Daniel Cil Brecher

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Auf der Suche nach einer brauchbaren kollektiven Erinnerung

In Blogroll, Buchbesprechungen Jüdische Geschichte on Oktober 30, 2007 at 8:23 am

Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte; Propyläen Verlag; 891 S., 29,90 €

Die Frage nach dem Wissen der deutschen Bevölkerung über den Massenmord an den europäischen Juden besteht aus sehr unterschiedlichen Komplexen: der Frage nach dem Kenntnisstand, der Frage nach der Reaktion der Bevölkerung auf diesen Kenntnisstand und der Folgen für die Pläne und Ausführung des Massenmords, und – nicht zuletzt – der Frage nach der Verantwortung. In der Bundesrepublik tauchen alle diese Fragen schon im Zuge der „Vergangenheitsbewältigung“ auf, also im Prozess der Neuschöpfung einer politischen Kultur und eines nationalen Selbstbildes nach 1945, und der Westintegration. Der Fragenkomplex wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch von der Faschismus- und Totalitarismusforschung aufgegriffen, von Wissenschaftlern wie Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Stanley Milgram. Sie befassten sich auf unterschiedliche Weise mit den Wirkungen moderner Gesellschaftssysteme auf das Verhalten und die Verantwortung des Individuums.
Im deutschen Zusammenhang ging es um das Ausmaß der Schuld, im internationalen um ihre Grenzen. Die Geschichtsforschung bemüht sich seitdem tapfer, diesen im Ursprung politisch-moralischen Fragen immer wieder neuen Sinn zu geben und neue, differenzierende Antworten zu finden. Bernward Dörner räumt vor diesem Hintergrund schon zu Anfang ein, dass seine Studie zwar neue Quellen erschließt und Detailerkenntnisse neu bewertet, aber auch er dem Wissen um das Wissen der Deutschen nichts wesentlich neues hinzufügen kann.

„Den wissenschaftlichen Nachweis zu führen, dass die Deutschen über den Genozid Wesentliches wussten beziehungsweise wissen konnten, ist nicht einfach. Außer Abwehrmechanismen wirkt bei der Aufklärung ein objektiver Umstand hemmend: die schwierige Quellenlage. Der Judenmord wurde als „Geheime Reichssache“ in Gang gesetzt. Auf schriftliche Befehle und Anweisungen wurde weitgehend verzichtet. Hinzu kommt, dass der Judenmord arbeitsteilig begangen wurde [und] den Beteiligten nur so viel mitgeteilt wurde, wie sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben wissen mussten.“

Weil Juden nicht zur Vernichtung in den Osten verschleppt wurden, wie die zuständigen Institutionen behaupteten, sondern angeblich „neu angesiedelt“ werden sollten, widmet Dörner seine Hauptaufmerksamkeit den Quellen, aus denen Nachrichten über den tatsächlich stattfindenden Genozid zwischen 1941 und 1945 nachweisbar an die Bevölkerung im Reichsgebiet zurückflossen. Trotz strikter Kontrolle der Feldpost gelangten zum Beispiel ab Sommer 1941 viele Berichte über Massenmorde in die Hände von Angehörigen der Wehmacht, der Polizei und von Familien ziviler Angestellter, die im Osten des eroberten Europas eingesetzt waren. Die meisten dieser Berichte vermittelten allerdings noch kein umfassendes Bild des systematischen Charakters der Vernichtungskampagne. So berichtete ein deutscher Offizier im Januar 1942:

„Als ich mit meinem Stab am Nachmittag mein Stabsquartier [in Schitomir] bezogen hatte, hörten wir in regelmäßigen Abständen Gewehrsalven, denen Pistolenschüsse folgten. Nach einiger Zeit sahen wir zahlreiche Soldaten und Zivilpersonen einem vor uns liegenden Bahndamm zuströmen. Als wir schließlich den Bahndamm erklettert hatten, bot sich ein Bild, dessen grausame Abscheulichkeit auf den unvorbereitet Herantretenden erschütternd und abschreckend wirkte. In die Erde war ein etwa 7-8 Meter langer, vielleicht 4 Meter breiter Graben eingezogen. Die Grube selbst war mit zahlreichen Leichen aller Art und jeden Geschlechts gefüllt. Hinter dem Wall stand ein Kommando Polizei. Die Uniformen wiesen Blutspuren auf. Im weiten Umkreis standen unzählige Soldaten, teilweise in Badehose, als Zuschauer. Unter anderem lag in diesem Graben ein alter Mann mit weißem Vollbart, der über seinem Arm noch ein Spazierstöckchen hängen hatte. Da dieser Mann Lebenszeichen von sich gab, ersuchte ich einen Polizisten, ihn endgültig zu töten, worauf dieser mit lachender Miene sagte: Dem habe ich schon siebenmal in den Bauch geschossen, der krepiert schon von alleine.“

Neben den auf persönlicher Wahrnehmung beruhenden Berichten einzelner untersucht Dörner auch die wichtigste Quelle, aus der die Bevölkerung über Absichten und Ziele der anti-jüdischen Politik unterrichtet wurde: Rundfunk, Presse und die Reden der Parteiführer. Im Frühjahr 1943 warf das Regime angesichts der schlechten Kriegslage und zunehmender Gerüchte das Ruder der Propaganda-Politik herum. Drastisch veränderte sich nun der Ton, wenn über die Behandlung der Juden gesprochen wurde. Der Bevölkerung sollte beigebracht werden, dass die Radikalität der Maßnahmen gegen die Juden im Falle einer Niederlage zu harten Konsequenzen führen würde. Die Sieger würden auch die deutsche Bevölkerung zur Verantwortung ziehen. Die kaum noch verdeckten Hinweise auf die systematische Ermordung der Juden sollten zum Durchhalten zwingen – Durchhalten als Akt der Notwehr.

