Daniel Cil Brecher

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Krieg gegen die Juden? Die Dekontextualisierung des Palästinakonflikts

In Allgemein on Oktober 29, 2025 at 10:47 am

in: Wolfgang Benz (Hrsg.) Nakba. Erinnerungsdefizite und Denkverbote im Palästinakonflikt. Berlin (Metropol) 2025, S. 169-197




Eine kurze Szene und ein Zitat sollen am Anfang stehen. Ort ist das US-Außenministerium in
Washington, Datum der 16. Juli 2008. Die US-Außenministerin Condoleezza Rice spricht mit
dem palästinensischen Premierminister Ahmed Qureia (Abu Alaa) und dem PLO-
Verhandlungsführer Saeb Erakat über die Verantwortung für das palästinensische
Flüchtlingsproblem. Konkret geht es um die Frage der Entschädigung und um die mögliche
Rückkehr der Flüchtlinge nach Israel. Das Gespräch ist Teil des sogenannten
Friedensprozesses, hier zwischen den Palästinensern und der Regierung Olmert/Livni. Wir
verdanken die Veröffentlichung des Protokolls dem Fernsehsender Al Jazeera.
Rice stellt fest: „Zwei Dinge sind schwierig: die nicht-materielle Entschädigung und die Frage
der Verantwortung.“ Abu Alaa wirft ein: „Schwierig, weil es die Verantwortung Israels ist.“
„Wenn Sie über Verantwortung sprechen wollen“, antwortet Rice, „dann trägt nicht Israel die
Verantwortung, sondern die internationale Gemeinschaft. Sie hat Israel geschaffen.“ Sie fährt
fort: „Verantwortung, das ist ein befrachteter Begriff. Ich habe ihn immer abgelehnt; er ist
nicht zukunftsorientiert.“1
Rice wies mit ihrer Bemerkung auf für beide Seiten unbequeme Umstände hin: dass die
arabische Bevölkerung Palästinas schon lange vor dem Krieg von 1948 für die europäischen
Mächte keine Bedeutung hatte, bevor sie schließlich vertrieben wurde – in einem Krieg, auf
dessen kleinen zeitlichen Rahmen sich die israelische Diskussion über die Nakba heute
bequemerweise beschränkt; und auf die Mitverantwortung der Großmächte nach 1948, die
sich mit der Nichtrücknahme der Flüchtlinge abfanden. Sie wies auch auf den historischen
Raum, in dem die Fragen der Nakba kontextualisiert werden sollten: die kolonialen
Vorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Ansiedlung von Juden in Palästina
legitim erschienen ließen, und die europäische Kolonisierung der Region, die die Ansiedlung
praktikabel machte.
Von Anfang an war der Konflikt von sehr unterschiedlichen Sichtweisen über die Frage des
Ursprungs und der Dynamik geprägt. Die einen situieren ihn im Kolonialismus, die anderenim Kontext der zionistischen Idee jüdischer Geschichte, aus der sich die „Rückkehr“ der Juden und eine „nationale Wiedergeburt“ organisch zu ergeben schienen.2 Beide Seiten begriffen ihre Politik als defensiv und ihre Gewaltmittel als legitim. „Die Araber betrachten die nationalistischen Juden Palästinas als Eindringlinge und Aggressoren“, fasste der UN-Vermittler Folke Bernadotte 1948 die Kriegsgründe auf arabischer Seite zusammen.3 Der palästinensische Jurist Henry Cattan, der das Arabische Hohe Komitee 1947–1948 vor der UN vertrat, lehnte alle völkerrechtlichen Schritte, auf die sich die Zionisten beriefen, die
Balfour-Erklärung, das Völkerbundmandat und die Entscheidung der UN-Vollversammlung
vom November 1947, als von Anfang an ungerecht ab.4 In der Perspektive der jüdischen
Siedlergesellschaft (Jischuw) hingegen war der Angriff von 1948 der erneute Versuch, die
Schaffung eines international legitimierten jüdischen Gemeinwesens zu verhindern. „1947
gingen die Araber, wie schon 1921 und 1936, in der Hoffnung, ihre politischen Ziele mit
Gewalt durchzusetzen, zu offener Feindseligkeit über“, schrieb der spätere Außenminister
Abba Eban, wobei er die sehr unterschiedlichen Motive palästinensischer Proteste und die
Ablehnung durch arabische Staaten miteinander verschmolz.5
Die Nakba stellte Israel vor ganz neue politische Herausforderungen. Flucht und Vertreibung
und die spätere Weigerung der Rücknahme der Flüchtlinge schufen einerseits die von der
zionistischen Führung lange herbeigesehnte jüdische Mehrheit im Land. Die Weigerung der
Rücknahme und vor allem die Ablehnung jeglicher Verantwortung zogen allerdings auch
einen Wechsel auf die Zukunft. Die Nakba sei der erste große „Plonter“ (jiddisch für Fehler,
Verwicklung) Israels gewesen, gefolgt vom Plonter der Besiedlung der besetzen Gebiete,
schrieb im Jahr 2023 die israelische Tageszeitung Haaretz.6 Die Vertreibung vergiftete zudem
die Beziehungen zur eigenen palästinensischen Bevölkerung und zu den Nachbarn sowie die
Entwicklung der israelischen Gesellschaft und ihrer politischen Kultur.
Auch außenpolitisch musste sich Israel Sorgen über die Nakba machen. Kaum zehn Jahre
nach den Ereignissen sah sich Ben Gurion genötigt, geheime Studien über die Schuldfrage in
Auftrag zu geben, um sich gegen eine mögliche US-Initiative zur Rücknahme der Flüchtlinge
zu wehren.7 Auch wenn die Flüchtlingsfrage nach den Camp David Accords mit Ägypten
1978 marginalisiert und durch die nebulöse Haltung der arabischen Staaten und der PLO
entschärft wurde, spielten die unterschiedlichen Auffassungen über die Nakba, und damit
über Ursprung und Dynamik des Konflikts, in den Verhandlungen der 1990er-Jahre eine
Schlüsselrolle.8
In der jüdischen Gesellschaft Israels entstand ein System der Rechtfertigungen, das es der
Bevölkerung möglich machte, das idealisierte Selbstbild einer durch das eigene Leid
moralisch sensitivierten und nach besonders hohen ethischen Maßstäben handelnden
Gruppe aufrechtzuerhalten. Der Konflikt der Narrative stieß dabei immer wieder auf die
Frage, wie eine Kontextualisierung vor dem Hintergrund anderer kolonialer Projekte mit der
zionistischen Sicht der inhärent einzigartigen, unvergleichbaren Geschichte der Juden zu
vereinbaren war. Eine gemeinsame fundierte Grundlage, die den Konflikt diskutabel gemacht
hätte, fehlte von Anfang an. Die fast unüberbrückbare Kluft der Narrative führte zu einem
Vokabular der prinzipiellen Ablehnung und zur Gewalt. „Der Zionismus entwarf eine
Gesellschaft, die immer nur ‚einheimisch‘ sein konnte“, schrieb Edward Said, „und zielte
gleichzeitig darauf ab, die Einheimischen zu ersetzten“. „Mit anderen Worten, wir müssen
den Kampf zwischen Palästinensern und Zionisten als einen Kampf zwischen einer Präsenz
und einer Interpretation verstehen.“9

„Juden ins Meer werfen“
Für die meisten Juden und viele Nicht-Juden im Westen erschien die Gründung des Staates
Israel und der erfolgreiche Ausgang des Krieges als Schlusspunkt einer außergewöhnlichen, ja
mythischen Entwicklung: ein Triumph des gerade so gepeinigten und fast vernichteten
jüdischen Volkes über seine Feinde, als ein Richterspruch der Geschichte, der das durch
Antisemitismus und Holocaust verursachte Leiden auszugleichen schien. Auch die
israelischen Sichtweisen der Hintergründe des Konflikts und der Vertreibung und Flucht der
arabischen Bevölkerung passten in dieses Bild.
Der israelische Außenminister Moshe Shertok schrieb im August 1948 an den UN-Vermittler
Folke Bernadotte: „Der Exodus der palästinensischen Araber […] ist eines jener
katastrophalen Phänomene, die den Lauf der Geschichte verändern. Die Massenflucht […] ist
eine direkte Folge der arabischen Aggression von außen. Ohne das Eingreifen der arabischen
Staaten hätte es eine überwältigende Zustimmung der einheimischen Araber zur Gründung
des Staates Israel gegeben, und inzwischen würden auf dem gesamten Staatsgebiet Frieden
und angemessener Wohlstand herrschen, zur Freude von Juden und Arabern
gleichermaßen.“10 Bernadotte war anderer Ansicht. In seinem Bericht vom Sommer 1948, den
er einige Wochen vor seiner – u. a. durch den späteren israelischen Premier Jitzchak Shamir
veranlassten – Ermordung verfasste, verwies er auf Fluchtgründe, die in Israel und Teilen der
westlichen Öffentlichkeiten erst vier Jahrzehnte später zum Gemeingut wurden: „Der Exodus
der palästinensischen Araber war das Ergebnis von Panik, die durch die Kämpfe ausgelöst
wurde, von Gerüchten über tatsächliche oder angebliche Terroranschläge und Vertreibung.“11
Die Frage von Ursprung und Motiven für den Exodus spielte in Israel allerdings zu diesem
Zeitpunkt nur eine praktische Rolle: wie konnte die Fluchtbereitschaft ausgenutzt und
verstärkt werden. Die israelische Armeeführung machte sich vor allem Sorgen über die
Kampfmoral der hastig rekrutierten, unerfahrenen Soldaten. Während der Kämpfe von 1948
verbreitete die Armee Nachrichten über genozidale Absichten der Gegenseite, über einen
angeblichen arabischen Plan, „die Juden ins Meer zu werfen“. Der Kampf mit den arabischen
Invasoren und palästinensischen Milizen sei ein Kampf auf Leben und Tod, der kein Pardon
dulde.12
Der israelische Historiker Shay Hazkani untersuchte Briefe von Teilnehmern an den
Kämpfen von 1947–48 und stieß auf Spuren dieser Vernichtungsängste unter den jüdischen
Soldaten.13 Die angebliche arabische Absicht, die Juden ins Meer zu werfen, wurde in den
folgenden Jahrzehnten zu einem Pfeiler der israelischen Hasbara, der auf das Ausland, aber
auch auf die eigene Gesellschaft gerichteten Propaganda.Siesollte den Kontext der
Auseinandersetzung und die drakonischen Gegenmaßnahmen Israels erklären. Juden seien
gezwungen, sich im Kampf gegen Araber und Palästinenser (zum wiederholten Mal) gegen
eine totale Vernichtungsabsicht zu wehren. Hazkani schrieb 2022 dazu: „Jede Woche
berichtet der Kolumnist Ben-Dror Yemini seinen Lesern in Yedioth Ahronoth von arabischen
Führern, die 1948 dazu aufriefen, die Juden ins Meer zu werfen. Mit anderen Worten: Sie
wollten sie systematisch abschlachten. In 15 Jahren Recherche, in denen ich Hunderte von
Propagandadokumenten aus den Jahren 1947 bis 1949 gelesen habe, bin ich nur auf einen Fall
gestoßen, in dem ein arabischer Führer ‚Meer‘ und ‚Juden‘ im selben Satz erwähnte. Die
bekannteren Zitate (wie jenes, das dem damaligen Generalsekretär der Arabischen Liga,
Azzam Pasha, zugeschrieben wird) werden nicht durch arabische Quellen gestützt. […] Den
Dokumenten zufolge, die ich für mein Buch gesammelt habe, entstammen die Behauptungen
[…] der offiziellen zionistischen Propaganda.“14
Ein ähnliches Beispiel ist die Behauptung, dass arabische Staaten die palästinensische
Bevölkerung im April 1948 in Rundfunksendungen zur zeitweisen Evakuierung ihrer Dörfer
und Städte aufgerufen hätten. Damit sollte die These untermauert werden, dass nicht Israel,
sondern die Araber schuld an der Tragödie seien. Auch dies war pure Propaganda.15

