu Israel entstand – in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust – ein umfassendes Wunschbild vom jüdischen Staat und seinen jüdischen Bürgern. Die Juden dort, die Israelis, wurden als anders empfunden, frei vom Makel des Diasporajudentums. Sie wurden als Juden empfunden, die den Holocaust in gewisser Weise überwunden hatten, durch die Schaffung und so tapfere Verteidigung ihres eigenen Staates. Für viele Deutsche war das eine angenehme, willkommene Vorstellung, eine Vorstellung, die auch von Israelis aus eigenen Gründen verbreitet und gefördert wurde.

Das Schicksal der arabischen Bewohner Palästinas, deren Heimat zerstört war und von denen viele, eine Mehrheit, flüchten mussten oder vertrieben wurden, dieses Schicksal fand in der deutschen Öffentlichkeit noch keinen Widerhall. Dieses spezifisch deutsche Israel-Bild, seine Idealisierungen und Auslassungen, wurde zuerst von Einzelnen propagiert, von Politikern und von Vertretern der Kirchen, die das Schweigen über die deutschen Verbrechen während des Holocausts durchbrechen wollten und nach einem Dialog mit Juden und Israelis suchten. Erst in den späten Sechziger Jahren wurden diese Vorstellungen Allgemeingut. Ein idealisierendes Israel-Bild wurde zu einem wichtigen Element der politischen Identität der Bundesrepublik und seiner Eliten, zum Symbol der West-Orientierung und des erfolgreichen Wandels zu Demokratie, Toleranz und Liberalismus.

In den kleinen jüdischen Gemeinschaften der Nachkriegszeit, in denen ich aufwuchs, spielte die Schaffung Israels auch eine große, eine außergewöhnliche Rolle. Der Sieg des Zionismus und die Schaffung Israels wurde von unseren Eltern und von meiner Generation als Schlusspunkt einer außergewöhnlichen, ja mythischen Entwicklung betrachtet – als der Triumph des gerade so sehr gepeinigten und fast vernichteten Jüdischen Volkes über seine Feinde, als ein Richterspruch der Geschichte, der das durch Antisemitismus und Holocaust verursachte Leiden des Volkes endlich ausglich. Die Folgen und menschlichen Kosten der Schaffung des Staates waren kaum jemanden bewusst. Auch wir wollten unbedingt in die Gerechtigkeit und Folgerichtigkeit der Errichtung des jüdischen Staates glauben.

Diese Ideen gruben sich tief in meine jüdische Identität ein, aber auch in meine deutsche, und machten alle späteren Auseinandersetzungen mit Israel und Zionismus zu einer Auseinandersetzung mit mir selbst. So war für mich ein politisches und historisches Nachdenken über Israel, Deutschland und Palästina kaum möglich ohne einen Prozess der Selbstverständigung und, wenn sie so wollen, der Grenzüberschreitungen.

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit litt ich persönlich sehr darunter, dass ich nicht „Jude“ und „Deutscher“ zugleich sein konnte. Ich wollte beides sein, das eine nicht ohne das andere. Als ich in Anfang und Mitte der Sechziger Jahre mit meinen nichtjüdischen Freunden umging, wurde ich von meiner jüdischen Umgebung deshalb abgelehnt und ausgeschlossen. Wenn ich mit meinen jüdischen Freunden umging, wurde ich von meiner nichtjüdischen Umgebung dafür mit Misstrauen betrachtet und kritisiert. So kehrte ich 1976 nach Israel zurück, in der Hoffnung, dort dieses Gefühl des Ausgeschlossenseins und der Unvollkommenseins zu überwinden.

Auch dieser Versuch, eine eindeutige Identität zu erlangen, als Jude oder Israeli, scheiterte. Erst an dieser Stelle in meinem Leben begab ich mich in einen anhaltenden Prozess der Selbstverständigung über mein Judentum, meine jüdische Kindheit im Nachkriegsdeutschland und die prägenden Kräfte, denen ich innerhalb der jüdischen Gruppe und der nichtjüdischen Umwelt ausgesetzt war. Ich möchte Ihnen von diesem Prozess, der nun etwa dreißig Jahre zurückliegt, etwas erzählen.