„Dieser Krieg ist ein Rassenkrieg. Er ist vom Judentum ausgegangen und verfolgt kein anderes Ziel als die Vernichtung und Ausrottung unseres Volkes.“ „Je eher die Juden vernichtet werden, desto besser ist es für die Welt.“ „Das Ergebnis für unser Volk muss die restlose Ausschaltung der Juden sein. Mögen diese Dinge schrecklich sein. Sie sind unausweichlich.“ „Der Vollstreckungsbefehl ist gegeben und unwiderruflich. Die Exekution ist bereits im vollen Gang.“ „Damit [spricht] das Gericht der schaffenden Menschheit das Todesurteil gegen das jüdische Verbrechervolk, und [rottet] es so aus, wie es anderen Völkern ans Leben wollte: Mit Männern, Weibern und Kindern, damit die Welt von ihm erlöst wird und Ruhe findet und den ersehnten langen, langen Frieden.“

Der Versuch, die öffentliche Meinung so radikal zu formen und zu kontrollieren, bedeutete für das NS-Regime auch, dass es über die wirkliche Stimmung im Unklaren blieb. Die Regierung sah sich gezwungen, selbst unentwegt die Stimmung im Reich zu erforschen, auch die Haltung der Bevölkerung zur Judenpolitik. Diese geheimen Berichte einer Vielzahl von Behörden und Sicherheitsorganen auf allen Ebenen sind zum großen Teil noch vor Kriegsende vernichtet worden. Doch auch aus dem überlieferten Material lassen sich noch wichtige Rückschlüsse auf die Verbindung von Ereignis, Gerücht, Meinung und politischer Wirkung auf Berichterstatter und die Führung in Berlin ziehen. Im Falle der Tötung von Behinderten und Kranken sprach sich die „Euthanasie“, wie die Nazis den Massenmord nannten, in Windeseile herum. Die Gerüchte führten zu Protesten, die wiederum nicht ohne Einfluss auf das Regime blieben. Der Oberstaatsanwalt in Rottweil, der im Oktober 1940 einen Bericht darüber verfasste, ließ gleich seine eigene Kritik durchschimmern:

„In meinem Amtsbezirk geht schon seit Monaten das Gerücht, dass geistes- und körperschwache Anstaltspfleglinge planmäßig beseitigt würden. Unausbleiblich erscheint es mir, dass das Vertrauen zur Staatsführung in weitesten Bevölkerungskreisen furchtbar erschüttert wird.“

Bei der Berichterstattung über die Haltung gegenüber den Juden herrschte allerdings ein ganz anderer Konformitätsdruck. Viele Berichterstatter mussten mitteilen, dass die Bevölkerung Kritik an den Maßnahmen gegen die Juden übte. Gleichzeitig suchten sie nach Wegen, sich selbst von dieser Kritik zu distanzieren, und zu verhindern, dass die ablehnende Haltung der Bevölkerung als Versagen der berichterstattenden Instanz ausgelegt wurde.

„Die Exekution der Libauer Juden bildet noch immer das Gesprächsthema der hiesigen Bevölkerung. Vielfach wird das Los der Juden bedauert, und es sind zunächst wenig positive Stimmen zur Beseitigung der Juden zu hören. Es ist zu erwarten, dass über die erfolgte Regelung der Judenfrage in Libau demnächst wieder Beruhigung eintreten wird.“

Die Analyse der von Dörner aufgeführten Berichte lässt einen Schluss zu: Das Schicksal der Juden im Osten war als Gerücht schon bald nach Beginn der Deportationen und Erschießungen 1942 im Reich allgegenwärtig. Die Vernichtungskampagne wurde zum offenen Geheimnis. Bernward Dörners Fazit: Die Mehrheit der Deutschen rechnete spätestens im Sommer 1943 damit, dass alle im NS-Herrschaftsbereich lebenden Juden umgebracht werden sollten.