Warum gebrauchen sie Gewalt?
Der Jischuw musste sich von Anfang an mit der Frage des gewaltsamen palästinensischen
Protests und Widerstands auseinandersetzen. Trotz der großen Zielstrebigkeit, mit der die
zionistische Bewegung die Ansiedlung von Juden betrieb, war eine Kernfrage offengeblieben:
Wie konnte ein jüdischer Staat in einem Land geschaffen werden, das von einem anderen
Volk bewohnt wurde? Schon der erste Protest der arabischen Bevölkerung im April 1920 löste
einen Schock aus. Der deutsch-jüdische Soziologe Arthur Ruppin, der seit 1908 die
Kolonisationsarbeit in Palästina im Namen der zionistischen Siedlungsbewegung leitete,
schrieb am 7. April 1920, einen Tag nach Abflauen des zweitägigen Protests, in sein
Tagebuch: „Wenige Tage haben genügt, um das Bild Palästinas und den Ausblick auf unsere
Arbeit zu verändern. Bis heute Abend sind sechs tote Juden gezählt, mehrere Verletzte
schweben noch in Lebensgefahr. Weizmann ist unter der Wucht dieser Ereignisse ganz
zusammengebrochen und schien heute früh in einer Sitzung das Ende des Zionismus für
gekommen anzusehen.“16
Ein Jahr später, am 1. Mai 1921, nahmen arabische Bürger Jaffas eine von jüdischen Arbeitern
abgehaltene Maifeier zum Anlass, erneut gegen die Einwanderung von Juden zu protestieren.
Ruppin notierte am 1. Mai in seinem Tagebuch: „Für mich ist es besonders deprimierend,
dass diese Vorfälle wirklich auf eine so judenfeindliche Stimmung der Araber schließen
lassen, dass man an einer aufrichtigen Versöhnung zwischen Juden und Arabern fast
verzweifeln muss.“
In den folgenden Tagen weiteten sich die Proteste auf das ganze Land aus und forderten eine
große Zahl von Opfern. Ruppin begriff, dass eine „aufrichtige Versöhnung“ nicht die einzige
Option war, mit dem arabischen Widerstand umzugehen. Am 5. Mai 1921 notierte er: „Viele
Kenner des Landes sagen, dass [eine konsequente Versöhnungspolitik] den palästinensischen
Arabern gegenüber verfehlt ist und dass diese nur durch eine ‚starke Hand‘ gewonnen werden
können. Ich bin jedenfalls entschlossen, mich von meiner führenden zionistischen Stellung
zurückzuziehen, wenn es sich zeigt, dass man zur Gewaltpolitik greifen muss.“17 1923 schrieb
der Führer der zionistisch-revisionistischen Bewegung, Ze’ev Jabotinsky: „Wir versuchen, ein
Land gegen den Willen seiner Bevölkerung zu kolonisieren, in anderen Worten, mit Gewalt.
[…] Jede Urbevölkerung in der Welt würde sich gegen die Kolonisten wehren, solange es
noch einen Funken Hoffnung gibt, der Kolonisierung zu entgehen.“18 Angesichts des nicht
nachlassenden Widerstandes der Araber war es in der Tat die Gewalt, der die Zukunft
gehörte.
Das Bild arabischer Gewalt, das zunächst eine unbeschönigte Sicht der Ursachen enthielt,
begann in der Periode 1948–1967 auf einen durch den Holocaust erweiterten historischen
Kontext zu verweisen, in dem die Vorstellung der immerwährenden Diskriminierung und
Gefährdung der Juden die Grundlage bildete. Die neue Sichtweise umfasste aber auch
postkoloniale Elemente. Juden waren nun das Staatsvolk, das palästinensischen Bürgern
einen Status zuweisen musste. Dieser Bevölkerungsteil wurde jetzt „Araber Israels“ genannt,
Mitglieder einer transnationalen Ethnizität, deren Heimat und nationale Rechte nicht
organisch mit diesem Land verbunden waren. Juden, ehedem selbst transnational, nahmen
die Rolle der Urbevölkerung an. Der Status der „Anderen“ wurde auch noch dadurch
bekräftigt, dass die palästinensischen Bürger bis 1966 unter Militärverwaltung standen.
Als Anfang der 1950er-Jahre palästinensische Gruppen Anschläge gegen Ziele in Israel zu
verüben begannen und die israelische Armee mit Vergeltungsschlägen reagierte, stellte sich
die Frage der Motive und des Charakters der Gewalt erneut. Der tunesisch-jüdische
Sozialwissenschaftler Albert Memmi schrieb 1957 über die Haltung der Franzosen als
Herrscher in den Kolonien: „Die Menschlichkeit der Kolonisierten wird vom Kolonisator
geleugnet und ist für ihn undurchsichtig. Es sei sinnlos, behauptet er, zu versuchen, die
Handlungen der Kolonisierten vorherzusagen (‚Sie sind unberechenbar! ‚Bei ihnen weiß man
nie!‘). Es scheint ihm, dass die Kolonisierten von einer seltsamen und beunruhigenden
Impulsivität beherrscht werden.“19
Ähnliche Konstruktionen lassen sich auch in Israel finden. Die Anschläge wurden der
„Mentalität“ und „Unmenschlichkeit“ der Araber zugeschrieben. Der koloniale
Zusammenhang und die Menschlichkeit der Vertriebenen begannen schon hier völlig aus
dem Blickfeld zu verschwinden. Der in Ostjerusalem ansässige Sari Nuseibeh, später Rektor
der Al-Quds-Universität, beschloss 1968, kurz nach der Eroberung der Westbank, einen
Hebräischkurs in einem Kibbuz in Israel zu besuchen: „Der typische Kibbuznik war ein
vorbildlicher Humanist und Sozialist, eine Person, die ich einfach bewundern musste.
Gleichzeitig [hatten] diese Kibbuzniks keine Ahnung von dem hohen Preis, den wir Araber
für ihre Freiheit bezahlten. Ihr Humanismus schloss uns nicht ein.“20
Auch die israelische Historiografie der Nachkriegszeit bezog sich auf die Kategorien des
„Andersseins“ und der „arabischen Mentalität“. So wurden die Motive des Angriffs 1948 u. a.
der starken Emotionalität und fehlenden „Logik“ der Araber zugeschrieben, während die
Kriegsführung Israels als von Rationalität und Menschlichkeit geprägt galt. In den 1950er-
Jahren bürgerte sich auch die Bezeichnung „Befreiungskrieg“ ein, ein Topos, der in der Idee
vom Zionismus als „Befreiungsbewegung“ gründete.21 Israel versuchte sich damit im globalen
Prozess der Entkolonialisierung die Rolle der Kolonisierten anzueignen und die
Auseinandersetzung mit den Arabern als zivilisatorischen Konflikt zu stilisieren. Edward Said
bemerkte dazu: „Zionismus und Israel wurden mit Liberalismus, mit Freiheit und
Demokratie, mit Wissen und Licht assoziiert. Im Gegensatz dazu waren die Feinde des
Zionismus lediglich eine Version des fremden Geistes des orientalischen Despotismus, der
Sinnlichkeit, der Ignoranz und ähnlicher Formen der Rückständigkeit.“22 Alle diese Elemente
trugen dazu bei, dass der koloniale Kontext des Konflikts im öffentlichen Diskurs negiert und
im Laufe der Zeit tabuisiert werden konnte. In der Haltung der jüdischen Gesellschaft Israels
gegenüber den „Arabern“ blieb er jedoch latent fortbestehen.
In israelischen Filmen dieser Zeit wurde der heroische Kampf des „Sabra“, des in Palästina
geborenen Juden, gegen die zahlenmäßig überlegenen, aber zivilisatorisch unterlegenen
Araber gefeiert. Der nur einige Jahre zurückliegende Vernichtungsfeldzug des
Nationalsozialismus gegen die Juden bildete hier bereits die Folie. Im ersten in Israel
produzierten Spielfilm, „Hügel 24 antwortet nicht“ (1955, Giv’a 24 Eina Ona), müssen vier
gerade mobilisierte Soldaten einen Hügel am wichtigsten Zugangsweg nach Jerusalem
verteidigen. Der Film, der eine Generation lang das Bild des „Befreiungskrieges“ formen half,
verbindet die Handlung auf vielfältige Weise mit den Verbrechern der Nazis, mit jüdischem
Widerstand und der Metamorphose des schwächlichen Diaspora-Juden zum Sabra. Drei der
vier Soldaten waren vor 1948 am Schmuggel von Überlebenden nach Palästina beteiligt und
unterstützten ihre Integration in den kämpfenden Jischuw. In einer Schlüsselszene versucht
einer der vier Soldaten, einen verwundeten ägyptischen Soldaten zu retten. Dabei entdeckt er
eine Tätowierung, die den ägyptischen Soldaten als Deutschen und Mitglied der SS ausweist.
In einem langen, bemerkenswert absurden Monolog gesteht der ehemalige Obersturmführer
seine ungebrochene Treue zum „Führer“23
Auch zwei internationale, in Israel gedrehte Spielfilme stellen die Verbindung zwischen
Arabern und NS-Deutschland her. In Judith (1966) spielt Sophia Loren die Frau eines
ehemaligen SS-Offiziers. Sie wird von der Hagana nach Israel entführt, um ihren Mann zu
identifizieren, der im Krieg von 1948 auf der Seite der Araber teilgenommen hat.24 In Exodus
(1960) erscheint der Streit um Palästina ausdrücklich als eine Fortsetzung des jüdischen
Kampfes gegen die Nazis. Dieses Werk – die „beste Werbung, die Israel je hatte“ (Film
Quarterly 1961) – war einer der erfolgreichsten Spielfilme der Zeit, der großen Einfluss auf
das Bild von Zionismus und Israel in den Vereinigten Staaten hatte. Der Film beschreibt das
Schicksal von Holocaust-Überlebenden, die vor 1948 gegen den Widerstand der Briten in
Palästina an Land gebracht wurden und sich dem Kampf gegen die Araber anschlossen, u. a.
auch gegen die Freischärler von Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem. Gezeigt
wird explizit, wie die Holocaust-Erfahrung die Überlebenden zu besonders entschlossenen
Kämpfern gemacht hat. In einer Schlüsselszene nehmen die Freischärler Rache an Taha,
einem arabischen Dorfältesten in Galiläa. Er hatte freundschaftliche Beziehungen zu einem
benachbarten Kibbuz unterhalten. Die Anhänger des Mufti hängen seine Leiche im Dorf auf
und schneiden einen Davidstern in seine Brust. An den Dorfmauern hinterlassen sie
Hakenkreuze und die Aufschrift „Jude“.25
Die Vorstellung vom arabischen Kampf gegen den Zionismus als einen vom Antisemitismus
inspirierten genozidalen Krieg gegen Juden spiegelt sich auch in der prominenten Rolle, die
in Israel Mohammed Amin al-Husseini zugewiesen wird. Der geistige Führer der arabisch-
palästinensischen Bevölkerung der Mandatszeit, von den Briten zum „Großmufti“ ernannt,
kollaborierte mit dem faschistischen Italien und mit Nazi-Deutschland, half bei der
Rekrutierung von Moslems und verbreitete während seines Exils in Deutschland
antisemitische und antizionistische Propaganda. Nach dem Rückzug der Briten aus Palästina
versuchte er, sich dem Kampf gegen die Gründung des Staates Israels anzuschließen, er
konnte aber seine führende Position nicht mehr zurückgewinnen. Seine Rolle im Holocaust
und die Bedeutung seiner antisemitischen Überzeugungen sind heftig umstritten, vor allem
die Einschätzung, dass seine Aktivitäten während des Zweiten Weltkriegs ein Beweis für die
antisemitischen Absichten und Motive des palästinensischen Widerstandes gegen Israel seien.
2015 erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, dass Amin al-Husseinis
Treffen mit Hitler 1941 in Berlin ausschlaggebend für den Holocaust gewesen sei. Hitler habe
die Juden lediglich vertreiben wollen. Um ihre Einwanderung nach Palästina zu verhindern,
habe Amin al-Husseini Hitler vorgeschlagen, die Juden zu vernichten.26 Der Historiker Shay
Hazkani stellte fest: „Jedes Kind in Israel weiß, dass alles bereits bekannt ist, wenn es um den
berüchtigten Mufti von Jerusalem geht. Schließlich sind Amin al- Husseinis Verbindungen zu
hohen Funktionären der NSDAP und die grausame Propaganda, die er während des Zweiten
Weltkriegs im Radio verbreitete, seit nunmehr sieben Jahrzehnten die Lieblingsthemen der
israelischen Öffentlichkeitsarbeit.“27