Als ich 1976 von Deutschland nach Israel übersiedelte, kehrte ich zwar in mein Geburtsland zurück, war aber in jeder anderen Hinsicht ein Neuling. 1976 war ich noch Anhänger der zionistischen Grundüberzeugungen – dass die Juden ein Recht darauf hatten, sich in ihrer alten, biblischen Heimat niederzulassen; dass der arabische und palästinensische Widerstand gegen die zionistische Unternehmung nicht gerechtfertigt sei; dass Israel in Selbstverteidigung handelte. Fünf Jahre später waren meine Ideen völlig verändert. Ich fand, dass den Palästinensern großes Unrecht angetan worden war und weiter angetan wurde – durch die aufgezwungene Ansiedlung von Juden in Palästina seit den 20er Jahren, durch die gewaltsame Schaffung und „ethnische Säuberung“ des Staates 1948, durch die permanente Besiedlung der 1967 besetzten Gebiete. Auch die ethnische Dominanz der Juden im Land, das zionistische Sine Qua Non Israels, betrachtete ich inzwischen mit anderen Augen. Wie konnte ich als deutscher Jude ein solches völkisches Prinzip von Nation und Nationalität hinnehmen? Dass dies auch noch als Entschädigung für die Verfolgung von Juden in christlichen Ländern und als einzige denkbare Folgerung aus dem Holocaust dargestellt wurde, machte mich besonders ärgerlich. Israel musste der Staat aller seiner Bürger werden und den Zionismus ablegen.

Mit diesen Meinungen stand ich in fast totalem Gegensatz zu vielen meiner Freunde und Kollegen und zu den meisten Israelis. Die große Mehrheit ging davon aus, dass es die Juden waren, die durch die arabische Feindschaft gegenüber dem zionistischen Unternehmen und Israel großes Unrecht erlitten hatten und durch Terror und Gewalt weiter erlitten; dass die politische Unreife, Intoleranz, und der Antisemitismus der Gegenseite eine friedliche Lösung unmöglich machten; dass nur eine auf militärischer Stärke beruhende Politik das Überleben Israels sichern könne. Die Kurzform dafür lautete: „Sie“, die Palästinenser, „verstehen nur eine Sprache: Gewalt“.

Diese verschiedenen Haltungen gegenüber den israelisch-palästinensischen Grundfragen bedeuteten nicht allein Unterschiede in der politischen Meinung. Hier lief eine ideologische Grenze, ein tiefer Graben, der in Israel Juden und Araber schied und innerhalb der jüdischen Gesellschaft Freund und Feind. Wie tief dieser Graben war, begann ich erst jetzt zu spüren. Hier standen sich unterschiedlichen Interpretationen der jüdischen Geschichte gegenüber, verschiedene Sichtweisen der Ursprünge des Nahostkonflikts; hier bildeten Mythen und Legenden ein wirres, fast undurchdringliches Dickicht. Und hier spielten Fragen der Identität eine große, entscheidende, Rolle. Wer Jude in Israel war, hatte nichts mit den Arabern gemein, und umgekehrt. Jude und Araber in Israel, das schloss sich aus. Ein Wechsel von einer Seite der Grenze zur anderen hatte große Folgen. Wer als Araber in jüdischer Gesellschaft umging, traf auf bodenloses Misstrauen. Wer als Jude in arabischer Umgebung verkehrte, stieß auf Argwohn und Ablehnung.

Mir machte vor allem Sorgen, dass die eigenen Untaten durch die Fixierung auf die Untaten der anderen fast unsichtbar wurden. Der moderne, jüdisch-nationalistische Mythos von den Juden als immerwährende Opfer von Verfolgung und Unrecht, die immer das Recht auf ihrer Seite hatten, spielte dabei eine wichtige Rolle. War die Feindseligkeit der Palästinenser nicht doch eine neue Variante der alten Judenfeindschaft? Die oft gewalttätige, manchmal antisemitische Sprache der arabischen Seite schien das zu bestätigen. Israelische Regierungen wurden nie müde, dies in ihrer Öffentlichkeitsarbeit herauszustellen. Dabei waren diese Feindbilder nur Begleiterscheinungen eines Konflikts, dessen Ursachen woanders lagen. Arabische Regimes bedienten sich antisemitischer Stereotypen, um die eigen Bevölkerung loyal, hass- und kriegsbereit zu halten; jüdische Israelis steckten voll entmenschlichender, rassistischer Vorurteile gegenüber der arabischen Gesellschaft, die es möglich machten, die Menschen auf der anderen Seite zu verachten, ihre Menschenrechte mit Füßen zu treten und sie, wenn es sein musste, zu töten. Weil der Mythos vom permanenten Opferstatus der Juden so eng mit der Schaffung Israel verbunden war, geriet derjenige, der Zweifel an der moralischen Überlegenheit des zionistischen Unternehmens vorbrachte, fast in die Position eines Leugners von Verfolgung und Judenmord.

All dies resultierte in einer völlig einseitigen, unrealistischen Sicht des Konflikts und seiner Ursachen. Wenn die eigene Seite so völlig unschuldig war, konnte die Feindschaft der Palästinenser nur auf kulturellen und religiösen Gegensätzen beruhen – auf der vermeintlichen Intoleranz des Islam gegenüber anderen Religionen, auf der politischen Unreife der arabischen Gesellschaft, die keine Minderheiten dulde, und so weiter. Das Gefühl herrschte vor, dass sich Israel und die Israelis nichts oder kaum etwas zu Schulden kommen ließen oder vorzuwerfen hatten. Auf eine falsche Diagnose aber folgt eine falsche Therapie, und die macht das Leiden noch schlimmer.