„Im Sommer 1943 war der Mord an den Juden für die allermeisten Deutschen zur Tatsache geworden. Zu offen propagierten die NS-Medien die Vernichtungspolitik. Der mörderische Charakter der antisemitischen Politik [war] angesichts der sich verdichtenden Gerüchte über das grauenhafte Schicksal jüdischer Männer, Frauen und Kinder immer schwieriger zu bezweifeln.“

Dörners systematische Studie der Nachrichtenquellen zeigt auch die Grenzen der historischen Methode auf. Seine Bilanz entspricht der, die schon vor dreißig Jahren, vor Beginn der systematischen Quellenstudien zur Stimmungen und Haltungen in der Bevölkerung, gezogen wurde: Alle wussten etwas, aber die meisten wussten genug, um nicht mehr wissen zu wollen. Solange die Bevölkerung mit Gerüchten, und nicht mit eindeutigen Beweisen oder Aussagen, konfrontiert war, konnte das schreckliche Wissen weiter geleugnet werden. Die alliierten Truppen lieferten deshalb schon im Frühjahr und Sommer 1945 einen Beweis, der nicht mehr abgestritten werden konnte. Sie zwangen viele in der Nähe von Lagern lebende Deutsche, sich in Konzentrationslagern selbst vom schrecklichen Geschehen zu überzeugen.

Angesichts dieses konzeptionellen Stillstandes kann man nur hoffen, dass die seit den siebziger Jahren fast vollständig aus dem Forschungsfeld Nazizeit verdrängten Sozialwissenschaftler, traditionell machtferner als die Historiker, hier vielleicht mehr beitragen werden. Lesenswert ist Dörners Buch trotzdem, vor allem wegen der vielen Zitate, den zeitgenössischen Äußerungen in Briefen und Berichten, und den Aussagen von Beteiligten und Zuschauern nach 1945, denen Dörner ein kurzes Kapitel widmet und deren Auslassungen schon ganz im Zeichen der Suche nach einer brauchbaren kollektiven Erinnerung stehen.

Gesendet im Deutschlandfunk 29.Oktober 2007 * copyright 2007 Daniel Cil Brecher

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Bundesgenosse Volk

In Blogroll, Buchbesprechungen Jüdische Geschichte on Juni 22, 2007 at 8:33 am

Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 412 S., € 28

Von Daniel Cil Brecher

Die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus kreist seit über zwei Jahrzehnten um zwei Fragen: aus welchen Quellen speiste sich die beispiellose Radikalität nationalsozialistischer Verdrängungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Juden und wie lässt sich die Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber den anti-jüdischen Maßnahmen etikettieren und in das Geschehen einordnen. Michael Wildt hat sich den Fragen auf eine ungewohnte Weise angenommen. Er hat eine Reihe gewaltsamer antisemitischer Vorfälle in kleineren Städten und Dörfern in einem Zeitabschnitt untersucht, der die gebräuchliche Zäsur des Jahres 1933 überschreitet, und dabei Indizien für die Motive der Gewalttäter und die Haltung der örtlichen Bevölkerung gesammelt. Sein Interesse richtete sich auf die möglichen Funktionen der anti-jüdischen Gewalt, bei der Stärkung der Gruppenidentität nationalsozialistischer Parteikader und bei der Schaffung einer umfassenden völkischen Identität durch die angestrebte Spaltung der Bevölkerung in Arier und Nichtarier, der „Errichtung der Volksgemeinschaft“, wie Wildt es nennt.

„Aktivismus, Kampf und Gewalt als „Gemeinschaftserlebnis“ bildeten einen festen Bestandteil des SA-Alltags Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Brutale Schlägereien der SA mit den politischen Gegnern, in erster Linie mit den Kommunisten, [und] hasserfüllte antisemitische Attacken sollten den eigenen Machtanspruch behaupten. Zugleich festigte die Gewalt als „Kampferlebnis“ den inneren Zusammenhalt.“

Gewalt war aber auch ein Propagandamittel. Seit Mitte des 19.Jahrhunderts gehörten antisemitische Parolen zwar zum Alltag in Deutschland, aber es war ein Antisemitismus des Wortes, der sich in politischen Reden und in den bürgerlichen Medien Presse und Buch entfaltete. Die Nazis wollten einen Antisemitismus der Tat, einen Antisemitismus der Straße. Die Botschaft lautete: Wir sind diejenigen, die mit dem Antisemitismus wirklich Ernst machen. Hitler hatte in „Mein Kampf“ auf diese propagandistische Seite hingewiesen.

„Unsere Sorge muss es sein, das Instinktmäßige gegen das Judentum in unseren Volk zu wecken und aufzupeitschen und aufzuwiegeln, solange bis es zum Entschluss kommt, der Bewegung sich anzuschließen, die bereit ist, die Konsequenzen daraus zu ziehen.“

Die deutsche Bevölkerung musste also zugleich von der großen Dringlichkeit der Judenfrage überzeugt werden, der Notwendigkeit einer radikalen Lösung und der besonderen Befähigung der Nationalsozialisten, diese radikale Lösung auch wirklich umzusetzen. Gewalt durfte nicht allein Drohung bleiben. Im Herbst 1923 bot sich eine Gelegenheit, an das Instinktmäßige des Volkes zu appellieren. Die Kommunisten hatten in Hamburg versucht, die Macht zu übernehmen, die Nationalsozialisten in München. Die Krise der Nachkriegszeit, politische Wirren, Arbeitslosigkeit und die rasend fortschreitende Inflation, ging auf einen Höhepunkt zu.

