Daniel Cil Brecher

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Das Gespräch über Israel im Westen. Wie es entstand und was es bedeutet.

In Blogroll, Vorträge on Mai 9, 2012 at 1:42 pm

 Vortrag gehalten an der Eberhard Karls Universität Tübingen, an der Ev. Stadtakademie München und an der Volkshochschule Ulm 28.4.-2.5. 2012

Jedes Mal wenn ich zu einem Vortrag aufbreche, bitte ich den israelischen Staatspräsident Shimon Peres um ein Zitat. Auch diesmal hat er meiner Bitte entsprochen. In einem Interview mit der Zeitung Maariv Ende April 2012 beschrieb er den Sieg Israels im Jahre 1948 folgendermaßen:

„Israel, rechnerisch und praktisch, hätte nicht entstehen dürfen. Vor dem Unabhängigkeitskrieg schienen unsere Chancen Null. Wir waren 650.000, sie waren 40 Millionen. Sie hatten sieben Armeen, wir kaum 5.000 Soldaten . Wir dachten, dass wir am Rand der Katastrophe standen, aber wir gewannen trotzdem, dank verborgener Kräfte. Seitdem habe ich mein ganzes Leben lang versucht, diese verborgenen Kräfte zu verstehen. “

Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, heute Abend diesen „verborgenen Kräften“ nachzuspüren.

Um den Israel-Diskurs, die Umstände seiner Entstehung, seine Absichten und Bedeutungen zu charakterisieren, habe ich drei Beispiele ausgewählt:

• die Erzählungen über die Motive für die Balfour-Erklärung 1917, wie sie nach 1917 und 1945 entstanden;

• der Diskurs der „besonderen Freundschaft“ zwischen den USA und Israel, der sich nach 1960 entwickelte;

• und die Entstehung des Gespräches über Israel in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Themen westlicher Erzählungen betreffen sowohl den Charakter des (Heiligen) Landes, den Charakter des jüdischen Volkes und die Motive der (nicht-jüdischen) Unterstützer. Volk und Land erscheinen als ein Ausnahmefall, in dem die Gesetze der Geschichte keine Gültigkeit haben, und die staatlichen Protagonisten als Akteure in einem meta-geschichtlichen Raum, in dem sie geschichtliche Entwicklungen zu revidieren suchen. Die wichtigsten Schlagworte dieses Zykluses sind die Begriffe „Rückkehr“ und „Freundschaft“. Hier ein Zitat von Arthur James Balfour, dem britischen Außenminister der Weltkriegsjahre, der die britische Erklärung zugunsten einer jüdischen „Heimstätte“ in Palästina 1917 unterschrieben hat:

„Ich habe meine Zweifel“ schrieb er 1919 in einem Vorwort zu einer Geschichte des Zionismus, „ob es für eine Person, die weder von der Rasse noch der Religion Jude ist, überhaupt hilfreich sein kann, ein Buch über Zionismus einzuleiten. Die einzige Voraussetzung, die ich vorweisen kann, ist mein lebenslanges Interesse an jüdischen Fragen.“ Balfour entgegnet im Vorwort der wachsenden Kritik an der britischen Nahostpolitik, und zeigt gleichzeitig, dass er in der Sprache der „Freundschaft“, im philosemitischen Diskurs, gut geschult ist. Auf den Einwand, dass sich der Lauf der Geschichte nicht revidieren ließe, Juden das Entstehungsgebiet ihrer Religion nicht einfach re-kolonisieren könnten und keine andere Gruppe ähnliche Forderungen stelle, antwortete er:

„Die Antwort lautet, dass es keine vergleichbaren Fälle gibt. Die Lage der Juden ist einmalig.“

I.

Mit der Balfour-Erklärung vom November 1917 war der erste, vielleicht wichtigste Moment in der Entwicklung der Erzählungen vom jüdischen Staat gekommen. Die spätere Darstellung dieser Erklärung bildet die Grundlage für den Mythos der Erwünschtheit: der jüdische Staat als Wunschkind des Westens, geboren aus dem Bedürfnis, das historische Unrecht, das die christlich Zivilisation an den Juden begangen hat, wieder gut zu machen.

Um die spätere Mystifizierung der Balfour-Erklärung verständlich zu machen, hier eine kurze Skizze des Kontexts und der Ziele.