Ich war 1978 in das israelische Militär eingetreten und wurde 1982 in den aktiven Dienst zurückgerufen, als Israel den Libanon angriff. Für mich bedeutete dieser Krieg eine ganz persönliche Herausforderung. Er wurde zum Test meiner Solidarität gegenüber dem Staat, gegenüber Israelis und Juden, gegenüber dem Prinzip der ethnischen Verbundenheit, das den Kern des jüdisch-nationalistischen und zionistischen Grundkonsenses formte. Meine Haltung zum Krieg wurde zur Identitätsfrage und führte mich schließlich zwei Jahre später zu einem Entschluss, der mein Leben verändert hat: Ich verweigerte den Befehl, die Grenze zum Libanon zu überschreiten.

Während der ersten Kriegsmonate fühlte mich ständig zwischen Solidarität mit dem Land und der Armee und der Abscheu vor Nationalismus und Militarismus der israelischen Gesellschaft hin und her gerissen wurde. Der Krieg im Libanon schien für mich, neben den politisch-moralischen Fragen, die er für alle aufwarf, immer mehr zum persönlichen Konflikt zu werden. Alle Fragen, die meine Einwanderung und mein Leben in Israel betrafen, erschienen dringlicher und profunder als sonst. Die jüdische Gemeinschaft Israels, der ich mich so spontan und ein wenig leichtfertig angeschlossen hatte, befand sich im Ausnahmezustand und forderte Solidarität und Opferbereitschaft von ihren Mitgliedern. Ich stand vor der Frage: War ich dazu willens und in der Lage? Der Krieg stieß mich an die Grenzen meiner Möglichkeiten, mich mit dieser Gesellschaft zu identifizieren und zu solidarisieren.

Zu spüren bekam ich dies am deutlichsten, wann immer ich mit der ethnisch definierten „Menschlichkeit“ meiner Umgebung konfrontiert wurde. Im Gegensatz zu den meisten Menschen um mich herum galt mein Mitgefühl den Opfer Israels in einem ebenso großem Maße als den getöteten und verwundeten Soldaten auf der eigenen Seite. Die „anderen“ waren immerhin das Ziel eines brutalen, unprovozierten Angriffs geworden, und mit ihnen fühlte ich mich auch solidarisch. Dem Primat der ethnischen Solidarität, das von mir eine Identifizierung mit Juden und Israel forderte, konnte ich nicht länger folgen. Auch den Argumenten der Protestbewegung, dass die israelische Armee im Libanon selbst Opfer war, Opfer der Machenschaften einer skrupellosen Regierung unter Menachem Begin und Ariel Sharon, konnte ich mich nicht anschließen. Der Krieg hatte mich praktisch dazu gezwungen, zwischen dem Prinzip der ethnischen Solidarität und dem Humanismus und Universalismus meiner deutschen Nachkriegserziehung zu wählen.

Was mir als Bürger des Staates und als Erziehungsoffizier immer mehr zu schaffen machte, war die fortschreitende Entmenschlichung der Gesellschaft. Die Kampagnen von Terror und Gegenterror trugen viel zu dieser wachsenden Schrankenlosigkeit bei. Die pauschale und rücksichtslose Manier, mit der die Gegenseite angegriffen wurde, bezeugte nicht nur die fehlende Achtung vor der Menschlichkeit des Gegners, sie unterhöhlte auch die Menschlichkeit der eigenen Gesellschaft.

In Israel war und ist es üblich, über Persönlichkeit und Leben von militärischen und zivilen Opfer ausführlich in den Medien zu berichten. Angehörige und Freunde erzählen über die Getöteten und bezeugen öffentlich ihre Trauer. In den Zeitungen und den Fernsehnachrichten ist es zur Regel geworden, Bilder von verzweifelten, weinenden Menschen zu zeigen. In Radiosendungen wird minutenlang vor offenem Mikrophon geschluchzt. Diese inzwischen ritualisierte öffentliche Inszenierung dient dazu, die Menschlichkeit und Individualität der Getöteten hervorzuheben, die Güte, Warmherzigkeit und Humanität der eigenen Gesellschaft und die Härte und Unmenschlichkeit des Gegners. Neben Gefühlen der Solidarität und Anteilnahme werden damit auch Aggressionen und das Bedürfnis nach Rache geschürt. Vor allem aber enthalten solche Rituale die verborgene Botschaft, dass der Gegner unmenschlich ist und keine menschliche Behandlung oder Rücksichtnahme verdient.