„Am 5. November wurde der Brotpreis auf 140 Milliarden Reichsmark erhöht und zugleich kursierte das Gerücht, das Arbeitsamt würde kein Geld auszahlen. Daraufhin begannen spontane Plünderungen von Bäckereien und Lebensmittelgeschäften. Antisemitische Agitatoren sahen ihre Stunde gekommen, zogen ins [Berliner] Scheunenviertel und machten in hetzerischen Reden in erster Linie Juden für die Inflation und Not verantwortlich. Nach Feststellung der Polizei wurden 200 Geschäfte geplündert, überwiegend von nicht-jüdischen Inhabern. Doch war kennzeichnend, dass sich die Ladenbesitzer mit Schildern wie “ Christliche Geschäftsleute“ vor Plünderungen zu schützen suchten.“

Der spaltende Effekt der Gewalt blieb auch in den kommenden Jahren sichtbar. Ob sich als Reaktion auf die staatlich gelenkte Hetze ab 1933 eine autonome antijüdische Bewegung innerhalb der deutschen Bevölkerung entfaltete, wie sich Teile der NS-Führung erhofften, bleibt allerdings fraglich. Die Abdrängung der Juden fand vor allem mit Hilfe staatlich-bürokratischer Mittel statt. Die gewünschte Pogromstimmung musste von den örtlichen Parteikadern immer wieder neu angeheizt werden, in immer umfangreicheren und spektakuläreren Aktionen, gerade weil die Bevölkerung sich nicht wirklich dafür erwärmte. Wildt untersucht in seiner Studie hauptsächlich zwei Formen der Hetze und Verfolgung, Konsumboykott und die sogenannten Rassenschande-Umzüge.

„Gerade in der Provinz war die Verfolgung der jüdischen Nachbarn als „Volksfeinde“, als „rassischer Gegner“, das zentrale politische Instrument, um die bürgerliche Ordnung anzugreifen und die Volksgemeinschaft herzustellen.“

Konsumboykott und das Anprangern der sogenannten Rassenschande waren beides höchst effektive Mittel, den Kontakt zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung zu unterdrücken und die Juden zu isolieren. Aber als Gradmesser der Beteiligung oder Anteilnahme am staatlich betriebenen Antisemitismus sind sie kaum verlässlich. Der Boykott gegen jüdische Geschäftsleute, zum ersten Mal in einer reichsweiten Aktion im April 1933 von oben organisiert, flammte in der Zeit bis zum völligen Ausschluss der Juden lokal immer wieder auf, angetrieben von einer Vielzahl von Faktoren, von Ideologie, Lokalpolitik und Privatinteresse.

„Im westfälischen Bückeburg waren die Ehefrau und die Tochter des Bürgermeisters dabei beobachtet worden, wie sie im Kaufhaus Weihl, das einem jüdischen Geschäftsmann gehörte, eingekauft hatten. Daraufhin erschien in der Schaumburg-Lippischen Landeszeitung ein Artikel unter der Überschrift „Provokation“, in dem die Familie beschimpft wurde. Noch am selben Tag bildete sich in der Stadt ein Demonstrationszug mit Plakaten, auf denen stand: „Wer kauft beim Juden? Der Bürgermeister!“ und: „Muß i denn zum Städele hinaus“. Der Bürgermeister [wurde] tags darauf vom Landrat des Kreises Bückeburg vom Dienst beurlaubt.“

Wildt wertet diesen Vorfall im Juni 1935 als Beispiel für das erfolgreiche Agieren lokaler Kader und die Fortschritte in der Abspaltung des „Volksfeindes“. Man kann diesen Vorfall allerdings auch anders lesen, als Misserfolg, nach zwei Jahren der Hetze und Einschüchterung der nichtjüdischen Bevölkerung durch die massive Sanktionierung von Kontakten. Neben möglichen identitätsstiftenden Effekten bargen gewaltsame Aktionen als Propagandamittel auch ein Risiko für das Regime. Teile der Bevölkerung fühlten sich durch die brutalen Methoden der NSDAP abgestoßen, und selbst überzeugte Antisemiten empfanden sie als Rückfall in die Barbarei, als Bruch des staatlichen Gewaltmonopols. Hinzu kommt, dass die Gewalt alle Bevölkerungsteile einschüchterte und damit die wirklichen Haltungen und Meinungen verschleierte. Ein Vorbild ist die massive Zurschaustellung von Gewalt im Novemberpogrom 1938, die Zerstörungen, die Verhaftung von über 30.000 jüdischen Bürgern in allen Städten des Reiches und das öffentliche Erniedrigungsritual des Abtransports dieser unglückseligen Menschen in die Konzentrationslager.