Die Balfour-Erklärung entstand in einer äußerst prekären Situation – am politischen und militärischen Tiefpunkt  des Ersten Weltkrieg. Der erste Schritt war militärisch-propagandistisch: Die Regierung in London erwog im Dezember 1915 – nach dem Fiasko von Gallipoli und auf der verzweifelten Suche nach militärischen Alternativen zur hoffnungslos festgefahrenen Lage in Flandern – eine Eroberung Palästinas. Der Angriff auf das vom Türkischen Reich beherrschte Gebiet (vom nahen Suezkanal aus) sollte den Gegner an einer ungeschützten Flanke treffen – und ein relativ einfach zu erreichendes Kriegsziel schaffen, das eine hohen propagandistischen Wert besaß. Mit diesen Vorgaben begannen Ende 1915 die internen Überlegungen und externen Verhandlungen, die innerhalb von vierundzwanzig Monaten in der Eroberung Palästinas und der Veröffentlichung der Balfour-Erklärung mündeten.

Bei den Whitehall-Diskussionen standen zwei Fragen im Vordergrund: 1. Was sind die minimalen strategischen Erfordernisse Großbritanniens im Nahen Osten 2. Wie kann man sie mit den Interessen der Alliierten in Übereinstimmung bringen; mit denen Frankreichs, dem wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen Deutschland, das auch Anspruch auf Palästina erhob; und mit denen der arabischen Führer, die sich auf Initiative der Briten zu einem Aufstand gegen die türkische Oberherrschaft entschlossen hatten. Bis zum Frühjahr 1916 klärte sich Frage 1: London sah in Palästina hauptsächlich einen zweiten Weg nach Indien: mit einen Hafen (Akko), und einen Landweg zum Persischen Golf. Palästina musste als strategische Alternative zum Suezkanal dienen.

Die Antwort auf Frage 2 war schwieriger. Frankreich beanspruchte in Palästina Kontrolle über einen Teil der Mittelmeerküste, und über Jerusalem; die arabischen Stammesführer forderten und erwarteten Kontrolle über das gesamte Gebiet. Großbritannien und Frankreich einigten sich nach einigen Monaten der Verhandlungen (im Sykes-Picot-Abkommen) darauf, dass London einen großen Teil Westpalästinas und Jerusalem an Frankreich überlassen würde im Tausch gegen die Bucht von Haifa/Akko, und den Negev/Sinai von Rafah bis Akaba. Auch Hussein bin Ali, dem Sheriff von Mekka, erhielt von London äußerst großzügige Zusicherungen, allerdings vage, für einen unabhängigen arabischen Staat im gesamten Nahen Osten, inklusive Palästina. Besonders der im Sykes-Picot-Abkommen erzielte territoriale Kompromiss war von vorn herein intern umstritten. Die Tinte war noch nicht trocken, als sich Londoner Politiker auf die Suche nach Auswegen machten.

Das dritte Versprechen im Herbst 1917 – gegenüber den Zionisten – war in vieler Hinsicht kaum mehr als ein Ausweg aus den ersten zwei: eine akzeptable Formel, die es London erlauben sollte, sich aus den Abmachungen mit Frankreich und dem Sheriff von Mekka zurückzuziehen. Als Anfang der Zwanziger Jahre der Umfang aller Zusagen ans Tageslicht kam, münzte ein libanesisch-amerikanischer Schriftsteller den Ausdruck „das zu vielen Gelobte Land“.