„Israels stärkste Waffe“
Mit der „Revolution“ (Mahapach) von 1977 kam zum ersten Mal die rechtszionistische
Likud-Partei unter Menachem Begin an die Macht. Damit begann sich der Diskurs über den
Holocaust und den Konflikt mit den Palästinensern in die heute bekannte Richtung zu
entwickeln. Politiker sprachen nun fast täglich von den Lehren, die aus der Judenverfolgung
zu ziehen seien. Der Holocaust wurde zur allgegenwärtigen Metapher und diente als
wichtigste Legitimation öffentlichen Handelns gegenüber den Palästinensern, den arabischen
Ländern und im Verhältnis zur Welt.
Die Folgen der politischen Wende von 1977 für die nationale Erinnerungskultur konnte ich
selbst in der ersten Reihe miterleben. 1978 trat ich als Historiker in die israelische Armee ein
und wurde in der Abteilung „Kampftraditionen“ mit der Einführung der Materie „Holocaust
und Heldentum“ in den Schulungsplan für Rekruten und Offiziersanwärter beauftragt. Die
militärhistorische Abteilung „Kampftraditionen“ hatte bis dahin Material zur Geschichte der
israelischen Streitkräfte herausgegeben, in dem die Operationen von 1948, 1967 und 1973
ebenso wie die Aktivitäten der jüdischen Milizen vor 1948 behandelt wurden. Jetzt sollten die
Aufstände in den Ghettos und die Heldentaten jüdischer Partisanen vorrangig behandelt
werden. Diese Erweiterung der Perspektive hatte das Ziel, eine Analogie zwischen den
Aktionen der israelischen Armee und dem verzweifelten Überlebenskampf der Opfer der
Vernichtungsmaschinerie zu schaffen.28
In den ersten Jahren der Regierung Begin wurde die unbequeme und ambivalente Erinnerung
an die Judenverfolgung in ein umfassendes Holocaust-Ethos verwandelt, das die
Wehrbereitschaft von Armee und Bevölkerung festigen und das zionistische Narrativ
bekräftigen sollte. Als europäische Staaten im Juni 1980 erstmals zu Friedensverhandlungen
mit der PLO aufriefen, zu der bis dahin Kontakte tabu waren, berief sich Ministerpräsident
Begin in seiner Ablehnung auf den Holocaust: „Wir werden aufgefordert, die Arabische SS,
auch PLO genannt, in den Friedensprozess mit einzubeziehen. Diese Mörderbande hat am
Vorabend des Gipfels von Venedig ihre Absicht kundgetan, die ‚Zionistische Einheit‘, wie sie
es nennt, politisch, ökonomisch, militärisch, kulturell und ideologisch zu beseitigen. Seit
‚Mein Kampf‘ hat niemand mehr so deutlich seine Absicht erklärt, die jüdische Nation zu
vernichten.“29
In einer Stellungnahme während der Invasion des Libanon 1982 ging Begin mit identitären
Konstruktionen noch einen Schritt weiter: „Ich fühle mich wie ein Regierungschef, der seine
tapfere Armee nach Berlin führt, wo sich Hitler und seine Henker in einem Bunker tief unter
der Erde eingegraben haben. Meine Generation […] hat am Altar Gottes geschworen, dass
derjenige, der seine Absicht verkündet, den jüdischen Staat oder das jüdische Volk zu
vernichten, sein Schicksal besiegelt hat. Das, was einmal von Berlin ausging, Berlin ohne
Anführungsstriche, wird nie wieder geschehen.“30 Dieser neue Holocaust-Diskurs
beschleunigte den Prozess der Umdeutungen, die den Konflikt mit den Palästinensern um
Territorium und Souveränität dem Geschichtsraum von Judenverfolgung und Holocaust
zuordneten. Er wies zudem der arabischen-palästinensischen Seite die entscheidende
Verantwortung für den Grundkonflikt zu, indem er die Feindschaft gegenüber dem jüdischen
Staat im Antisemitismus lokalisierte.
Für den vierzigsten Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto, der am 9. April 1943
begonnen hatte, plante das israelische Kabinett ein besonderes Zeremoniell – eine
Ordensverleihung an jüdische Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Der runde Jahrestag sollte
genutzt werden, um den „jüdischen Kampf gegen die Nazis“, wie es wörtlich hieß, an der
Klagemauer zu würdigen. Die Regierung wollte diesmal jüdische Bürger anderer Staaten
ehren, Veteranen der alliierten Armeen, die gegen die Wehrmacht gekämpft hatten. Die
Abteilung „Kampftraditionen“ erhielt Anweisungen, dafür eine Reihe von Publikationen
vorzubereiten, die den gemeinsamen Kampf beschreiben sollten. Durch die Verleihung eines
Ordens der israelischen Armee sollte der „Gerechte Krieg“ gegen Nazideutschland nun ganz
in die Kampftraditionen des Staates integriert werden.
Zwanzig Jahre später, zum 60. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto, veranstaltete
die Israelische Armee wiederum eine besondere Gedenkfeier, diesmal in Auschwitz.
Auschwitz hatte für Israel nach der Öffnung Osteuropas die Funktion einer nationalen
10Gedenkstätte angenommen, eines heiligen Ortes, an dem bedeutende zivile und militärische Zeremonien abgehalten werden konnten. Die Gelegenheit zum besonderen militärischen Gedenkakt 2003 ergab sich durch eine Einladung der polnischen Luftwaffe zu einem Treffen auf dem Luftwaffenstützpunkt Radom, bei der Piloten aus aller Welt ihre Flugkunst samt der Waffentechnologien zur Schau stellen sollten. Israel kündigte die Entsendung einer Staffel von Kampfjets des Typs F-15 an. Sie sollten neben der Teilnahme an der Luftshow auch das Lager Auschwitz überfliegen.31
Der Leiter des israelischen Kontingents, Brigadegeneral Amir Eshel, gab in einem
Zeitungsinterview kurz vor dem Abflug nach Polen Ende August 2003 die Pläne der Luftwaffe
bekannt: „Wir werden in Auschwitz einen zeremoniellen Überflug abhalten und dabei Israels
stärkste Waffe an dem Ort präsentieren, an dem das jüdische Volk seine schrecklichste
Tragödie erlebt hat. Das wird in einer eindrucksvollen Weise symbolisch zeigen, woher wir
kommen und wohin wir gehen.“ Damit gab Eshel zu erkennen, welche Funktion dem
Holocaust in der zionistischen Sichtweise zugewiesen wurde – der Niederlage von Auschwitz
folgen Sieg und Triumph des jüdischen Volkes in Israel. Der Einsatz israelischer Kampfjets
über Auschwitz stellt den vorläufigen Höhepunkt im Prozess der Transformation des
Konfliktes in jenen mythischen Geschichtsraum dar, in dem die jüdische Nation immerfort
gezwungen ist, sich gegen seine Erzfeinde zu wehren.32
Aus den Gedenkfeiern und der Einführung der Thematik „Holocaust und Heldentum“ in den
Schulungsplan für Rekruten und Offiziersanwärter sollten Soldaten das Selbstbild von starken
und stolzen Israelis schöpfen, die im gerechten Kampf gegen überlegene Kräfte schließlich
triumphieren. Allgemeine Erziehungsziele, die aus der Holocaust-Erinnerung hätten
abgeleitet werden können, wie Toleranz, Stärkung demokratischer und humanistischer
Gesinnung, Ablehnung von Nationalismus und Militarismus, galten nicht als opportun. Auch
die menschliche Identifikation mit den Opfern und die Förderung von Solidaritätsgefühlen
mit anderen verfolgten Minderheiten, Grundelemente der in der Diaspora gepflegten
Gedenkkultur, passten nicht in das Schema. Erst in den späten 1980er-Jahren, als das
unmenschliche Verhalten einzelner Soldaten in den besetzten Gebieten während der „Ersten
Intifada“ Anlass zur Sorge gab, fand ein Sinneswandel hinsichtlich dieses Holocaust Redux
statt. Erziehungsoffiziere erkannten, dass diese Instrumentalisierung der Holocaust-
Erinnerung auch zur Identifizierung mit den Tätern führen konnte. So bestand nach Ansicht
mancher Offiziere im Erziehungskorps eine direkte Verbindung zwischen den Ausschreitungen gegenüber palästinensischen Zivilisten und der Einführung völlig
deplatzierter, ethisch verarmter Holocaust-Mythen, die in den späten 1970er-Jahren
verbreitet worden waren. Wenn im Kampf gegen das absolut Böse alle Mittel geheiligt werden
und die palästinensische Bevölkerung als dessen neueste Inkarnation dargestellt wird, können
Exzesse nicht ausbleiben.33


Eine Annäherung der Narrative
Mit der Eröffnung israelischer Archive für die Periode 1947–1949 begann Ende der 1980er-
Jahre ein neues Kapitel im Konfliktverständnis. Historiker wie Benny Morris, Ilan Pappe, Avi
Shlaim and Simha Flapan revidierten das Bild der zionistischen Politik, der Vertreibungen
und des Krieges von 1948 und sorgten für eine begrenzte Enttabuisierung dieser Themen in
der Öffentlichkeit. Die Öffnung der Archive ging auch mit einer politischen Öffnung einher.
1991 brachte die Konferenz von Madrid zum ersten Mal Vertreter Israels und der
palästinensischen Seite zusammen. 1993 folgte in Israel ein kurzes Interregnum der
Arbeitspartei, in das die Initiative zum Friedensprozess von Oslo fiel. Die arabischen
Nachbarn und die PLO durften, wollte man mit ihnen Frieden schließen, nicht länger als das
absolut Böse dargestellt werden.
Die Annäherung in der Interpretation der Ereignisse 1947–1949 führte nicht zu einer
umfassenderen Versöhnung der politisch-historischen Standpunkte. Immerhin konnten
Israelis nun von Massakern und Vertreibungsmaßnahmen der Hagana und der IDF während
der Auseinandersetzungen vom November 1947 bis Ende 1948 Kenntnis nehmen und vom
Wunsch der zionistischen Führung, die nichtjüdische Bevölkerung zu „transferieren“. Auch
in israelischen und palästinensischen Schulbüchern kam ein neuer Ton auf: „Wir beginnen
eine neue Ära im Geschichtsunterricht, in der zum ersten Mal in israelischen Schulbüchern
das Bild nicht mehr schwarz-weiß ist und die palästinensische Perspektive einbezogen wird“,
erklärte ein hoher Beamter des israelischen Erziehungsministeriums 1999.34
Diese Entwicklungen bedeuteten nicht, dass der Konflikt in einem wichtigen Bereich
entmythologisiert wurde: dem kolonialen Ursprung und Kontext des zionistischen Projekts.
Die politische wie die historiografische Diskussion beschränkte sich auf die
Kriegshandlungen, auf die Vorbereitungen, Nachwirkungen und Motive. Der Historiker
Benny Morris gab mit seiner Analyse der politischen und militärischen Quellen in Israel 1987
den Startschuss für die Debatte,35 setzte mit seinem Buch zur „Entstehung des
Flüchtlingsproblems“ aber auch den sehr begrenzten Rahmen und den Ton. Vertreibungen
seien Teil des Krieges: „Ohne den Krieg von 1948 keine Nakba“.36 Einige Jahre später
bezeichnete Morris in einem Interview die Vertreibungen als notwendigen Schritt zur
Errichtung des Staates und die Palästinenser als Barbaren: „Wenn man es mit einem
Serienmörder zu tun hat, ist es nicht so wichtig herauszufinden, warum er zum Serienmörder
wurde. Wichtig ist, den Mörder einzusperren oder hinzurichten.“37
Die israelische Perestroika dauerte weniger als zehn Jahre und endete mit dem Scheitern der
Verhandlungen zwischen den USA, Israel und der PLO und dem Ausbruch der „Zweiten
Intifada“ im Herbst 2000. Die fünf Jahre andauernden Gewaltexzesse beider Seiten hatten
erhebliche politische Folgen. Die zionistische Rechte brandmarkte den Friedensprozess, der
1993 in Oslo begonnen hatte, als von Anfang an illusorisch und brach die Gespräche mit der
gemäßigten Führung der Palästinenser ab. Wiederum spielte die Gewalt der
palästinensischen Seite eine legitimierende Rolle. Sari Nusseibeh, selbst Zeuge der „Zweiten
Intifada“ in Ramallah, schrieb dazu: „Gewalt war der Schlüssel. Israel setzt Gewalt oft als
taktisches Mittel ein, um eine gewalttätige Reaktion zu provozieren, die es dann als Vorwand
für weitere Gewalt zur Verfolgung seiner politischen Ziele nutzte. Die israelischen Führer
wollten den Eindruck erwecken, es handle sich um einen Kampf auf Leben und Tod gegen
eine Bande skrupelloser Terroristen […], die sich der völkermörderischen Zerstörung des
jüdischen Staates verschrieben hatten. […] Oft schien es, als bekämpfe die israelische
Militärbesatzung den Terror nur, um ihn zu fördern, denn ihre wahren Feinde waren
Gemäßigte. So entstand die Strategie, Gemäßigte für die Taten von Extremisten
verantwortlich zu machen, sie zu zerschlagen und die Extremisten in Ruhe zu lassen, nur für
den Fall, dass sie sie als Vorwand brauchten, um die nächste Generation Gemäßigter zu
zerschlagen.“38