„Die Gewalt war öffentlich, sie sollte die Ohnmacht des Opfers und die Macht der Täter zur Schau stellen. Es war der Sinn dieser Gewalttaten, dass sie selbst von unbeteiligten Passanten eine Stellungnahme erzwangen. Erst das Gewährenlassen verlieh dem Rechtsbruch den gewollten Erfolg. Die Opfer mussten ihre Ohnmacht erleiden, während die „Volksgenossen“ ihre Ermächtigung erfuhren.“

Die Forschung versucht seit Jahrzehnten die bei dieser Gelegenheit öffentlich manifestierten Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung zu entziffern und zu quantifizieren – vergeblich. Gerade weil die Gewalt sich nicht nur gegen Juden richtete, sondern auch immer eine Drohung gegen ihre nichtjüdischen Freunde, Kunden, Kollegen enthielt, sind Zustimmung und Ablehnung nicht deutlich bestimmbar. Dasselbe gilt in noch höherem Maße für die politisch ermächtigende Erkenntnis der eigenen rassischen Überlegenheit, die sich beim Anblick des erniedrigten Juden ergeben haben soll. Mangelnde Anteilnahme, ob sie nun durch Angst, Indifferenz oder schweigendes Einverständnis eingegeben war, musste dem Regime in jedem Fall recht sein. Ein Indiz für eine selbst in Ansätzen entstehende Volksgemeinschaft ist sie nicht. Wildt konkludiert zurecht, dass der Norm-Bruch der willkürlichen Gewalt gegen wehrlose Zivilisten die entscheidende Grenzüberschreitung ist und sich die Bevölkerung dabei durch Passivität zum Komplizen gemacht hat. Das Konstrukt der „passiven Komplizenschaft“, zuerst von israelischen Forschern Anfang der 80er Jahre vorgebracht, ist allerdings in erster Linie ein politisch-moralisches Argument, eine Schuldzuweisung und keine Ursachenklärung.

Deutschlandfunk 25. Juni 2007

Eine Chronik des Völkermords, die den Opfern ihre Menschlichkeit zurückgibt.

In Buchbesprechungen Jüdische Geschichte on November 7, 2006 at 9:33 am

Von Daniel Cil Brecher

Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945. München, Verlag C.H. Beck 2006, 864 Seiten, 34,90 Euro.