Um sich den widersprechenden Zusagen zu entziehen, und weil London auf Westpalästina eigentlich nicht verzichten wollte, war London ab Ende 1916 bereit, Palästina den Zionisten zu geben. Das Ziel war, damit selbst die Kontrolle über Gesamtpalästina zu behalten, mit Zustimmung der Alliierten. Einer der ersten, der diesen Weg vorschlug, war der Südafrikaner Jan Smuts, Mitglied des Londoner Kriegskabinetts. Großbritannien könne sich als Schirmherrin der zionistischen Bestrebungen ausgeben und wäre dann in der Lage, die Abkommen mit dem Sheriff von Mekka und Frankreich im Namen eines höheren Ideals zu brechen, indem es den Jahrhunderte alten Traum der Juden der Rückkehr ins Gelobte Land zu erfüllen vorgab, suggerierte Smuts. Er schlug auch die Form vor: ein Mandat oder Trust, in dem Großbritannien das Land bis zur politischen Reifung des zionistischen Traumes selbst kontrollieren konnte. Mit dieser Formel wollte er eine politische Öffnung für den US-Präsidenten Wilson bieten, der sich zu Kriegsbeginn auf eine anti-koloniale Politik festgelegt hatte und gerade einen Kriegseintritt der USA im Kampf gegen Deutschland erwog. London und Paris brauchten die Truppen der USA dringend, während Woodrow Wilson sich, völlig zurecht, Sorgen über die Kriegsziele seiner zukünftigen Verbündeten machte. Smuts und sein Kollege Mark Sykes, der die Verhandlungen mit Francois Picot geführt hatte, sahen in den Zionisten, praktisch einfluss- und machtlos, kaum mehr als willige Erfüllungsgehilfen für die Realisierung der strategischen Interessen Londons. Die „Traum von der Rückkehr“ sollte die Cover-Story bieten, und die Zionisten sollten sie liefern.

Sykes nahm Kontakt mit den Zionisten auf, die sich nur zu gerne auf die Verhandlungen einließen. Unter Führung von Chaim Weizmann wurde monatelang um die Formulierung einer britischen Absichtserklärung gerungen. Die Zionisten rangen, und die britische Regierung tat so, als ob hart gerungen werden musste. In Wirklichkeit maß London der genauen Formulierung der Erklärung keine besondere Bedeutung zu. Was ihnen wichtig war: eine noble Erklärung, die nach dem Einmarsch britischer Truppen in Jerusalem veröffentlicht werden konnte.

Im Laufe des Jahres 1917 kam noch ein weiterer Faktor hinzu. Amerikanische Gegner des Kriegseintritt der USA hatten einen jüdischen Aspekt ins Spiel gebracht. Die USA könnten nicht, so argumentierten sie, einem Kriegsbündnis beitreten, dem auch der russische Zar angehöre; ein autokratischer Herrscher, der den Antisemitismus für seine Innenpolitik missbrauche. Diese philosemitische Note in der Diskussion war ein Geschenk an Briten und Zionisten. Frankreich – das verzweifelt auf amerikanische Verstärkung für die Westfront hoffte – konnte nun unter Druck gesetzt werden. Eine Zustimmung für die „jüdischen Heimstätte“ – unter britischer Schirmherrschaft – und ein Verzicht auf ein französisches Westpalästina bedeutete die Zustimmung der amerikanisch-jüdischen Öffentlichkeit für den Kriegseintritt der USA. So kam es, dass die Londoner Regierung darauf bestand, die Balfour-Erklärung in einer jüdischer Zeitung zu veröffentlichen, adressiert an den Führer der britischen Juden, Lord Rothschild, einem Nicht-Zionist. Wie der Zionist Max Nordau am Ende sagte: Hätte es die Zionisten nicht gegeben, die Briten hätten sie erfinden müssen.

Nach Veröffentlichung der Erklärung setzte eine Revidierung der Vorgeschichte ein. In zwei Wellen nach 1917 und 1948 entstanden Erzählungen, die sich um die Konstruktion einer philosemitischen Motivation für die Balfour-Erklärung bemühten. Die britische Unterstützung für eine jüdische Heimstätte in Palästina durfte nicht als Kriegstaktik des Jahres 1917 erscheinen, deren Haltbarkeit bereits im Herbst 1918 abgelaufen war. Sie musste als Ausdruck langfristiger Absichten und wohlüberlegter britischer Interessen gelten können, und eine Respektabilität erhalten, die sie in den Augen von Zeitgenossen offenbar nicht besaß. Die Balfour-Erklärung durfte nichts anderes sein als das Ergebnis eines lang bestehenden, zentralen britischen Anliegens, Juden wieder in Palästina anzusiedeln. Hier lag eine Herausforderung, die pro-zionistische Autoren gerne aufnahmen.