In Israel herrscht die tief verwurzelte Überzeugung vor, dass die jüdische Gesellschaft einen viel höheren Grad an Sittlichkeit besitzt als die des Gegners, dass der Verlust von Menschenleben viel schwerer wiegt und dass, umgekehrt, in der arabischen Gesellschaft Menschenleben billig sind. Diese rassistische Typisierung wird scheinbar dadurch bestätigt, dass die Opfer der eigenen Gewalt anonym und unsichtbar bleiben. Meist bekommt der israelische Bürger über Aktionen der Armee ein sehr knappes, formales Kommuniqué zu hören, in dem lediglich über den Einsatz gegen „Terroristen“ die Rede ist und davon, dass die eigenen Truppen keine Verluste zu verzeichnen hatten. Damit scheint das wichtigste gesagt. Die Opfer der eigenen Gewalt bleiben ungezählt, ungenannt und gesichtslos. Wer sich über sie informieren will, muss sich an ausländische Nachrichtenmedien wenden.

Auf der palästinensischen Seite ist ein nationalistischer Totenkult entstanden, der vergleichbare Wirkungen hat. Hier ist es der im Kampf gegen den Besatzer gefallene „Märtyrer“, dem die Jugend nacheifert und dessen Vorbild die Politik beflügelt und radikalisiert. Das einsame Vorgehen des Kriegers, sein unausweichlicher Tod im Kampf gegen einen überlegenen Gegner und seine Belohnung im Jenseits sind archaische Motive, hinter denen sich die Verblendung des Selbstmörders, sein unnützer Tod und die verwüstende Wirkung einer mit Nägeln gefüllten Bombe verbergen lassen. Sein Bild taucht auf Postern und Videobilder auf, sein Name wird in militärischen und zivilen Einrichtungen verewigt, um ihn kreisen Mythen und Legenden. Die Entmenschlichung des Feindes, schlechthin alle Israelis oder kurzerhand „Juden“, macht es möglich, die Tötung von unbewaffneten und wehrlosen Zivilisten, darunter viel zu oft Kinder, als mutige Aktionen und glorreiche Heldentaten hinzustellen und zu verharmlosen. Kritik an der brutalen Terrorstrategie palästinensischer Gruppen, die nicht wenig zur Verschlimmerung und Verlängerung palästinensischen Leids beigetragen hat, ist in den ganz seltenen Fällen, in denen sie öffentlich geäußert wird, nur in ausländischen Medien zu finden.

In der israelischen Gesellschaft spielt die konventionelle Glorifizierung und Verharmlosung von Gewalt kaum eine Rolle. Das Selbstbild des israelischen Soldaten ist das eines zum Kampf gezwungenen Pazifisten. Besonders auffallend in dieser Selbstsicht ist das „Erleiden“, die subjektive Unschuld und Drangsal des Einzelnen, der „schießt und weint“, wie es in einer bekannten israelischen Redewendung heißt. Diese Haltung entspricht dem Grundtenor israelischer Apologetik, der Idee der zwar rechtmäßigen aber widerwilligen Notwehr gegen eine scheinbar ungerechtfertigte arabische Aggression, ein historischer Mythos, der die eigene Passivität in Hinsicht auf die Ursachen und die Dynamik des Konflikts herausstellt. Diese Selbstidentifikation als Opfer, verstärkt durch die scheinbaren Parallelen in der jüdischen Geschichte, wirkt dabei nicht weniger mystifizierend und betäubend als die Verherrlichung von Gewalt.

Wo die Idee von Notwehr und eine stark übertriebene, die Wirklichkeit kaschierend Vorstellung von der eigenen Humanität und der Minderwertigkeit des Gegners so bedingungslos vorherrschen, wird oft aus einem besonders verdrehten, rassistischen Gefühl für Proportionalität gehandelt. Der Einschlag einer von Palästinensern im Gazastreifen abgefeuerten Granate in den Feldern eines israelischen Kibbuzes gilt oft genug als Rechtfertigung für einen unverhältnismäßig harten Gegenangriff mit vielen Toten und Verletzten, meist unter Zivilisten. So wird die Idee von der „Billigkeit“ arabischen Lebens in grausame Realität umgesetzt. Überfälle auf israelische Armeepatrouillen im bis ins Jahr 2000 besetzten Südlibanon, bei denen Soldaten zwar verletzt wurden, aber keine vitalen Sicherheitsinteressen Israels im Spiel waren, lösten Gegenaktionen aus, die Zehntausende Zivilisten zur Flucht zwangen. Die Verantwortung dafür wurde ganz selbstverständlich den gegnerischen Organisationen zugewiesen, deren Aktionen den Vergeltungsschlag ausgelöst hatten.

Auch wenn diese Argumente oft vor der Weltöffentlichkeit gebraucht werden, ihr eigentliches Ziel war und ist die eigene Bevölkerung. Es sind die eigenen Bürger, deren Zweifel an der Angemessenheit und Menschlichkeit des israelischen Handelns beschwichtigt werden müssen. Ähnlich steht es mit Ursprung und Geschichte des Konflikts. Die eigenen Schuld und Verantwortung für die Kriege, für die Zerstörung und das Unglück des Nachbarvolkes, wird abgehalten hinter hohen Mauern von Verdrängung und Verleugnung.