Etwa in der Mitte von Friedländers Buch begegnen wir Abraham Lewin, Lehrer an einer Mädchenschule in Warschau. Er führt Tagebuch über das Leben im sogenannten Ghetto, dem großen Gefängnis, das von den deutschen Besatzern im November 1940 für die jüdischen Bewohner der polnischen Hauptstadt errichtet worden war.
„Die Filmaufnahmen, die die Deutschen im Ghetto machen, gehen weiter“, schreibt Lewin am 19. Mai 1942 in sein Tagebuch. „Heute haben sie eine Filmsitzung im Restaurant veranstaltet. Sie brachten Juden herein, die sie abgeholt hatten, gewöhnliche Juden und gut gekleidete Juden, setzten sie an die Tische und befahlen, ihnen zu essen und zu trinken zu servieren, Fleisch, Fisch, Likör und andere Köstlichkeiten. Die Juden aßen, und die Deutschen filmten. Die Welt soll das Paradies sehen, in dem die Juden leben.“
Die Filmaufnahmen zeigten ein neues Bild des Ghettos. Bis dahin hatten die Wochenschauen Eindrücke von Mangel und Elend in die deutschen Kinos gebracht, inszeniert als vermeintliche Beweise für das Untermenschentum der Juden, Bilder, die Hass und Abscheu schüren und die Entrechtung und Verdrängung der jüdischen Minderheit legitimieren sollten. Die Wandlung im Propagandathema, die Inszenierung des glücklichen Lebens der Juden, ist einer der vielen Anhaltspunkte für das Kommende, von den Ghettobewohnern noch nicht verstanden. Sie markiert den Übergang vom befehlsmäßigen Hinschlachten, den Erschießungen, zum industriellen Massenmord.
„Die Deutschen haben an der Nowolipie-Straße eine originelle Filmkulisse aufgestellt“, notiert Lewin am selben Tag über ein in Szene gesetztes Begräbnis. „Der schönste Leichenwagen, den die jüdische Gemeinde besitzt, um ihn versammelt alle Kantoren von Warschau, zehn an der Zahl. Die Deutschen wollen anscheinend zeigen, daß die Juden nicht nur ein fröhliches Leben führen, sondern auch in Würde sterben.“
Acht Wochen später begann die Deportation der Warschauer Juden nach Treblinka. Sie dauerte bis zum 21. September. Zehntausend Juden kamen während der Räumung des Ghettos um, 265.000 wurden in Treblinka vergast, in eigens dazu gebauten Massentötungsanlagen, an denen noch gearbeitet wurde, als die Wochenschauaufnahmen im Ghetto entstanden. Der Lehrer Abraham Lewin führte sein Tagebuch bis zur endgültigen Liquidation des Ghettos im Frühjahr 1943 weiter. Dann wurde auch er umgebracht.
So schreibt Friedländer seine Chronik des Unfasslichen. Bild für Bild lässt er vor unseren Augen erscheinen, überall gibt er den Stimmen der Zeugen Raum, die der Opfer und Täter, Ort für Ort, Land für Land. Saul Friedländer ist der erste Historiker, der in dieser Singularität der Schicksale, ihrer Konkretheit und Vielstimmigkeit, die äußerst komplexe Geschichte von Verfolgung und Vernichtung von Millionen Menschen zu erzählen vermag, von Millionen Einzelnen, die fast allen Ländern, allen Schichten und Kulturen Europas entstammen. Die Perspektive der unmittelbar Betroffenen gibt den Opfern wieder ihre Menschlichkeit und Individualität zurück, ihre Würde, die in den Darstellungen der letzten Jahrzehnte aus dem Blickfeld verschwunden schien.
Seit dem Erscheinen von Raul Hilbergs „Die Vernichtung der Europäischen Juden“ 1961, der als erster eine Gesamtgeschichte fast ausschließlich aus den Aufzeichnungen der führenden Nationalsozialisten und den Akten der deutschen Behörden schöpfte, waren wir daran gewöhnt, die Vorgänge mit den Augen der Täter zu sehen, die in den Juden kaum mehr als eine undifferenzierte, verachtungswürdige Masse erblickten. Diese Verachtung im Blick der Täter hat Friedländer konterkariert. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß der Obertitel seiner zweibändigen Geschichte an das Werk von zwei Historikern der ersten Stunde anknüpft, an Leon Poliakov und Josef Wulf, deren bewegende Buch „Das Dritte Reich und die Juden“, 1955 erschien und noch nicht von der berufsmäßigen Sachlichkeit und Unbewegtheit des modernen Holocaust-Historikers geprägt ist.
Am 6. April 1944 schrieb Klaus Barbie, Gestapochef von Lyon, in einem Bericht an seinen Vorgesetzten: „In den heutigen Morgenstunden wurde das jüdische Kinderheim ‚Colonie enfant‘ in Izieu-Ain ausgehoben. Insgesamt wurden 41 Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren festgenommen. Ferner gelang die Festnahme des gesamten jüdischen Personals, bestehend aus zehn Köpfen, davon fünf Frauen. Bargeld oder sonstige Vermögenswerte konnten nicht sichergestellt werden.“
Im folgenden Absatz erwähnt Friedländer die Namen der Kinder, ihr Alter, ihr Herkunftsland; er nimmt eine halbe Seite seines Buches in Beschlag für dieses „winzige Ereignis in der Routine der deutschen Massenvernichtung“, wie er es nennt. Aber Friedländer enttäuscht auch nicht die, die eine Diskussion der grundsätzlichen Fragen erwarten. Ergaben sich der Vernichtungsplan und seine rücksichtslose Realisierung aus dem eisernen Willen und Führungsstil Hitlers oder entstanden sie aus dem unheilvollen Zusammenspiel wetteifernden Instanzen? Würde der Völkermord durch einen tiefsitzenden, besonders virulenten Antisemitismus der Deutschen ermöglicht? Oder spielten eher landläufige Motive wie Bereicherung und Machtstreben eine Rolle?
Die Erwähnung der 41 kleinen Kinder, deren Verhaftung von Barbie stolz gemeldet wurde, weist auf ein immer wiederkehrendes Thema Friedländers hin: das Doppelbild der Juden, das die Nazi sich und der deutschen Gesellschaft entwarfen. Einmal als eine mächtige, aggressive und gefährliche Gruppe, die Deutschland, ja die gesamte nichtjüdische Welt, existentiell bedrohten; dann als die Nebbiche und Nichtsnutze, die kränklich in den Ghettos vegetierten, die, wie die französischen Kinder, eigentlich wehrlos waren.
In den Augen Friedländers gab es keine einzigartig antijüdische Leidenschaft der Deutschen, sondern nur die Bereitschaft, sich mitreißen zu lassen durch den ständigen Strom der Verunglimpfungen und Zurücksetzungen einer Minderheit. Die Verfolgung und Vernichtung der Juden wurde von den Nationalsozialisten als Tat des Widerstandes gegen eine vermeintliche, existentielle Bedrohung der Deutschen dargestellt, als einen Akt putativer Notwehr, der aus den Verfolgern die intendierten Opfer der Verfolgten machte. Es ist diese Vorstellung einer umfassenden, aber kaum sichtbaren Bedrohung durch eine gleichzeitig als wehrlos und unterlegen wahrgenommene Minderheit, die das explosive Gemisch schuf, das den Prozess der Ausgrenzung, Verdrängung und Ermordung voran trieb.
Friedländer ist hier vor allem Chronist, ein Bewahrer der Geschichten von Verfolgung und Vernichtung und ein Wächter über die Würde der Opfer. Ein Buch, das man trotz des schrecklichen Themas nicht aus der Hand legen will.

Der erste Band der zweiteiligen Gesamtgeschichte des Holocaust, „Die Jahre der Verfolgung 1933-1939“ ist 1998 in deutsch erschienen. Saul Friedländer wurde 1932 in Prag in eine deutschsprachige Familie geboren. Seine Eltern kamen in Auschwitz um. Er selbst überlebte dadurch, daß er unter falscher Identität bei einer französisch-katholischen Familie aufgenommen wurde. Friedländer ist Professor für Geschichte an den Universitäten Tel Aviv und California, Los Angeles.