„Der Nakba-Tag ist ein Tag der Delegitimierung“
Die Diskussion um den Charakter der Nakba in den zehn Jahren der israelischen Perestroika
produzierte nicht nur Verständnis für die palästinensische Sache, sondern auch das
Gegenteil. Im rechten Spektrum zionistischer Politik, die auf die völlige Einverleibung der
Westbank und des Gazastreifens zielte sowie auf die völlige Verdrängung der Palästinenser,
wurden alle Manifestationen palästinensischen Unabhängigkeitsstrebens zur „Quintessenz
des Bösen“ erhoben: „Logisch betrachtet, erzeugt der Manichäismus des Siedlers einen
Manichäismus der Einheimischen. Auf die Theorie des ‚absoluten Bösen des Einheimischen‘
antwortet die Theorie des ‚absoluten Bösen des Siedlers‘, hatte Frantz Fanon über diese
Dynamik geschrieben.39 Die rechten und rechtsextremen Parteien, die ab 2000 die israelische
Politik dominierten, ordneten nun fast alle Kritik am militärischen Vorgehen Israels und
Sympathien für die palästinensische Sache diesem Dualismus von Gut und Böse zu. Die
Zweite Intifada, die etwa 5000 Palästinensern und 1400 Israelis das Leben kostete, führte so
zu einer weltweiten Mobilisierung im Kampf gegen den Antisemitismus.
Die Kampagne, die der Logik des „Kriegs gegen die Juden“ folgte, war gegen den „neuen“
oder „israelbezogenen“ Antisemitismus gerichtet. Damit war insbesondere die Vorstellung
von Israel als dem „Juden der Welt“ gemeint,40 die sich im öffentlichen Diskurs über den
Nahostkonflikt überall zu manifestieren schien. Um antisemitische Äußerungen über Israel
von „legitimer“ Kritik zu unterscheiden, schlug der israelische Politiker Natan Sharansky drei
Kriterien vor, mit denen sich der antisemitische Gehalt identifizieren lasse: Dämonisierung,
Doppelstandards und Delegitimierung. „Seit Jahrhunderten ist die Anwendung von
Doppelstandards ein klares Zeichen für den antisemitischen Impuls“, schrieb Sharansky 2003.
„Soziales Verhalten, das bei anderen unkommentiert oder nur mit milden Fragen bedacht
wird, wird bei Juden zum Vorwand für eine pauschale Denunziation. Solche Doppelstandards
werden heute rücksichtslos gegenüber dem jüdischen Staat angewendet.“41
Die drei Kriterien des „3D-Tests“ waren ausreichend subjektiv, um fast jede Kritik an der
israelischen Politik zu desavouieren. Wer seine Kritik übertrieb, andere nicht im gleichen
Maße kritisierte oder das „Recht“ auf einen Staat zionistischer Prägung in Zweifel zog, konnte
als „Antisemit“ abgestempelt werden. Die Kriterien flossen u. a. in die „Arbeitsdefinition
Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ein. Die
Abwehrstrategie war nicht nur auf das ferne Ausland gerichtet. Auch zentrale
palästinensische Narrative gerieten in den Bannstahl des Antisemitismusvorwurfs: „Die
Beschreibung des Zionismus und der Gründung Israels als koloniale Verschwörung […] und
die Behauptung, dass Israel während des Krieges 1948 eine vorsätzliche ‚ethnische Säuberung‘
oder einen ‚Völkermord‘ an der palästinensischen Bevölkerung durchgeführt habe“, wurden
nun auch dem „neuen Antisemitismus“ zugerechnet.42
Im Januar 2011 veröffentliche der Fernsehsender Al Jazeera Material über den israelisch-
palästinensischen Friedensprozess (die „Palestine Papers“) mit fast 1700 Dokumenten des
PLO-Chefunterhändlers Saeb Erekat.43 Sie zeigten, dass die Verhandlungen mit der Regierung
Olmert/Livni 2008 sehr konkrete Fortschritte gemacht hatten. Ehud Olmert erklärte 2011,
dass es hinsichtlich der Flüchtlingsfrage und der verschiedenen Geschichtsauffassungen
möglich gewesen sei, „eine Formel zu finden, die jeder Seite ihre eigene Interpretation
erlaubt“. Israel habe sich sensibel gezeigt gegenüber dem „Leid der Palästinenser, die im
heutigen Israel gelebt haben und infolge des Konflikts aus ihren Häusern vertrieben
wurden“.44 Tzipi Livni, die 2008 als Ministerpräsidentin folgte, stellte fest: „Der
Friedensprozess ist nicht gescheitert, und er ist nicht erschöpft. Er […] konnte aufgrund der
Wahlen nicht bis zu einer Einigung reifen.“45 Netanjahu, der ab 2009 die neue Regierung
führte, entschied sich, den Friedensprozess nicht fortzusetzen.
Die potenziellen Gefahren, die von einer Legitimierung des palästinensischen Nakba-
Narrativs ausgingen, waren Anhängern rechts-zionistischer Ideen vollkommen bewusst: „Die
Nakba ist das Herzstück der rückwärtsgewandten nationalen Erzählung der Palästinenser, die
die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 als Erbsünde darstellt, die zur Enteignung der
ursprünglichen Einwohner des Landes führte“, fasste Sol Stern in der Zeitschrift des
konservativen Manhattan Institute das Problem unter dem Titel „Das palästinensische
Narrativ ist das größte Hindernis für den Frieden“ zusammen. „Eine internationale Koalition
von Linken spiegelt diese Nakba-Erzählung und feiert die Palästinenser […] als die letzten
Opfer [des] westlichen Rassismus und Kolonialismus.“46
Die Regierung Netanjahu wollte es nicht bei Worten belassen. Um die Verortung des
Konflikts im „westlichen Rassismus und Kolonialismus“ wirksam zu bekämpfen, waren
staatliche Maßnahmen nötig. Anfang 2011 trat Änderungsantrag 40 des
Haushaltsgrundsatzgesetzes in Kraft. Die als „Nakba-Gesetz“ bekannte Gesetzesnovelle
ermächtigte den Finanzminister, staatliche Mittel für Aktivitäten zu kürzen, die den
„Grundsätzen des Staates“ zuwiderliefen, darunter die „Ablehnung der Existenz des Staates
Israel als jüdischer und demokratischer Staat“ und das „Gedenken am Unabhängigkeitstag
oder am Tag der Staatsgründung als Trauertag“47 Damit war der „Nakba-Tag“ gemeint, an
dem die palästinensische Gemeinschaft in Israel und in der Diaspora am 15. Mai, dem
Jahrestag der Staatsgründung, der Katastrophe von 1948 gedenkt.
Das Gesetz führte zur Selbstzensur bei Schulen, Gemeinderäten, Bildungs- und
Kulturinstitutionen und anderen staatlich geförderten Organisationen. „Selbst die bloße
Erwähnung des Ereignisses könnte zu einer Kürzung der Haushaltsmittel führen“, warnten
zwei israelische Menschenrechtsorganisationen und sahen die Meinungsfreiheit und den
demokratischen Diskurs in Israel beeinträchtigt.48 Die Wirkung der staatlichen Kampagnen
blieb nicht aus. Eine 2014 veröffentlichte Studie über die Darstellung der Nakba in den fünf
größten israelischen Tageszeitungen kam zu dem Ergebnis, dass „selbst die Erinnerung an die
Nakba für die israelischen Medien eine Bedrohung darstellt“. Israels Mainstream-Medien
hielten an der offiziellen Geschichtsversion fest, sie „schieben die volle Verantwortung für die
Tragödie von 1948 der palästinensischen Führung zu und sprechen Israel damit von jeglicher
Verantwortung […] frei“. In den Medien herrsche die Meinung vor, dass die Erinnerung an
die Nakba gefährlich sei und darauf abziele, Israel zu delegitimieren.49
Da bereits die Erinnerung als eine existenzielle Bedrohung des Staates Israel wahrgenommen
wurde, konnte sie auch als ein Aufruf zur Gewalt gesehen werden. „Der Nakba-Tag ist in
Wirklichkeit ein Tag der Delegitimierung. Er legt den ideologischen Grundstein dafür, uns
als ‚legitime Ziele der Gewalt‘ zu brandmarken“, schrieb die Jerusalem Post am Vorabend des
Nakba-Tages 2015. Zum Artikel veröffentlichte die Zeitung ein Foto von Amin al-Husseini,
wie er 1943 bosnische Freiwillige der Waffen-SS inspiziert und den Arm zum Hitler-Gruß
erhebt.50
Sechs Jahre nach der Veröffentlichung der Studie über das Bild der Nakba in den israelischen
Medien meldete sich 2021 einer der Autoren, der Tel Aviver Politologe Amal Jamal, noch
einmal mit einer Studie über die Nakba in den Lehrplänen der israelischen Oberschulen zu
Wort. In Jerusalem war zu diesem Zeitpunkt eine Koalition aus Oppositionsparteien an der
Macht, darunter zum ersten Mal auch eine israelisch-palästinensische Partei. Jamal stellte
fest, dass im Frühjahr 2021 erstmals eine Frage zur Nakba Teil der Abschlussprüfung gewesen
sei. Trotz dieser kleinen Veränderungen werde in der Öffentlichkeit und im Schulsystem die
ethnische Säuberung und die Entstehung des Flüchtlingsproblems weiterhin kaum
thematisiert. Der bescheidene Wandel stelle den hegemonialen Diskurs nicht infrage. Jamal
führte die geringen Fortschritte auf die staatliche Kampagne zur Unterdrückung des Nakba-Tages, die Tabuisierung der palästinensischen Nationalfrage und die Feindseligkeit gegenüber
palästinensischen Anliegen zurück.
„Ein Blick auf die Inhalte der Geschichtsbücher […] macht deutlich, dass die Nakba als
bedeutendes Ereignis, das aktuelle Auswirkungen auf das tägliche Leben von Millionen
Israelis und Palästinensern hat, kaum erwähnt wird. Der Krieg von 1948 […] wird aus
israelischer Perspektive unterrichtet, die dem israelischen Narrativ eines ‚gerechten Krieges‘
und dem Mythos der ‚Wenigen gegen die Vielen‘ entspricht. Zwar stehen mehrere
Geschichtsbücher für den Unterricht zur Verfügung, aber keines darf die Nakba direkt
behandeln. Bücher, die dies in der Vergangenheit taten, wurden wegen ‚Fehlinformationen‘
zurückgerufen. […] Wo die Nakba erwähnt wird, wird sie als Teil des
Unabhängigkeitskrieges […] und Folge der militärischen Niederlage der Araber dargestellt.
“ Jamal kommt zu der Schlussforderung, dass „eine weitere Generation von Schülern […] mit
dem hegemonialen israelischen Moraldiskurs aufwachsen [wird], der die historischen
Ereignisse verzerrt und leugnet“.51