Das Verhältnis zu den Arabern bildet das schwierigste Kapitel des israelischen Alltags, das ich als Neuling lernen musste. Die Haltungen und Meinungen der Juden gegenüber den Arabern als dem historischen Gegner, als den Mitbürgern im Staat Israel und als der unter israelischer Besatzung lebenden Bevölkerung in den Gebieten sind, nachdem an allen anderen ideologischen Fronten inzwischen Ruhe herrscht, zum Hauptthema des Zionismus geworden. Die Einstellung zu dieser Gruppe formt den Klebstoff der jüdischen Gesellschaft im Lande. Kein anderes Thema ruft soviel Emotionen hervor, keine andere Frage vermag die Anhänger von Zionismus und jüdischem Nationalismus so deutlich von den Dissidenten und Gegnern des Zionismus zu scheiden. Wer sich in einer Unterhaltung unter Juden vorurteilsvoll, abschätzig oder aggressiv über „die“ Araber auslässt, wird meist fraglose Zustimmung erhalten oder, im schlimmsten Fall, als übereifriger Patriot erscheinen. Wer für die Rechte der arabischen Bürger streitet oder sich um die Lage in den Besetzten Gebieten sorgt, gilt schnell als Verräter oder als jemand, der unter einer bei Gegnern von Jüdischen Nationalismus und Zionismus weit verbreiteten Krankheit leidet, dem „Jüdischen Selbsthass“.

Bei der arabischen Minderheit in Israel erinnerten mich das quälende Gefühl der Erniedrigung und der ständig unter der Oberfläche lauernden Groll gegenüber der Mehrheit an die Situation der deutsch-jüdischen Bevölkerung in der Nachkriegszeit. Diese Wut stand in einer eigentümlichen Spannung zu der Sehnsucht nach Anerkennung als Opfer. Der Wunsch nach der Bestätigung des eigenen Leids und nach Anerkennung von Schuld ist bei allen Opfern von Gewalt und Unrecht zu finden. Bei den Juden wurde dieser Wunsch durch das öffentliche Schuldbekenntnis Deutschlands und die Entschädigungsmaßnahmen zum großen Teil erfüllt. Angesichts der ungebrochenen Verdrängungshaltung der israelischen Juden bleibt bei den Arabern Israels und der Gebiete dieses Bedürfnis völlig unbefriedigt.

Die Beziehung der israelischen Juden zu ihren arabischen „Mit“-Bürgern, der Gruppe von Arabern, die 1948 im jüdischen Staatsgebiet blieben, ist äußerst kompliziert. Auf der einen Seite sind es Mitglieder einer ethnischen Minderheit, deren Rechte und Freiheiten in den Augen der Israelis als Beweis für den freiheitlichen und demokratischen Charakter des Staates dienen müssen. Auf der anderen Seite repräsentieren sie den Gegner, mit dem seit Beginn der zionistischen Besiedlung um das Territorium gestritten wird, den Feind des Bürgerkrieges von 1947/48 und der Konflikte danach und die so genannte „tickende Zeitbombe“ des hohen Geburtenüberschusses, der in den Augen der Mehrheit den „jüdischen Charakter“ des Staates bedroht, ein viel gebrauchter Euphemismus für die Vorherrschaft der Juden im Land. Vor allem aber stehen die Araber Israels stellvertretend für eine Bevölkerung, die von den Juden erniedrigt, beraubt und verdrängt wurde, ohne dass die jüdische Gesellschaft dafür bislang die Verantwortung zu tragen bereit ist.

Der quasi offiziellen Geschichtsversion Israels zufolge haben sich die Araber Palästinas durch ihren unentwegten Widerstand gegen die Ansiedlung von Juden und die Schaffung eines jüdischen Staates selbst ins Unrecht gesetzt. Die Juden übten dieser Sicht zufolge allein ihr Recht auf Selbstverteidigung aus, zögernd und widerwillig, und fügten dem Aggressor dabei unerwartet eine empfindliche Niederlage zu. Der Exodus der arabischen Bevölkerung aus dem zukünftigen jüdischen Staatsgebiet, der das bis heute ungelöste Flüchtlingsproblem schuf, war dieser Version nach allein Schuld der arabischen Führung und der arabischen Bevölkerung selbst.

Das war eine Geschichtsversion, die vielen nur zu gut passte, auch außerhalb Israels.