Gesendet im WDR 3 am 12. Nov. 2006

Babylonische Sprachverwirrung

In Buchbesprechungen Jüdische Geschichte on November 1, 2006 at 9:28 am

Von Daniel Cil Brecher

Antisemitismus – Antizionismus – Israelkritik.
Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2005
Herausgegeben vom Minerva Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv; Herausgeber: Moshe Zuckermann. Wallstein Verlag Göttingen, 446 S., 44 €

Auch wenn der Titel und die Herkunft des Bandes anderes vermuten lassen – das Buch ist keine Anklage sondern eine Verteidigungsschrift. Der Herausgeber und die vierundzwanzig Autoren des Jahrbuchs wehren sich gegen die polemische Verknüpfung von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik in der Öffentlichkeit und verteidigen das Prinzip, diese drei Phänomene getrennt zu betrachten, in der Politik wie in der Wissenschaft. Die meisten der hier vertretenen Forscher sind deshalb Ziel von Anfeindungen geworden.
Die politische Aussage des Buches ist deutlich: Auch die schärfste Kritik am Handeln Israels und an seiner Staatsideologie, dem Zionismus, ist nur selten durch Judenfeindschaft eingegeben und darf nicht von vornherein als ein Akt des Antisemitismus betrachtet werden und damit als verwerflich. Der Bezugsrahmen des Bandes ist die jüngste Vergangenheit – die Gewalt in Israel und den besetzten Gebieten seit dem Ausbruch der zweiten Intifada, die Zunahme von Angriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen in Europa und die Schlußfolgerung, die von israelischen Politikern und Sprechern jüdischer Verbände daraus gezogen wurde. Die Schlußfolgerung nämlich, daß die tätlichen Angriffe auf Israelis und Juden und die verbale Attacken gegen Israel Teil einer neuen, globalen Welle der Judenfeindschaft sind.

Die erste Salve des Bandes stammt von Georg Kreis, Basler Ordinarius für Neuere Geschichte, Vorsitzender der eidgenössischen Antirassismuskommission und selbst Zielscheibe von häufigen Angriffen in der Schweizer Presse. Er nimmt jedes Glied der Verkettung von Antisemitismus und Israelkritik einzeln aufs Korn. „Antisemitismus hat es schon vor der Gründung des jüdischen Staates gegeben, und er besteht auch weiter unabhängig von Israel. Für überzeugte Antisemiten kann Israelkritik gewiß eine der willkommenen Gelegenheiten zur Manifestation von Judenfeindlichkeit sein. Was man an Juden aussetzen zu können glaubt, wird potenziert am jüdischen Staat bemängelt. Das hat aber mit Kritik nichts zu tun, ist vielmehr lediglich die Anwendung negativer Vorurteile.“

Israelkritik sei erst dann antisemitisch, wenn sie sich auf die Ideenwelt der traditionellen Judenfeindschaft beziehe, wenn zum Beispiel israelische Politiker oder us-amerikanische Juden als heimliche Drahtzieher des Weltgeschehens dargestellt werden. „Das Problem ist dabei die Vorstellung des globalen Komplotts und der Heimlichkeit des Einflusses, nicht aber zwangsläufig die Feststellung des Einflusses. Es ist nämlich nicht antisemitisch, wenn man etwa bemerkt, daß Juden gemessen an ihrer Zahl einen überproportionalen Einfluß auf die einzig übriggebliebene Supermacht haben.“

Kreis nimmt sich insgesamt zehn solcher Fragen vor: Gibt die Kritik an Israel dem Antisemitismus neue Nahrung? Werden die Handlungen des Staates mit einem besonderen Maßstab gemessen? Und: Ist der Vergleich von Taten der israelischen Armee mit denen der Nationalsozialisten von vorn herein antisemitisch? „Desgleichen werden auch die amerikanische Armee oder die französische Polizei mit SS-Schergen gleichgesetzt. So unangemessen diese Vergleiche sind, weil sie das Bezeichnete überzeichnen und die nationalsozialistischen Schandtaten verharmlosen – antisemitisch ist das nicht.“

Eine der Thesen, die Kreis aufgreift und verwirft, ist das Aufkommen eines „Neuen“ Antisemitismus. Dieser Sichtweise zufolge sind die Bombenanschlägen auf Israelis, die tätlichen Angriffe auf Juden in Europa und die verschärfte Kritik an Israel ein neues, globales Phänomen, in dem sich die traditionellen Träger des Antisemitismus, also konservative und rechte Strömungen in Europa, mit amerika- und israelfeindlichen Tendenzen unter Arabern und Moslems vereinen.
Der Philosoph Brian Klug, Fellow der Universität Oxford und Redakteur der englisch-jüdischen Zeitschrift „Patterns of Prejudice“ bezeichnet diese Idee in seinem Aufsatz als die Zwangsvorstellung vom „globalen Krieg gegen die Juden“. Brian Klug analysiert eine Reihe von populären und wissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre, verfaßt von Juden oder Israelis, die Parallelen ziehen zwischen der Intifada in den besetzten Gebieten, dem „Angriff“ auf das Diaspora-Judentum, wie es wörtlich in einer der Publikationen heißt, und den Attentaten in New York und Washington am 11. September 2001. Juden, der Staat Israel und die USA werden als Zielscheiben einer globalen „Intifada“ gesehen, eines Zivilisationskampfes, deren Urheber im Dunkeln bleiben. Sie entstammen jenem Schattenreich, das uns laut Klug als „Netzwerk des Terrors“ oder einfach als „Terrorismus“ präsentiert wird. Unsere Gegner im Kampf um das Überleben des Westens sind ungreifbar, wie einer der von Klug besprochenen Autoren es so unvergleichlich auszudrücken weiß.