„Zwei Millionen Nazis direkt hinter dem Zaun“
Mit dem beispiellos brutalen Angriff auf israelische Grenzgemeinden am 7. Oktober 2023
und der erbarmungslosen israelischen Vergeltung öffnete sich der manichäische Raum des
Kampfes des Guten gegen das Böse erneut. Im Januar 2024 berichtete der monatliche
„Friedensindex“ der Universität Tel Aviv, dass über 90 Prozent der jüdischen Israelis der
Meinung waren, Israel würde im Gazastreifen entweder richtig handeln oder ein zu geringes
Maß an Gewalt anwenden. 87 Prozent rechtfertigten die Zahl der palästinensischen Opfer.
Auf palästinensischer Seite war das Bild ähnlich. Einer Umfrage des Forschungszentrums
Arab World Research and Development (AWRAD) vom Oktober 2023 zufolge unterstützten
Dreiviertel der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland die „Militäroperation“
der Hamas (so die Fragestellung). In einer im Dezember vom Palestinian Center for Policy
and Survey Research durchgeführten Umfrage hielten 72 Prozent den Angriff der Hamas für
„richtig“.52
In der israelischen Öffentlichkeit wurden die israelischen Opfer als „Juden“ und die
Gewalttaten als schlimmstes „Pogrom“ seit dem Holocaust dargestellt. Palästinenser seien „zum Hass prädestiniert“, und ihr Ziel sei der Völkermord. Dieser Sicht des Konflikts wurde
kaum widersprochen. Der Bezug auf die Holocaust-Erinnerung wurde auch von Kritikern
übernommen. „Benjamin Netanjahu hat während seiner gesamten politischen Karriere die
Erinnerung an den Holocaust auf irreführende und manipulative Weise genutzt. Er versprach
den Israelis, eine Wiederholung der größten Katastrophe in der Geschichte des jüdischen
Volkes könne nur verhindert werden, wenn sie ihn immer wieder wählen würden. Jahr für
Jahr verband er in Reden und Erklärungen seine Machtposition mit den Worten ‚Nie wieder‘.
[…] Unter seiner Herrschaft haben die Israelis jetzt Erfahrungen gemacht, die dem Holocaust
ähneln.“53 Der Verweis auf den Nationalsozialismus fand auch im Ausland Zustimmung.
Nach einem Treffen mit Vertretern der neuen Trump-Regierung Anfang 2025 fasste der
israelische Finanzminister Bezalel Smotrich die Meinung der US-Beamten so zusammen:
„Wir werden nicht zulassen, dass zwei Millionen Nazis direkt hinter dem Zaun leben.“54
Dieses Narrativ verstärkte die Wirkung der ohnehin schockierenden und auch Beobachter
traumatisierenden Ereignisse. Die Gleichsetzung der Verfolgungserfahrungen von Juden in
der Diaspora mit den Konflikterfahrungen von Israelis wirkte in Israel radikalisierend, in der
Diaspora weckte sie vor allem Ängste. Sie untergrub zudem das Verhältnis zur nichtjüdischen
Umgebung. Das Resultat machte sich u. a. Ende 2024 in Amsterdam bemerkbar.
Am 6. und 7. November 2024 besuchten mehrere Hundert Israelis ein Fußballspiel zwischen
Maccabi Tel Aviv und Ajax in Amsterdam. Die jüdische Gemeinschaft der Stadt gedachte zu
diesem Zeitpunkt des Pogroms vom November 1938, dessen Opfer zu Zehntausenden in die
Niederlande geflüchtet waren. Schon in der ersten Nacht kam es zu Zwischenfällen zwischen
den Fußballfans aus Tel Aviv und einigen Bewohnern der Stadt. Nach dem Ende des
Fußballspiels am 7. November eskalierte die Gewalt. Dutzende israelische Fans wurden in der
Innenstadt verfolgt und zusammengeschlagen. Die Amsterdamer Bürgermeisterin berichtete
zwei Tage später an den Stadtrat: „Mehrere Menschen wurden verletzt, fünf von ihnen
wurden im Krankenhaus behandelt. Sie haben das Krankenhaus inzwischen verlassen.
Zwanzig bis dreißig israelische Fans mit leichten Verletzungen wurden von der jüdischen
Gemeinde aufgenommen. […] Am frühen Freitagmorgen wurde bekannt, dass Israel zwei
Flugzeuge in die Niederlande schicken werde, um die Israelis abzuholen und dass sich
Vertreter der israelischen Regierung und der Sprecher der Knesset an Bord befinden.“55
App-Gruppen der jüdischen Gemeinschaft von Amsterdam schlugen gleich in der Nacht des
Fußballspiels Alarm. Juden würden durch die Stadt gejagt, hieß es, und bräuchten Hilfe. Jüdische Bürger der Stadt stiegen in ihre Autos, um die Fans zu suchen und sie in Sicherheit
zu bringen. Schon in der Nacht tauchten Bezeichnungen wie „Pogrom“, „Judenhetze“ und
„Kristallnacht“ auf. Am Morgen des 8. November erklärte Ministerpräsident Netanjahu in
Jerusalem, dass sich am Jahrestag des Novemberpogroms „auf den Straßen Amsterdams“ die
„Kristallnacht“ wiederholt habe. „Vor 86 Jahren hat die Kristallnacht stattgefunden, als Juden
auf europäischem Boden angegriffen wurden, weil sie Juden waren. Dies hat sich nun erneut
ereignet.“56
Die Mobilisierung der jüdischen Diaspora im Kampf gegen den „neuen Antisemitismus“
zeigte Wirkung, erwies der Diaspora aber auch einen Bärendienst. Politische Parteien, die den
Islam als Gefahr darstellen und in Israel und Juden Bundesgenossen sehen, bereiten der
israelischen Hasbara den Weg für eine brisante politische Konstellation. Der „neue
Antisemitismus“ hatte eine Perspektive geschaffen, in der die Grenzen zwischen Israel und
der Diaspora verwischt waren. Jüdische Gemeinschaften wurden nun regelmäßig verdächtigt,
Komplizen israelischer Politik zu sein und gegenüber Moslems Vorurteile zu hegen.57


Zurück zum Ausgangspunkt. Außenministerin Rice sagte im Juli 2008: „Verantwortung, das
ist ein befrachteter Begriff. Ich habe ihn immer abgelehnt; er ist nicht zukunftsorientiert.“
Ohne eine gemeinsame Sicht auf die Vergangenheit ist eine gemeinsame Zukunft allerdings
kaum denkbar. Die israelische Dekontextualisierung des Konflikts stand in den fast acht
Jahrzehnten seit 1948 im Zeichen verschiedener Themen – von Antisemitismus und
Judenverfolgung bis zum „Kampf der Kulturen“. In Momenten der politischen Annäherung
kam es zu einer zeitweisen Annäherung der historischen Sichtweisen, aber die Tabuisierung
des kolonialen Kontextes und die Ablehnung jeglicher Verantwortung blieben unverändert.
Die Dekontextualisierung wurde dabei zunehmend zum Instrument der Groß-Israel-Politik,
die am Mythos vom biblischen Anspruch auf die alte Heimat festhalten wollte – die völlige
Übernahme Palästinas und die Verdrängung der Palästinenser. Aber auch über diese direkten
politischen Ziele hinaus bildete der koloniale Kontext des zionistischen Traumes und seiner
Verwirklichung weiterhin eine so große Herausforderung, dass allein schon eine offene
Diskussion des Themas den Staat und seine Gesellschaft zu gefährden schien.

Eine Entmythologisierung der Entstehungsgeschichte Israels bleibt nicht nur dringend nötig,
sie ist auch möglich, ohne dass der Staat dabei „delegitimiert“ wird. Sollte das Argument der
„Delegitimierung“ nicht nur propagandistische Ziele beinhalten, liegt eine Lösung nahe. So
unterschiedliche Beispiele wie Nordirland oder Südafrika zeigen, dass im kolonialen Kontext
entstandene Staaten durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen
eine neue, gemeinsame Basis finden können. Dazu bedarf es der Versöhnung. Der Wunsch
nach Anerkennung der Verantwortung und Bestätigung des eigenen Leids ist allen Opfern
von Gewalt und Unrecht gemein. In Deutschland wurde diesem Wunsch der Juden durch
öffentliche Schuldbekenntnisse und Entschädigungsmaßnahmen zum großen Teil
entsprochen. Die anhaltenden Verdrängungsbestrebungen der israelischen Gesellschaft
deuten allerdings darauf hin, dass ähnliche Bedürfnisse der Palästinenser in absehbarer Zeit
nicht erfüllt werden.


1 https://www.aljazeera.com/news/2011/1/23/introducing-the-palestine-papers.
– Die Weblinks in diesem Beitrag wurden zuletzt am 24. 5. 2025 aufgerufen und geprüft.
2 Abba Eban, Dies ist mein Volk, Zürich 1970, S. 733, 744.
3 Progress Report of the United Nations Mediator on Palestine (A/648) Paris 1948, S. 48,
https://unispal.un.org/pdfs/AB14D4AAFC4E1BB985256204004F55FA.pdf.
4 Vgl. Henry Cattan, To Whom Does Palestine Belong?, Beirut 1967; ders., Palestine, The Arabs and Israel, London 1969.
5 Eban, Dies ist mein Volk, S. 738.
6 B. Michael, The Gaza War Is Yet Another Self-made, Inescapable Israeli Imbroglio, in: Haaretz,11. 12. 2023, https://www.haaretz.com/opinion/2023-12-11/ty-article-opinion/.premium/the-gaza-war-is-yet-another-self-made-inescapable-israeli-imbroglio/0000018c-5a10-d7d7-abce-7fd6e0ba0000.
7 Ilan Pappe, Ten Myths about Israel, London 2017, S. 56 ff.
8 Jalal Al Husseini, The Arab States and the Refugee Issue: A Retrospective View, in: Eyal
Benvenisti/Chaim Gans/Sari Hanafi (Hrsg.), Israel and the Palestinian Refugees, Berlin/Heidelberg 2007.
9 Edward W. Said, The Question of Palestine, New York 1979, S. 69, 28.
10 Progress Report of the United Nations Mediator on Palestine (A/648) Paris 1948, S. 57.
11 Ebenda, S. 26.
12 Shay Hazkani, Political Indoctrination of Soldiers in the IDF, 1948–1949, in: Israel Studies Review 30
(Summer 2015) 1, S. 20–41.
13 Shay Hazkani, Dear Palestine: A Social History of the 1948 War, Stanford 2021.
14 Shay Hazkani. Who’s Afraid to Reveal the Palestinian „Secrets“ of 1948?, in: Haaretz, 4. 12. 2022, https://www.haaretz.com/opinion/2022-12-04/ty-article-opinion/.highlight/whos-afraid-to-reveal-the-palestinian-secrets-of-1948/00000184-dc86-d305-adae-dfffa17a0000.
15 Erskine Childers, The Other Exodus, in: The Spectator Magazine, 12. 5. 1961,
https://archive.spectator.co.uk/article/12th-may-1961/9/the-other-exodus.
16 Arthur Ruppin. Tagebücher, Erinnerungen, Briefe. Hrsg. v. Schlomo Krolik, Königstein/Ts. 1985, S. 313.
17 Ebenda, S. 322 ff.
18 Vladimir Jabotinsky The Ethics of the Iron Wall (russ.), 1923, engl. Übersetzung; Typoskript, Jabotinsky Institute, Tel Aviv, https://en.jabotinsky.org/archive/search-archive/item/?itemId=158379.
19 Albert Memmi, The Colonizer and the Colonized, London 2003, S. 129.
20 Sari Nusseibeh, Once upon a country. A Palestinian Life, New York 2007, S. 206.
21 Ilan Pappe, The Idea of Israel. A History of Power and Knowledge, London 2014, S. 41 ff.
22 Said, The Question of Palestine, S. 38.
23 Pappe, The Idea of Israel, S. 50. Siehe für eine Zusammenfassung der Handlung und den Monolog des Obersturmführers: https://moviecrashcourse.com/2020/08/13/hill-24-doesnt-answer-1955/.
24 Pappe, The Idea of Israel, S. 49.
25 Vgl. den Wikipedia-Artikel „Exodus“, https://en.wikipedia.org/wiki/Exodus_(1960_film)#cite_ref-31.
26 Zur Rolle des Mufti ist eine umfangreiche Literatur erschienen. Die Äußerung Netanjahus ist u. a. hier zu finden: https://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-4714313,00.html.
27 Hazkani, Who’s Afraid to Reveal the Palestinian „Secrets“ of 1948?
28 Daniel Cil Brecher, Fremd in Zion, München 2005, S. 227 ff.
29 Vgl. Tom Segev, The Seventh Million, New York 2000, S. 399 ff.
30 Vgl. ebenda und Associated Press 1982.
31 Vgl. Daniel Cil Brecher, Die unverträgliche Erinnerung. Holocaust und kollektive Identitäten in Deutschland und Israel, in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 12 (2012) 1.
32 Ebenda.
33 Vgl. Cil Brecher, Fremd in Zion, S. 227 ff.
34 Israel’s History Textbooks Replace Myths With Facts, in: The New York Times, 14. 8. 1999,
https://www.nytimes.com/1999/08/14/world/israel-s-history-textbooks-replace-myths-with-facts.html.
35 Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949, Cambridge 1987.
36 Vgl. die umfangreiche Diskussion u. a. in Eugene L. Rogan/Avi Shlaim (Hrsg.), The War for Palestine. Rewriting the History of 1948, Cambridge 2001. Das Zitat entstammt einem Gespräch von Benny Morris mit dem Autor.
37 Interview mit Benny Morris in: Ari Shavit, Survival of the Fittest, in: Haaretz, 8. 1. 2004,
https://www.haaretz.com/2004-01-08/ty-article/survival-of-the-fittest/0000017f-e874-dc7e-adff-f8fdc87a0000.
38 Sari Nusseibeh, Once upon a Country, New York 2008, S. 206 f.
39 Frantz Fanon, The Wretched of the Earth, New York 1963, S. 93.
40 Vgl. Brian Klug, Die Sicht auf Israel als „Jude der Welt“, in: John Bunzl/Alexandra Senfft (Hrsg.), Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost, Hamburg 2008, S. 75 ff.
41 Natan Sharansky, On Hating the Jews, in: Commentary, November 2003,
https://www.commentary.org/articles/natan-sharansky-3/on-hating-the-jews.
42 Gil Murciano, Unpacking the Global Campaign to Delegitimize Israel, in: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Research Paper 7, Berlin 2020, S. 19.
43 https://www.aljazeera.com/news/2011/1/23/introducing-the-palestine-papers.
44 Bernard Avishai, A Plan for Peace That Still Could Be, in: The New York Times Magazine, 7. 2. 2011, https://www.nytimes.com/2011/02/13/magazine/13Israel-t.html.
45 Livni: „Palestine Papers“ show peace process is not over, in: The Jerusalem Post, 24. 1. 2011,
https://www.jpost.com/diplomacy-and-politics/livni-palestine-papers-show-peace-process-is-not-over.
46 Sol Stern, The Nakba Obsession, in: City Journal, Summer 2010, https://www.city-
journal.org/article/the-nakba-obsession.
47 Vgl. Adalah. The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel, in: „Nakba Law“ – Amendment No. 40 to the Budgets Foundations Law, https://www.adalah.org/en/law/view/496#:~:text=The%20“Nakba%20Law”%20authorizes%20the,“Jewish%20an
d%20democratic%20state.
48 Association for Civil Rights in Israel, „The Nakba Law“ and its Implications, 15. 5. 2011,
https://law.acri.org.il/en/2011/05/15/“the-nakba-law”-and-its-implications.
49 Vgl. Oren Persico, For Israeli Media, Even the memory of the Nakba poses a threat, in: +972 Magazine, 18. 12. 2014, https://www.972mag.com/for-israeli-media-even-the-memory-of-the-nakba-poses-a-threat.
50 Sarah Honig, Another tack: A delegitimization called Nakba, in: The Jerusalem Post, 14. 5. 2015, https://www.jpost.com/opinion/another-tack-a-delegitimization-called-nakba-403108.
51 Amal Jamal, The Nakba in Israeli Public Discourse and School History Curriculum, Arab Center Washington DC, 17. 11. 2021, https://arabcenterdc.org/resource/the-nakba-in-israeli-public-discourse-and-school-history-curriculum.
52 Für eine Übersicht der Meinungsforschung zum Gaza-Krieg vgl. u. a. Dahlia Scheindlin, Palestinians Are Souring on Hamas, in: Haaretz, 30. 12. 2024, https://www.haaretz.com/israel-news/2024-12-30/ty-article-magazine/.premium/palestinians-are-souring-on-hamas-and-they-want-an-end-to-the-war/00000194-18c8-d468-a7b5-99fc12570000.
53 Amir Tibon, In Netanyahu’s Israel, the words „never again“ have lost all meaning, in: Haaretz, 8. 2. 2025, https://www.haaretz.com/israel-news/haaretz-today/2025-02-08/ty-article/.highlight/in-netanyahus-israel-the-words-never-again-have-lost-all-meaning/00000194-e5d7-dc45-a79c-edff61350000.
54 Israel’s far right says new office to oversee mass transfer of Gazans, in: The Washington Post, 9. 3. 2025, https://www.washingtonpost.com/world/2025/03/09/gaza-displacement-israel-trump.
55 Femke Halsema, Geweld in Amsterdam rondom wedstrijd Ajax-Maccabi Tel Aviv, in: Raadsbrief, 11. 11. 2024, S. 7.
56 Netanyahu: 86th anniversary of Kristallnacht „marked on the streets of Amsterdam“, in: The Times of Israel, 8. 11. 2024, https://www.timesofisrael.com/netanyahu-86th-anniversary-of-kristallnacht-marked-on-the-streets-of-amsterdam.
57 Siehe z. B. zur Situation im Vereinigten Königreich: David Feldman/Ben Gidley/Brendan McGeever, Facing antisemitism: the struggle for safety and solidarity, London 2025.