Die Spannung zwischen Mythos und Wirklichkeit ist auch in der Frage der „historischen“ Ansprüche auf das Land zu spüren. Die Idee des Primats der jüdischen Ansprüche, aus dem die Minderwertigkeit arabischer Rechte folgt, basiert auf dem romantisch-nationalistischen Mythos der „Rückkehr“ der Juden und der „Wiederherstellung“ eines Jüdischen Staates. Diese Mischung aus religiösen Messiashoffnungen und modernen nationalistischen Vorstellungen wird noch durch die Idee der historischen Wiedergutmachung angereichert. Dieser viel zielbewusstere Mythos geht von einer Schuld der christlichen Länder aus, die in der historischen Diskriminierung und Verfolgung von Juden begründet liegt und durch eine Bevorzugung der jüdischen gegenüber den arabischen Ansprüchen beglichen werden soll. Die Entscheidung der Kolonialmacht Großbritannien 1917, die Bestrebungen der damals noch kleinen und unbedeutenden zionistischen Vereinigung mit dem Versprechen einer Jüdischen Heimstätte in Palästina zu belohnen, wird von vielen bis heute in diesem mythischen Zusammenhang gesehen. Auch die Araber Palästinas, die von Anfang an gegen das von Großbritannien erworbene pro-zionistische Völkerbundsmandat von 1920 stritten, erblickten in dieser kolonialistischen Anmaßung die Sühneleistung der christlichen Völker gegenüber den Juden, dessen Kosten sie nun zu tragen haben.

Die Idee der Rechtmäßigkeit jüdischer Ansprüche auf Palästina und die Auffassung von der durch unbegründete arabische Aggression aufgezwungenen Selbstverteidigung wurden durch viele Jahrzehnte hindurch von der öffentlichen Meinung in der westlichen Welt mitgetragen. Die Haltung der Regierungen in Großbritannien, in den USA, der Bundesrepublik Deutschland und anderer Länder, die für die Ansiedlung von Juden, die Schaffung von Israel und die Festigung des nach 1948 eingetreten Staus Quo mit verantwortlich sind, hat den Prozess der Verdrängung und Umdeutung des Geschehen noch weiter gefördert und damit die Chancen einer Verständigung mit den Arabern ständig verkleinert. Die Folgen sind nicht nur in den jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel, sondern auch im schlechten Verhältnis zwischen den arabischen Ländern und den Staaten Europas und Nordamerikas zu spüren.

Als Kind von Verfolgten, der auch noch im Deutschland der Nachkriegszeit aufgewachsen war, musste ich mich früher oder später mit einer grundlegenden Idee reiben. Israel war als Staat für Juden geschaffen worden und wird auf vielerlei Weise als Staat der Juden erhalten, mit Gewalt. Wie konnte ich mich als Mitglied einer Minderheit, die wegen ihre ethnischen und religiösen Sonderheit verfolgt worden war, mit dem Prinzip einer ethnisch definierten Staatsbürgerschaft, und der Ungleichheit, die es schafft, versöhnen?

Der Charakter Israels als „jüdischer Staat im Lande Israel“, wie es in der Unabhängigkeitserklärung heißt, ist in einer Reihe von Grundgesetzen festgeschrieben. Im Grundgesetz über das Parlament, die Knesset, wird Israel als „der Staat des Jüdischen Volkes“ definiert. In einem anderen Grundgesetz, dem Rückkehrgesetz, wird jedem Juden das Recht zugesprochen, in Israel einzuwandern. Dieses Recht erstreckt sich auf die nichtjüdischen Verwandten ersten Grades eines Einwanderers, der damit sein Recht auf Staatsbürgerschaft auch auf nichtjüdische Eltern, Ehepartner und Kinder übertragen kann.

Den nichtjüdischen Bürgern des Staates, und den ehemaligen Bewohnern, die 1949 und 1967 geflohen sind, steht dieses Privileg nicht zu.

Weil es zur Abfassung einer Verfassung bisher nicht gekommen ist, dient die im Mai 1948 verkündete Unabhängigkeitserklärung auch weiterhin als Quelle allgemeiner ethischer Prinzipen und staatlicher Ziele. Im selben Satz, in dem jüdische Einwanderung und das „Einsammeln der Verstreuten“ zum staatlichen Auftrag erklärt wird, verspricht der Staat, auch die Wohlfahrt aller Bewohner zu mehren und ihre Rechte und Freiheiten auf der Basis völliger Gleichheit zu schützen. Diese zwei Aufgaben, die Förderung jüdischer Interessen in Israel und anderswo, und die Wahrung der Interessen aller Bewohner des Landes ungeachtet ihrer Religion, Rasse und ihres Geschlechts, stehen in einem deutlichen Widerspruch. Dieser Widerspruch kommt in der Ungleichheit von jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerungsteilen zum Ausdruck, aber er geht auch darüber hinaus.

Eine 1994 verabschiedete Gesetzesnovelle, Abschnitt 13 des Strafrechts, illustriert dieses Problem. Das Gesetz gibt dem israelischen Strafrecht bei Vergehen im Ausland Gültigkeit, aber nicht nur bei Vergehen gegen Körper, Gesundheit und Besitz von Israelis, sondern auch bei Vergehen gegen Juden und jüdischen Besitz. Bei der Verabschiedung des Gesetzes betonte der damalige Justizminister, dass es sich dabei um einen Schutz gegen Vergehen handelte, die sich gegen Juden als Juden richteten, und sich nicht auf Vergehen erstrecke, die aus anderen Motiven gegen Juden gerichtet seien. Damit werde dem Charakter des Staates Israel als Staat des jüdischen Volkes Ausdruck gegen. Dies ist eine einmalige und äußerst bizarre Konstruktion und schafft eine einseitige, von den Beschützten nicht beeinflussbare Verbindung zwischen dem Wohl des Staates und dem der Juden und jüdischer Einrichtungen im Ausland.