„Es ist, als ob wir uns in einem schlechten Film befinden, in einem jener Filme, in denen der Widersacher uns immer wieder aufs Neue angreift, immer wieder aufsteht, auch wenn wir ihn gerade getötet haben. Wer kann die Welt noch von diesem Wahnsinn befreien, der die Juden und den Westen zu vernichten droht?“

Eine Reihe israelischer Autoren befaßt sich kritisch mit dem Antisemitismus-Diskurs unter israelischen Intellektuellen, in dem der palästinensische Kampf gegen Besatzung und Unterdrückung oft in die Nähe der Nazi-Verbrechen gerückt wird. Einige gehen auch den Verbindungen von klassischem Antisemitismus und anti-jüdischen Feindbildern unter Moslems nach. Vier Aufsätze des Sammelbandes beschäftigen sich neben dem politischen und medialen Diskurs mit den manifesten, weniger zweideutigen Formen der Judenfeindschaft, also den zunehmenden Angriffen auf jüdische Einrichtungen und einzelne Juden. Auch hier stehen die politischen und wissenschaftlichen Kontroversen der letzten Jahre im Mittelpunkt, also die Vorwürfe der Instrumentalisierung des Antisemitismus durch Israel einerseits, und andererseits der Verharmlosung der Judenfeindschaft in den Medien und unter islamischen Jugendlichen. Die Beiträge bieten uns auch einen Nachhall des Konflikts zwischen zwei wichtigen europäischen Institutionen – dem Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin und der europäischen Beobachtungsstelle für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Wien.

Die Welle antijüdischer Übergriffe im Frühjahr 2002 wurde in den Medien von der Kritik an den zeitgleichen israelischen Militäroperationen in Dschenin und Bethlehem begleitet. Unter politischem Druck bestellte die EU-Kommission eine Studie über mögliche Verbindungen. Im Auftrag der Wiener Beobachtungsstelle wurde sie vom Zentrum für Antisemitismusforschung ausgeführt, aber nach Fertigstellung nicht veröffentlicht. Bestimmte Folgerungen der Studie gingen den Auftraggebern zu weit: nämlich, daß die Gewalt durch ein negatives Bild Israels in den Medien vorbereitet wurde und islamische Jugendliche von einem neuen, islamischen Antisemitismus beeinflußt seien.
In einem der wichtigsten Beiträge des Bandes beschäftigt sich der Duisburger Sprachwissenschaftler Siegfried Jäger mit den Methoden dieser und anderer Studien und gelangt überraschend zu einer grundsätzlichen Kritik an den Konventionen dieses Forschungszweiges. Es herrsche „babylonische Sprachverwirrung“ über den Antisemitismusbegriff. Er führe nicht zufällig zu Fehlschlüssen, sondern zwangsläufig. Die Frage, ob eine journalistische Metapher, die Ariel Scharon und Donald Rumsfeld um ein Goldenes Kalb tanzen läßt, schon einen Verweis auf die „Weltverschwörungstheorien“ des klassischen Antisemitismus beinhalte, beantwortet Jäger so: „Das Symbol vom Goldenen Kalb kann als antisemitisches Stereotyp wirken, es muß aber nicht als solches gelesen werden. Die Frage ist immer, ob es als solches gemeint ist und auf wen es als solches wirkt. Das Bemühen um Eindeutigkeit bleibt einem Denken verhaftet, das eine 1:1-Relation zwischen Sprache und Wirklichkeit unterstellt. Damit wird den Wörtern etwas aufgebürdet, daß sie überhaupt nicht zu leisten imstande sind: Wahrheiten zu enthalten, die objektiv und überall gültig sind.“

Die Frage, wo die Grenze zwischen begründeter und antisemitisch motivierter Israel-Kritik liege, sei praktisch nicht zu beantworten. Aussagen über Juden oder Israel in den Medien müßten im Einzelfall und in ihrem gesamten diskursiven Kontext analysiert werden, um zu eindeutigen Schlüssen kommen zu können. In jedem Fall verschiebe sich jeweils die Grenze je nach politischer Ausrichtung des Sprechers und des Rezipienten, je nach Land, Kultur und sozialer Schicht . Daß europaweite Studien zu verzerrten Ergebnissen und schließlich zu Streit führen, ist also kein Zufall. Jägers Fazit: Der in den Studien verwendete Antisemitismusbegriff ist brüchig und für jedwede Analyse untauglich.
Die in diesem Band versammelten Autoren verteidigen ihre Positionen mit wissenschaftlichen Argumenten, in Polemiken gegen Kollegen, die hinter der vorgehaltenen Hand des Fachjargons vorgebracht werden, und in scharfen, brillanten Gegenangriffen. All das macht diesen uneinheitlichen, schlecht oder gar nicht redigierten Band packend und lesenswert.

Gesendet im Deutschlandfunk am 30.Mai 2005