Bürgerrechte, Gruppenidentität und Demokratie in Israel

In Publikationen on Januar 24, 2022 at 12:41 pm

Veröffentlicht in Essay und Diskurs, Deutschlandfunk 05.12.2021

Der politische Charakter des Staates Israel ist schwer zu fassen. „Die einzige Demokratie im Nahen Osten“, „Apartheidstaat“, „Ethnokratie“, „Nationalstaat der Juden“. Diese Floskeln entstammen dem Grabenkrieg des israelisch-palästinensischen Konflikts aber enthalten alle ein Körnchen Wahrheit. Eine in Israel gerne gebrauchte Formel spricht vom Staat als „jüdisch“ und „demokratisch“, zwei Attribute, die sich nach mehrheitlicher Meinung in Israel nicht ausschließen. Die Spannung zwischen dem universalistischen Anspruch von „demokratisch“ und der ethnischen Bestimmung „jüdisch“ ist allerding nicht zu übersehen. 

Die Bestimmung „jüdisch“ ist keineswegs eindeutig aber impliziert „nichtjüdisch“, eine ebenso wenig deutliche Klasse von Menschen und Kulturen. Aus diesen in erster Linie politisch-affektiven Differenzierungen entstand in Israel eine Grundordnung, in der die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – jüdisch, palästinensisch, religiös, säkular – institutionalisiert ist. Gruppen unterliegen ihrem eigenen Familienrecht, sind getrennten Schulsystemen zugeordnet und unterscheiden sich im Zugang zur Staatsbürgerschaft und Einwanderung. Neben diesen gesetzlichen Unterscheidungen laufen andere, ebenso folgenschwere Trennlinien durch die Gesellschaft. 

Die Formulierung „jüdisch“ und „demokratisch“ tauchte verfassungsrechtlich 1985 in einer Reihe von neuen Grundgesetzen auf. Sie sollten fast 40 Jahre nach Staatsgründung die bürgerlichen Grundrechte und demokratische Prozeduren neu beschreiben. Die Unabhängigkeitserklärung von 1948, die bis dahin als Richtschnur galt, hatte nicht von Demokratie, sondern nur vom „jüdischen Staat“ gesprochen und den staatlichen Aufgaben, die damit verbunden waren. Darunter befand sich die „jüdische Einwanderung und Einsammlung des Exils“ als zentraler Auftrag. Jüdische Einwanderung im großen Umfang bildete die einzige Garantie für eine zumindest formelle Versöhnung von „jüdisch“ und „demokratisch“. Ohne jüdische Mehrheit kann die Idee vom Staat für Juden auf demokratische Weise nicht gewährleistet werden. Gleichzeitig sicherte die Unabhängigkeitserklärung den nichtjüdischen Bewohnern des Landes „soziale und politische Gleichberechtigung“ und „gleichberechtigte Vertretung in allen staatlichen Organen“ zu. 

Die Unabhängigkeitserklärung bietet einige Einsichten in das entstehende Paradigma vom „Jüdischen Staat“. Die Erklärung erfolgte nicht im Namen der Bewohner des Landes, auch nicht der jüdischen, sondern im Namen des „jüdischen Volkes“. Das jüdische Volk war allerdings nicht befragt worden und wohnte größtenteils anderswo. Zur Zeit der Staatsgründung befanden sich etwas mehr als eine halbe Million Juden im Land, rund 5 Prozent der damals 12 Millionen Juden der Welt. Die nichtjüdischen Bürger, 65 Prozent der Bewohner Palästinas und fast die Hälfte der Bevölkerung im avisierten Staatsgebiet, werden nur einmal erwähnt, als „Mitglieder des arabischen Volkes, die Bewohner des Staates Israels sind“.

Der Text gibt auch die avisierten Gruppenbeziehungen an. Der neue Staat verwirkliche das „Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ in „seiner Heimat“. Damit komme dem jüdischen Volk der „Rang einer gleichberechtigten Nation in der Völkerfamilie“ zu. Die Vorstellungswelt des Zionismus war im Kontext des europäischen Kolonialismus und Nationalismus entstanden. Die Zionistische Bewegung konnte sich auf den kolonialen Mythos der Verfügbarkeit berufen, der Gebiete im Globalen Süden europäischen Besiedlungsprojekten eröffnete. Und sie bezog sich auf europäische Vorstellungen von „Nation“, einer kulturell und ethnisch homogenen Bevölkerung, die Staatlichkeit besitzt oder anstrebt. Juden seien als staatenlose, transnationale Minderheit Opfer ihrer Staatenlosigkeit geworden, analysierte der Zionismus. Das Problem könnten sie nur durch Nationalstaatlichkeit lösen. Diese Ideen einer Kongruenz von Territorium, Volk und Staat nahm die Zionistische Bewegung mit in den Nahen Osten. 

Israel wurde zum Nationalstaat des jüdischen Volkes erklärt, während den nichtjüdischen Bewohnern ein anderer Status zukommen sollte. Als Mitglieder des „arabischen Volkes“ wurden sie als Teil einer transnationalen Ethnizität definiert, die Heimat und nationale Rechte woanders suchen sollten. Wer Araber war, konnte in Palästina beheimatet sein, aber hier keine nationale Heimat besitzen. Die Unabhängigkeitserklärung sicherte den Juden also Rechte als Gruppe zu, den anderen nur als Individuen. 

Das Verlangen nach einem jüdischen Nationalstaat in dieser Umgebung, und gleichzeitig nach Gleichheit und Freiheit aller Bürger, war also nur wenig schlüssig. Die Bevölkerungsmehrheit wurde zwar von Juden gebildet, dem intendierten Staatsvolk. Eine verlässliche Mehrheit von Juden aber war erst kurzfristig durch Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948 entstanden. Der jüdischen Sache zu dienen bedeutete also zuerst Förderung der Einwanderung der einen und Verhinderung der Rückkehr der anderen. Von Gleichheit – selbst für Einzelne – konnte nicht die Rede sein. Gleichzeitig wurden die verbliebenen Palästinenser, die für die jüdische Mehrheit die Gegner des Bürgerkrieges von 1948 darstellten, unter Militärverwaltung gestellt. Ihre vollen demokratischen Rechte blieben bis 1966 suspendiert. Erst danach konnten palästinensische Bürger am demokratischen Leben teilnehmen und damit beginnen, das Versprechen der Unabhängigkeitserklärung auszuloten. 

Das Konstrukt des Staates für Juden schuf eine Reihe von Problemen, bei Fragen der Zuwanderung und Staatsbürgerschaft und beim Grund- und Privateigentum, das sich zum größten Teil in den Händen der Geflüchteten befand. Die Regierungen der Zeit fanden hier „kreative“ Lösungen, die allerdings weder dem Geist der Unabhängigkeitserklärung entsprachen noch, wie sich heute abzeichnet, langfristig politische Legitimität besitzen. 

Die jüdische Bevölkerungsmehrheit sah sich dabei keineswegs als Teil eines kolonialen Siedlerstaates, der langfristig zwischen unter- und übergeordneten Bevölkerungen unterscheiden wollte. Zwar hatte sich die Zionistische Bewegung der Kolonialmacht Großbritannien als Juniorpartner angeboten, aber predigte und lebte gleichzeitig auch politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Das zionistische Ethos hatte sich von Anfang explizit auch auf universalistische, humanistische Werte berufen. Das „Demokratische“ am jüdischen Staat war kein Lippenbekenntnis, sondern ein Versprechen, das aber zuerst einmal nur für die jüdische Bevölkerung galt. Die im Zionismus verwurzelte Ambivalenz, universalistisch und ethnozentrisch zugleich, unterdrückend gegenüber der Ursprungsbevölkerung aber auch emanzipierend, ist einer der Schlüssel zum Verständnis der weiteren Entwicklung.

Die Unterscheidung zwischen den ethnisch-religiösen Gruppen des Landes beeinträchtigte die Rechte einzelner Bürger. Beim Erwerb der Staatsbürgerschaft, der Zuwanderung und Familienzusammenführung unterschieden, und unterscheiden, sich die Rechte von Juden und Nichtjuden radikal. Als Staat aller Juden stehen die Tore Israels jüdischen Einwanderern weit offen. Für die meisten Nichtjuden, und besonders für die 1948 verdrängten palästinensischen Bürger des Landes und ihre Nachkommen, bleiben sie geschlossen.

Das Primat der Gruppenzugehörigkeit kam auch in anderen Bereichen zum Ausdruck. So sah sich die erste Regierung genötigt, gruppenbezogene Regelungen im Personenstandsrecht und in der Schulerziehung einzuführen. Dahinter verbargen sich einerseits kurzfristige politische Interessen. Ben Gurion brauchte 1948 jüdisch-religiöse Parteien für eine Koalition. Andererseits hätte eine für alle Bürger des Landes gültige, universelle Grundordnung, die nicht zwischen Religion und Ethnizität unterschied, auch die Frage nach dem Status der Palästinenser aufgeworfen. 