Der Charakter des Staates als Bewahrer des jüdischen Ethnos schränkt die Rechte aller Bürger des Staates ein, nicht nur der moslemischen und christlichen. In keinem anderen demokratisch-säkularen Land wird einem Juden zum Beispiel verwehrt, einen nichtjüdischen Ehepartner zu nehmen. In Israel ist dies nur über den Umweg einer Heirat im Ausland und der nachträglichen Anerkennung der Ehe im Inland möglich. In keinem anderen demokratischen Land wird ein jüdisches Kind zum Besuch einer Schule mit jüdischem Lehrplan verpflichtet. Mit anderen Worten, in keinem anderen Land wird ein Jude durch staatliche Mittel zum Erhalt der eigenen Gruppe und Kultur gezwungen.

Israel ist nicht der Staat seiner Bürger und will es auch nicht sein – Israel sieht sich als das Instrument der jüdischen Nation. Israel ist auch kein Einwanderungsland im herkömmlichen Sinne, da weder für die Einwanderer noch für die aufnehmende Gesellschaft ökonomische Gründe im Vordergrund stehen. Alte Menschen werden ebenso aufgenommen wie junge, gut ausgebildete ebenso wie ungeschulte. Der Staat hat bis heute die Einwanderung von Juden weder gesteuert noch beschränkt. Solange eine ungebremste Einwanderung für den demographischen Wettlauf mit der arabischen Minderheit erforderlich bleibt, wird die israelische Gesellschaft auch weiterhin ihre Ressourcen der Integration der heimkehrenden Teile des Staatsvolks zur Verfügung stellen müssen.

Zum Schluss will ich auf eine Grundfrage Israel zu sprechen kommen, die mich in vieler Hinsicht am meisten beschäftigt hat – die der Grenzen. Ich meine damit nicht nur die geographischen Grenzen, sondern die Grenzziehungen innerhalb der Gesellschaft, also die Frage der Identität Israels als Staat, als jüdischer Staat, als demokratischer Staat, oder, wie ein Teil der Zionisten es will: als jüdischer UND demokratischer Staat. Und die Grenzziehungen in Hinsicht auf die Bürgerrechte: die Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden.

Israel hat in all diesen Hinsichten, nach 60 Jahren des Bestehens, immer noch keine festen Grenzen, ja kaum ein klar umreissbares Territorium, weder geographisch noch politisch, das dieses Land eindeutig charakterisiert.

Israel hat sich selbst noch keine geographischen Grenzen gegeben. Unterschiedliche Regierungen haben zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Territorien beansprucht. Das liegt zum einem an der fehlenden historischen Kontinuität. Mit der oft zitierten Ausnahme eines einzigen Dorfes gibt es keinen Ort im historischen Siedlungsgebiet, in denen Juden kontinuierlich gelebt haben. Die jüdischen Gruppen, die sich hier im Laufe der Jahrhunderte aufhielten, unterlagen den gleichen Fluktuationen, den gleichen Wanderungsfaktoren, wie andere Diaspora- Gemeinden. Die Bindung der Juden an ihre ursprüngliche Heimat, auf die sich der Zionismus berief, hatte längst einen spirituellen Charakter angenommen, und das historische „Land Israel“ war weniger ein konkreter als ein mythischer Ort. Außerdem lagen die Grenzen der biblischen Reiche, so weit sie bekannt waren, fernab der modernen zionistischen Ansiedlungen entlang der Mittelmeerküste, die in biblischen Zeiten ausgerechnet von den Philistern, den Palästinensern, beherrscht worden war.