Personenstandrecht und Schulerziehung sind Rechtsgebiete, die sich stark an religiösen und kulturellen Traditionen orientieren. Von welchen Traditionen, jüdisch, islamisch, christlich, weltlich, sollten Schulerziehung und Lehrplan geprägt werden? Nach wessen Traditionen sollte sich die gesetzliche Regelung von Heirat, Scheidung, Adoption, Unterhalt und Erbfolge richten?

Die nichtjüdische Bevölkerung bestand im Wesentlichen aus Muslimen, Drusen, griechisch-orthodoxen und römisch-katholischen Christen. Juden teilten sich in eine große säkulare Mehrheit, in ultra-orthodoxe Gruppen, darunter die Chassidischen Sekten, die der säkular-nationalistischen Idee des jüdischen Staates feindlich gegenüberstanden; und in so genannte „national-religiöse“ Juden, ebenfalls Teil der orthodoxen Strömung, die den Zionismus bejahten. Diese Strömung inspirierte nach der Eroberung der Westbank und des Gazastreifens die Siedlerbewegung. 

Die gruppenbezogene Regelung von Personenstandsrecht und Schulerziehung schuf einen Flickenteppich an Institutionen. Das Arrangement war eine Fortschreibung des Millet-System des Osmanischen Reiches, zu dem Palästina bis 1918 gehört hatte. Das Millet-System bot einige Vorteile. Die koloniale Macht konnte die untergebene Bevölkerung teilen und beherrschen, die religiösen Gruppen erhielten weitgehende Selbständigkeit und die Chance, ihre eigenen internen Hierarchien und Traditionen mit Hilfe der Staatsmacht zu konservieren. Die britische Kolonialverwaltung hatte das System 1918 übernommen. Jetzt bestanden die jüdisch-religiösen Parteien darauf, dass diese im Ursprung koloniale und einer modernen Demokratie widersprechende Rechtsordnung auch in Israel gelten sollte. Die jüdische Orthodoxie wollte ihre Traditionen und vor allem ihre innerjüdische Vormachtstellung verteidigen, diesmal gegenüber einem jüdischen Staat.

Die Britten hatten für das Familienrecht neben einem sunnitischen Scharia-Familiengericht und einem rabbinischen unter Führung der Orthodoxie neun christliche Gerichte für die verschiedenen Denominationen zugelassen. Der Israelische Staat fügte diesen Elf im Laufe der Jahrzehnte noch drei hinzu. Die jüdisch-religiösen Parteien hatte zudem noch auf der Wahrung des religiösen Status quo in jüdischen Städten bestanden, also Einhaltung der Schabbatruhe im Öffentlichen Verkehr und der Speisegesetze in Gaststätten. Das öffentliche Leben kam so unter den Einfluss der konservativsten religiösen Elemente in der Gesellschaft. 

Neben Israel hatte nur Indien als demokratischer Staat subjektive, ethnische und religiöse Gruppenidentitäten auf diese Weise staatlich festgeschrieben. Auch in Indien ging es um die Dominanz einer Gruppe.

Das gruppenbezogene Familienrecht gab die Regie über existenzielle Fragen in die Hände patriarchalischer Institutionen, die mittelalterlichen Traditionen verpflichtet sind. Die Benachteiligung von Frauen bei Scheidung und Unterhalt und von gleichgeschlechtlichen Partnern war damit zementiert. Der Staat durfte keinen zivilrechtlichen Ausweg bieten. Wer ein Mitglied einer anderen ethnisch-religiösen Gruppe zum Partner wollte, stand vor geschlossenen Türen. Jüdisches Religionsrecht lehnt interreligiöse Ehen ab, und Übertritte sind äußerst zeitraubend. Ähnliches gilt für die meisten christlichen Denominationen. Nur unter der Scharia darf ein Muslim eine Nicht-Muslimin heiraten, die dann durch Heirat Muslima wird. Eine Muslima darf allerdings keinen Nicht-Muslim zum Ehemann nehmen. Interreligiöse Ehen sind in Israel eine seltene Ausnahme. Wer trotzdem interreligiös heiraten will, muss Grenzen im wörtlichen Sinne überschreiten und zum Beispiel nach Zypern fliegen.

Gruppenzugehörig mochte den Bewohnern des Landes als Schicksal erscheinen, die Bevormundung durch den staatlich ermächtigten Klerus aber nicht. Sie führte unter der jüdisch-säkularen Mehrheit zu einem starkem Unwillen gegenüber der religiös-jüdischen Bevölkerung und ihren Parteien. Dies verfestigte wiederum innerjüdische Gruppenidentitäten. Die Abgrenzung zwischen Religiösen und Nichtreligiösen erscheint den Bürgern Israels inzwischen ebenso organisch wie die Abgrenzung zwischen Juden und Palästinensern. Staatspräsident Reuven Rivlin münzte 2015 für dieses kulturelle Schema den Ausdruck der „vier Stämme Israels“: säkular-jüdisch, religiös-zionistisch, ultra-orthodox jüdisch und „Araber Israels“. Rivlin erhob die Palästinenser zum vierten „Stamm“ Israels. Im Geist der Unabhängigkeitserklärung sah er sie allerdings nicht als nationale Gruppe, sondern weiterhin nur als verstreute Reste des „Arabischen Volkes“.

Sozial und geografisch gesehen wohnen, arbeiten und spielen israelische Bürger getrennt. Zwei Gruppen, Palästinenser und Ultra-Orthodoxe, besetzen dabei die politisch-räumliche Peripherie, in eigenen Dörfern, Stadteilen und Städten, die strukturell vernachlässigt und wirtschaftlich schwach sind.

In bestimmten Bereichen, dort, wo höhere Bildung und Einkommen die sozialen und beruflichen Grenzen überwindbar machen, kommen Gruppen zusammen. Diese begrenzte Interaktion findet in den säkularen Städten Tel Aviv und Haifa statt, an den Universitäten und zum Beispiel im Gesundheitswesen, wo palästinensisches Personal, von der Krankenschwester bis zum Oberarzt, gut vertreten ist. Bestimmend für diese gemeinsamen Bereiche von Wohnen und Arbeiten bleibt die Gruppenhierarchie: oben steht der jüdische Mann europäischen Ursprungs, unten die Frau mit Kopftuch. 

Auch das Primar- und Sekundarschulwesen trägt zum starken ethnisch-religiösen Gruppenbewusstsein bei. Kinder, die in Israel aufwachsen, begegnen nur Kindern, Lehrkräften und Eltern ihrer eigenen Gruppe. Im späteren Leben ändert sich daran fast nichts.

Das israelische Schulwesen besteht aus einem öffentlichen und einem privaten Sektor. Der öffentliche Sektor umfasst drei Schultypen: einen weltlichen, einen jüdisch-religiösen und einen „arabischen“, in dem die Unterrichtssprache arabisch ist. Alle öffentlichen Schulen folgen einem einheitlichen nationalen Grundlehrplan, der in jüdisch-religiösen Schulen mit Unterricht nach orthodoxer Auffassung angereichert wird, in Schulen für Palästinenser mit gesamtarabischer Geschichte, Kultur und Religion. Die jüdisch-ultra-orthodoxen Schulen sind im privaten Sektor untergebracht, der nicht unter Kontrolle des Bildungsministerium steht. Der nationale Grundlehrplan gilt hier nicht. Der Unterricht findet nach Geschlechtern getrennt statt. Diese Schulen widmen weltlicher Bildung, Fremdsprachen, Naturwissenschaft und Mathematik nur sehr geringen Raum. 

In allen staatlichen Schulen, auch in den arabischsprachigen, wird die Geschichte Israels, Landes- und Gemeinschaftskunde aus Sicht des zionistischen Narrativs unterrichtet. Der Lehrstoff soll die „Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel“ fördern, wie das Bildungsministerium betont. Trotz der Tatsache, dass es auch im arabischsprachigen Bildungssystem angewandt wird, enthält das Programm keine Inhalte, die sich auf die palästinensische Geschichte des Landes und die Nakba beziehen. Im Unterricht zum „Religiösen Erbe“ wird an arabischsprachigen Schulen Material zum Islam, Christentum und der Drusischen Religion angeboten, in hebräisch-sprachigen aber nicht. 

Der Staat Israel hat sich mit der Institutionalisierung von Gruppenunterschieden ein ausgeklügeltes aber sehr anfälliges System der Marginalsierungen und Privilegierungen geschaffen. Das System basiert auf den Kräfteverhältnissen von 1948. Seitdem haben vor allem die beiden marginalisierten Gruppen, Palästinenser und Ultra-Orthodoxe, ihren Anteil an der Bevölkerung mehr als verdoppelt. Sie machen inzwischen zusammen rund 40 Prozent der Bevölkerung aus. Mit Hilfe eigener politischer Parteien versuchen sie ihre Position zu verbessern – mit einigem Erfolg. 

Das israelische Verhältniswahlrecht mit niedriger Sperrklausel setzt das Gruppenschema ins Kleinste um. Es begünstigt dabei allerdings das säkular-zionistische Lager, das in große, etwa gleich starke links- und rechtszionistische Blöcke geteilt ist. Koalitionen beruhen meist auf 6-8 Parteien unter Führung von einem der beiden Blöcke und verfügen nur über sehr knappe Mehrheiten. Palästinensische und ultra-orthodoxe Parteien werden dabei doppelt benachteiligt. Mit Mehrheitswahlrecht könnten sie in ihren kulturell homogenen Gebieten mehr Sitze erlangen. Zusätzlich erhalten sie beim Wahlgang die Quittung für ihre Staatsferne. Eine deutlich geringere Wahlbeteiligung in ihren Sektoren kostet sie jeweils rund fünf Sitze.

Die politischen Ziele der ultra-orthodoxen Parteien beschränken sich auf den eigenen Sektor: Wahrung und Förderung eines völlig separaten religiösen und gesellschaftlichen Lebens und eines eigenen Schulsystems. Sie binden etwa 15% der Wähler an sich und haben sich mehrmals an rechts-zionistischen Koalitionen beteiligt. Sie engagieren sich kaum bei Fragen, die über die direkten Belange der ultra-orthodoxen Enklaven hinausgehen. So hat ihr Separatismus, auch ohne ideologische Präferenzen, unter anderem die Ausweitung der Besatzung und Blockade der Zwei-Staaten-Lösung möglich gemacht.

Im palästinensischen Sektor, 20% der Bevölkerung, erhalten palästinensische Parteien regelmäßig rund 13% der Wählerstimmen. Nur eine der vier heute in der Knesseth vertretenen Parteien, die „Vereinigte Arabische Liste“, vertritt dabei eine den Ultra-Orthodoxen vergleichbare Politik des Separatismus. Dieser Separatismus schließt Regierungsteilnahme ausdrücklich ein, allerdings mit Zielen, die auf den eigenen Sektor beschränkt sind. 

Die Vereinigte Arabische Liste ist seit Juni 2021 Teil einer israelischen Regierungskoalition. Nur einmal haben palästinensische Parteien davor eine jüdisch-zionistische Regierung unterstützt – durch parlamentarische Rückendeckung für die Minderheitsregierung unter Yitzchak Rabin, die 1992 den Friedensprozess mit der PLO einleitete.

Die Vereinigte Arabische Liste ist sozial konservativ und propagiert das Primat des Islam in Familie und Gesellschaft. Schon bei ihrer Gründung 1996 sprach sie sich für Teilnahme an Regierungen mit jüdischen Parteien aus und stimmte für die Oslo-Verträge und die Zwei-Staaten-Lösung. Im Gegensatz zu den anderen palästinensischen Parteien verfolgt sie eine Politik sektoraler aber nicht nationaler Rechte. Die politische Haltung der Vereinigten Arabischen Liste passt in die Rolle, die innerhalb des Gruppen-Paradigmas marginalisierten Parteien zugeordnet wird. So begründete sie ihre Regierungsbeteiligung mit dem Wunsch, die Lebensverhältnisse der palästinensischen Minderheit zu verbessern, ungeachtet anderer Ziele der Koalition. Ein Beschluss der Regierung Bennet, bestimmte Siedlungen in den besetzen Gebieten auszubauen, wurde schweigend hingenommen. Ihre Beteiligung an der Regierung Bennet durchbrach allerdings auch das Tabu der Regierungsbeteiligung von Palästinensern.