Zu Beginn der zionistischen Einwanderung war das historische Siedlungsgebiet kaum noch von Juden bewohnt. Die Bildung der Nation war also zuerst ein Akt der Kolonisierung und Unterwerfung des Raumes. Dies geschah allmählich. Die Zionistische Bewegung hatte von Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts ab immer da Land aufgekauft, wo sich gerade ein arabischer Verkäufer fand, und so eine ständig wachsende Zahl von landwirtschaftlichen Siedlungen geschaffen. Das Ziel war, Juden anzusiedeln und mit ihrer Hilfe die wirtschaftlichen, politischen und räumlichen Voraussetzungen zu schaffen, um noch mehr Juden anzusiedeln. Ab Mitte der Dreißiger Jahre, als sich die Teilung des Landes abzuzeichnen begann, bekam die Besiedlung noch eine zusätzliche Funktion – die Eroberung des arabischen Raumes durch Zersiedlung. Durch den gezielten Ankauf von Ländereien und die Errichtung von versprengten Siedlungen in arabischen Ballungsgebieten konnte der Anspruch auf späteren Einschluss in das jüdische Staatsgebiet begründet werden. Die von der UNO 1947 eingesetzte Teilungskommission versuchte in monatelangen Sitzungen, das Problem des zersiedelten Raumes zu lösen und um die unzusammenhängenden jüdischen Siedlungsgruppen herum eine Grenze zu ziehen. Trotz der vielen Lösungen, die gefunden wurden, enthielt der auf diese Weise gezielt erweiterte jüdische Raum eine große Zahl von arabischen Bewohnern und damit schon das Motiv für die spätere Vertreibung und Verdrängung der arabischen Bewohner des jüdischen Hinterlands.

Diese ebenso skrupellose wie kurzsichtige Politik der Zersiedlung des arabischen Raumes wird seit 1967 in den Besetzten Gebieten fortgesetzt. Die Durchsetzung des arabischen Raumes als Strategie zur Rückgewinnung des gesamten „Landes Israel“ bleibt so auch weiterhin der Kern der jüdisch-arabischen Tragödie.

Israel hat auch keine eigenen politischen Grenzen. Die Idee der jüdischen Nation entwickelte sich in kaum mehr als dreißig Jahren vom Konzept der landwirtschaftlichen Kolonien für notleidende Flüchtlinge über die Idee einer Heimstätte mit internationalem Charter und einem föderativen jüdisch-arabischen Bundesstaat zum jetzigen Zustand eines durch Juden beherrschten bi-nationalen Staates, in dessen Kern eine ethnische Demokratie herrscht und an dessen Peripherie sich eine koloniale Herrschaft ausgebreitet hat. Der Staat Israel bleibt dadurch, trotz all seiner nationalstaatlichen und kolonialistischen Elemente, im Wesen die sich ständig verändernde Hülle einer sich noch entwickelnden nationalen Idee, eine Hülle, die sich langsam mit Menschen und mit Wirklichkeit füllt und dabei die inneren und äußeren Grenzen laufend verschiebt. Aus dieser Dynamik entsteht die große Energie, die manche an Israel bewundern, aber auch die große Unruhe und Unberechenbarkeit, unter der alle Bewohner, Juden und Araber, weiter leiden.

Zum Schluss die ethnischen Grenzen: Jüdische Israelis habe sich eine Konstruktion des Wir geschaffen, die einen Teil der Bürger ausschließt, aber auch jüdische Israelis selbst begrenzt. Sollte eines Tages die jüdische Bevölkerung des Landes den romantisch-nationalistischen Traum der staatlichen Renaissance ausgeträumt haben und die Wahnidee von ethnischen Reservaten – eines großen für Juden und eines kleineren für Palästinenser – dort gelandet ist, wo alle diese Idee landen, im Jurassic Park der Nationalismen, wird es auch andere Gründe geben, um diese Grenzen zu erhalten: zum Beispiel die Einkommensunterschiede zwischen jüdischen und nichtjüdischen Israelis, zwischen Israelis und den Bewohnern der Gebiete, die größere sind als die zwischen dem US-Bundesstaat Arizona und dem mexikanischen Bundesstaat Sonora. Ein Wegfall der Grenzen würde bedeuten, dass die Wohlhabenderen auf der einen Seite der Grenze ihren Reichtum mit den Ärmeren auf der anderen teilen müssten. Der Wegfall der Grenzen würde die jüdische Bevölkerung Israels auch vor eine weitere Herausforderung stellen: Rechenschaft ablegen für das Schicksal der arabischen Bevölkerung. Diese Grenze, so habe ich während meiner deutschen Jugend gelernt, kann nur durch eine ehrliche und uneitle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte überwunden werden, durch die Demontage falscher Selbstbilder und die Anerkennung der eigenen Verantwortung und Schuld. Nur dadurch kann jener Prozess im Nahen Osten zu Ende gebracht werden, den wir Frieden nennen.

Wir fragen uns: Vor welchen Aufgaben stehen wir heute, die wir den Menschen im Nahen Osten Frieden wünschen. Ich will eine mögliche Aufgabe hier nennen: Ethnische Grenzziehungen innerhalb einer Gesellschaft – damit haben wir hier in Europa und besonders in Deutschland schlechte Erfahrungen gemacht. Diese Einsicht, diesen politischen Standpunkt sollten wir Israelis und den Verteidigern des Status quo gegenüber sehr deutlich machen. Ein explizit als jüdischer Staat definiertes Israel, eine auf religiöser Herkunft basierende Staatsbürgerschaft, das sind Prinzipien, die sich mit unserem westlichen Verständnis von Demokratie und der Rolle des Staates nicht vereinbaren lassen.

© Daniel Cil Brecher 2011