Kurz nach der Installierung der Regierung Bennet im Juni 2021 kritisierte der palästinensische Politologe Ameer Fakhoury, dass die Vereinigte Arabische Liste ein palästinensisches „Stetl“ in Israel errichten wolle. Palästinenser fügten sich damit, schrieb er, der Logik der vier Stämme und geständen ein, dass sie mit anderen Israelis nichts Gemeinsames hätten. Für Palästinenser bedeute dies einen einseitigen Verzicht auf das Prinzip der Staatsbürgerschaft.

Die politischen Ziele der anderen Parteien haben sich von einem Kampf um individuelle Rechte von palästinensischen Bürgern über kollektive Rechte hin zur Forderung eines nationalen Status entwickelt. Diese seit mehr als zwanzig Jahren im palästinensischen Sektor dominante Strömung fordert die politische und rechtliche Umsetzung der bi-nationalen Realität des Landes und die Transformation Israels vom „Staat der Juden“ zum „Staat aller Bürger“. 

Auch der israelische Staatspräsident Rivlin sprach in einer Grundsatzrede 2015 die Probleme der institutionalisierten Gruppenidentitäten an. Sie ist in Israel als die „Vier-Stämme-Rede“ bekannt. Rivlin wies auf die wachsende Unregierbarkeit des Landes und die Behinderung wirtschaftlichen Wachstums. Sein Hauptargument aber war von einer anderen Qualität: die zionistisch-säkulare Mehrheit des Landes beginne ihre Mehrheit zu verlieren, sagte er, und damit die Kontrolle über das System. 1992 hätten noch 52% der Schulanfänger das staatlich-säkulare Schulsystem besucht. 2018 würden es nur noch 38% sein. 25% würden dann arabischsprachige Schulen besuchen, und 22% ultra-orthodoxe. 

Das alte Bild von der zionistisch-säkularen Bevölkerung, die das kulturelle und politische Zentrum Israels bilde, sei nicht mehr gültig. Eine neue Ordnung sei im Entstehen. Die Stämme, sagte er, müssten zu einem neuen Konzept der Partnerschaft übergehen, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Rivlin erkannte die kulturellen Eigenheiten der „Stämme“ ausdrücklich als wertvoll an und forderte, dass der Staat diese kulturellen Unterschiede schützen müsse. Jede Gruppe müsse wissen, dass ihre Identität nicht bedroht sei. 

Seine Vorschläge legten eine Verschiebung in der ideologischen Landschaft bloß. Hier formulierte ein Rechts-Zionist Vorschläge, die dreißig Jahre davor aus dem Mund eines linken Zionisten gekommen wären. Die links-zionistischen Parteien haben sich inzwischen in Richtung eines post-zionistischen Realismus bewegt – einer teilweisen Anerkennung palästinischer Anliegen und dem Willen, die Besatzung zu beenden. 

Die zionistische Rechte hält dagegen weiter am Model des jüdischen Nationalstaats fest, an den gegensätzlichen Zielen von Gleichheit und ethnischer Dominanz, und an der angestrebten Kongruenz von Territorium, Volk und Staat. Diese Idee hat mit der Besiedlung der Westbank durch jüdische Israelis eine Sackgasse erreicht. Mit sieben Millionen Juden und sieben Millionen Palästinensern in „Groß-Israel“, also dem gesamten ehemaligen Mandatsgebiet, war kein jüdischer und gleichzeitig demokratischer Staat mehr zu machen.

Parallel zu Rivlins Initiative propagierten rechtszionistische Politiker ein anderes Mittel, um eine zukünftige Kollision von „jüdisch“ und „demokratisch“ abzuwenden: das Nationalstaatgesetz. Dieses Gesetz, zuerst 2011 als Zusatz zu den israelischen Grundgesetzen eingebracht, wurde 2018 mit einer Mehrheit von zwei Stimmen verabschiedet. Hier wird zum ersten Mal in einem Gesetz explizit vom Staat Israel alsNationalstaat des jüdischen Volkes gesprochen und von Israel als dem Ort, an dem es exklusiv nationale, kulturelle und religiöse Selbstbestimmung ausübe.

Das Gesetz rief in Israel und in der internationalen Gemeinschaft viel Kritik hervor. Die Opposition ließ die Verfassungsmäßigkeit prüfen. Im Juli 2021 entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Gesetz den demokratischen Charakter des Staates und das Prinzip der Gleichheit nicht negiere. Die Präsidentin des Gerichtshofs erklärte, dass es nur das Offensichtliche deklariere: dass Israel ein jüdischer Staat sei.

Hinter Rivlins Rede und dem Nationalstaatgesetz verbirgt sich das alte Wunschbild von Israels als Bollwerk demokratisch-universeller Werte und gleichzeitig als Förderer und Verteidiger des jüdischen Ethnos. Rivlin sprach zwar von der Suche nach einer neuen, gemeinsamen bürgerlichen Identität, aber unter einer spezifischen Prämisse. Der Staat müsste zionistisch definiert bleiben. 

Der rein deklarative Charakter des Nationalstaatgesetzes und die Tatsache, dass es mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen verabschiedet wurde, lässt allerdings keinen Zweifel darüber, wie prekär das Verhältnis von „jüdisch“ und „demokratisch“ ist. Sollte die heutige Konstruktion des „Nationalstaates der Juden“ eines Tages die Mehrheit verlieren, könnte Israel ohne weiteres auf das „Demokratische“ zurückfallen.

Eine Partnerschaft mit einer palästinensischen Partei war neu, aber was bedeutete sie? Koalitionen mit den Ultra-Orthodoxen hatten bislang den Rang eines ungeliebten Zweckbündnisses – eines notwendigen Übels, bei dem die Minderheit finanzielle Unterstützung für ihre peripheren Ziele erhielt im Tausch für ihre Stimmen. 

Aus der Perspektive der zionistischen Mitte leben Palästinenser und Ultra-Orthodoxe in einem selbstgewählten Randdasein. Sie gelten als „un-israelisch“. Dieser Diskurs hat sich im Laufe der letzten Jahre verstärkt. Den Gruppen werden dabei Eigenschaften zugeordnet, die ihnen das Recht auf volle staatsbürgerliche Beteiligung quasi von selbst nehmen. Wie der israelische Soziologe Baruch Kimmerling vor zwanzig Jahren zeigte, entstand die neue israelische Identität direkt aus der Ablehnung dieser Kulturen – dem „dekadenten“ und schwächlichen Diasporajudentum und dem orientalisierten, zivilisatorisch unterlegenen „Araber“.

Die Kritik am ultra-orthodoxen Sektor richtet sich gegen das „Ghettohaftige“, das Festhalten an anti-modernen Traditionen, die Trennung der Lebenswelten von Männern und Frauen und den Verzicht auf säkulare Bildung. Besonders umstritten ist die Befreiung ultra-orthodoxer Männer vom Militärdienst. Ultra-orthodoxe Männer sind in den Augen der Mehrheit unpatriotisch, „unproduktiv“, dekadent und „schmarotzerhaft“. Ihre Haltung wird als kollektive Weigerung verstanden, sich mit dem Staat zu verbinden und seine Existenz zu sichern.

Die Vorstellungen über die Palästinensische Peripherie zeigen ein ähnliches Muster. Neben einem deutlichen Respektgefälle und starken kulturellen Vorurteilen werden palästinensische Politiker regelmäßig als „Terroristen“ bezeichnet oder als Unterstützer von „Hamas-Mördern“. Politiker der Linken, die in Wahlkämpfen eine mögliche Koalition mit palästinensischen Parteien nicht von vornherein explizit ausschließen, riskieren Wählerstimmen.

Die Dämonisierung palästinensischer Parteien ist auf dem Hintergrund ihrer Wahlerfolge zu einer politischen Waffe ersten Ranges geworden. Naheliegende Partnerschaften zwischen jüdischen und palästinensischen Parteien bei der Liberalisierung der Gesellschaft und der Schaffung einer permanenten Lösung für die besetzten Gebiete ließen sich so bislang nicht verwirklichen. Dieses Tabu konnte nur von einer rechten Partei durchbrochen werden. Im Anlauf zu den Wahlen im März 2021 war es dann die Likud-Partei Benjamin Netanjahus, die um ihr Überleben kämpfte und sich offen um die Unterstützung durch die Vereinigte Arabische Liste bemühte. 

Die Probleme der Randgruppen werden in der Mitte der Gesellschaft hauptsächlich als Defizite aufgefasst, die durch die Eigenheiten der Kultur hervorgerufen und nur durch kulturelle Anpassung verändert werden können. Ein Beispiel ist die hohe Zahl von Tötungsdelikten in der palästinensischen Gesellschaft. Rund 70% aller Morde in Israel entfallen auf diesen Sektor. Der Diskurs über Ursachen und mögliche Lösungen zeigt deutlich den Einfluss des israelischen Gruppen-Paradigmas. Auf Seiten der Regierung und der israelischen Polizei wird auf die Schwierigkeiten bei der Aufklärung gewiesen. Die palästinensische Gesellschaft sei geschlossen, und es herrsche eine Kultur des Schweigens. Auf palästinensischer Seite und von Kriminologen wird eine andere Geschichte erzählt. Die Polizei habe sich 2001, nach blutigen Zusammenstößen während der zweiten Intifada, aus den palästinensischen Ortschaften zurückgezogen. Seitdem werde nicht mehr in diese Gebiete investiert, weder in die akute Verbrechensbekämpfung noch in die vorbeugende. Das Problem sei eine unkontrolliert wachsende Bandenkriminalität, und nicht die „Mentalität“ der Bewohner. 

Bei Problemen in ultra-orthodoxen Gemeinschaften finden wir ein ähnliches diskursives Muster. Im Sektor herrscht große Armut. In der breiten Öffentlichkeit werden mangelnde Schulbildung, religiöser Lebensstil und schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Ursachen gesehen. Mögliche Lösungen, zum Beispiel die Einführung des nationalen Lehrplans auf ultra-orthodoxen Schulen, gelten allerdings nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch hier wird der einzelne Bürger vom Staat im Stich gelassen. 

Die Institutionalisierung von Gruppenidentitäten war von Anfang an mit dem Paradigma vom „Jüdischen Staat“ verbunden. Der Staat sollte mit staatlichen Mitteln den jüdischen Charakter des Landes garantieren, durch Privilegierung von Juden und die Abdrängung von anderen. Ist das heute noch nötig?  Durch Einwanderung von mehr als drei Millionen Juden und der Schaffung einer jüdischen Mehrheit von 75% scheint mir die kulturelle und politische Dominanz dieser Gruppe gesichert, zumindest in Israel selbst. Die Besiedlung der besetzten Gebiete und die Entschlossenheit der zionistischen Rechten, die Gebiete zu behalten, stellen die Frage allerdings neu. 

Auch generationelle Unterschiede fordern das System heraus. Unter jungen Israelis, Juden wie Palästinensern, herrscht ein zunehmender Individualismus. Sie wollen in einer modernen, liberalen Gesellschaft ohne Gruppenzwänge leben. Aber auch auf ihre Eltern ist längst nicht mehr Verlass. So haben bei den Wahlen der letzten Jahre jüdische Israelis zum ersten Mal in großen Zahlen palästinensische Parteien gewählt. Neue politische Allianzen von Juden und Palästinensern scheinen jetzt zum ersten Mal in Reichweite. 

Wie können die Bürger Israels zu einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität gelangen? Die Frage der besetzen Gebiete spielt hier eine große Rolle. Auf welches Israel soll sich das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung für Staat und Gesellschaft beziehen? Auf ein demokratisches Land, dessen grundlegende Politik und Grenzen auf einem breiten Konsens beruhen? Oder auf einen Staat, der viele Schattierungen von institutionalisierter Ungleichheit in Stand hält? Ohne Konsens in diesen Fragen ist eine Zusammenarbeit der „Stämme“ zum Wohle der gesamten Gesellschaft kaum möglich.

Welche Stellung sollte den Gruppen in Zukunft zukommen? Jede Gruppe müsse wissen, sagte Präsident Rivlin, dass ihre Identität nicht bedroht sei. Er meinte damit die Randgruppen. Aber das Problem scheint mir eher bei der Identität der Mehrheit zu liegen. Die jüdische Bevölkerung hat sich lange auf staatliche Garantien für ihre Vormachtstellung verlassen. Die nicht-jüdische und nicht-zionistische Bevölkerung hat längst ihren Frieden mit dem Leben im „jüdischen Staat“ gemacht. Im Weg steht nicht mehr die Dominanz einer Gruppe, sondern die Institutionalisierung dieser Dominanz. Sie bildet die eigentliche Hürde zu einer völligen Demokratisierung Israels.