Vor dieser entscheidenden Phase hatte der Diskurs über den Zionismus einen ganz anderen Ton. Die Sprache, die im Westen über die zionistischen Pläne vorherrschte, war noch durch die von Theodor Herzl propagierten Phantasien über die Nützlichkeit von Juden bestimmt. „Wenn Seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln“, hatte Herzl in Der Judenstaat  geschrieben. „Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Cultur gegen die Barbarei besorgen. […] Die Staaten hätten ferner den Vortheil, dass ihr Exporthandel gewaltig wüchse, denn da die ausgewanderten Juden drüben noch lange auf die europäischen Erzeugnisse angewiesen wären.“

Britische Politiker und Zionisten mussten ihr Projekt nach 1917 in eine neue Sprache fassen, um ihm Substanz und Legitimität zu verleihen und um Zustimmung für ein Projekt zu gewinnen, das von Anfang an umstritten war. Die Nützlichkeitsphantasien über Juden gehörten – wie die Idee des Zionismus selbst – in ein koloniales Zeitalter, das sich 1918 sehr schnell seinem Ende näherte. Es war Zeit, das zionistische Projekt in die Sprache einer neuen Epoche zu übersetzen: in Begriffe wie Idealismus, Pioniergeist und Selbstbestimmung.

II.

Die Geschichte, die in den USA über die „besondere Freundschaft“ mit Israel erzählt wird, ist aus vielen Gründen besonders erzählenswert. Sie

hat schon aus praktisch-politischen Gründen ein große, strategische Bedeutung. Die USA ist das Land, das Israel finanziell, politisch und militärisch unterstützt, das Land, ohne das Israel wahrscheinlich die Position, die es heute einnimmt, nicht erreicht hätte. Wir dürfen auch annehmen, dass die ungebremste Selbstbereicherung durch Israel an palästinensischem Land und andere Ressourcen ohne die – meist widerwillige – Duldung der USA-Regierung und des Kongresses nicht stattfinden könnte.

Der Ursprung von den Erzählungen über die besondere Beziehung liegt um 1960. Der direkte Kontext waren das Bemühen der demokratischen Partei um jüdische Wähler im Wahlkampf von 1960 und der Kalter Krieg. Die Themen des Freundschafts-Diskurses standen von Anfang an unter dem Vorzeichen des Idealismus: Auserwähltsein; die besondere historische Bestimmung und nationalen Aufträge beider Völker; und die Landnahme im Namen der Befreiung von religiöser und sozialer Unterdrückung. Besonders der Mythos vom gemeinsamen Sonderweg und von den Parallelen in der Geschichte der USA und Israels haben nach 2001 – dem Anschlag auf das World Trade Center und der zweiten Intifada – eine neue Bedeutung erhalten, die vom Gerechten Verteidigungskrieg, der den beiden Staaten von gemeinsamen Feinden auferlegt wird.

Vor 1960 war die Politik von US-Regierungen gegenüber Israel überwiegend skeptisch, vorsichtig und auf Abstand bedacht. Den dringenden, häufigen Bitten Israels ab 1948 um Waffenlieferungen gab eine US-Regierung erst 1962 nach, mit einer Lieferung von nur defensiv einsetzbaren Hawk-Luftabwehrraketen, die ein Gegengewicht zur Lieferung von sowjetischen Kampfflugzeugen an den Irak und Ägypten bieten sollten. Zur gleichen Zeit erhielt Jordanien bereits Panzer und Flugzeuge aus Washington.

Eines der Kennzeichen der nach 1960 entstehenden Erzählung von der tiefen, in der gemeinsamen Geschichte verwurzelten Freundschaft ist die Verlängerung nach hinten. Wie schon bei der Erzählung über die Ursprünge der Balfour-Erklärung wurde, und wird, auch in hier eine neue, sich ständig vergrößernde und vertiefende Vorgeschichte erfunden.

Die zwar in Motivationen unterschiedliche, aber im Resultat ähnliche Politik der US-Regierungen von 1917 bis ca. 1947 lässt sich auf eine Formel bringen: die ethnisch-religiösen Spannungen im Nahen Osten nicht durch eine Unterstützung des Zionismus zu vergrößern und nicht den Interessen des Bundesgenossen Großbritannien zuwider zu handeln, für den bereits ab 1920 die Ausführung der pro-zionistischen Balfour-Politik immer schwieriger wurde.

Ab 1948 war die US-Politik in Nahen Osten dann auf eine Eindämmung des Einflusses der UdSSR gerichtet und auf die Verhinderung eines Rüstungswettlaufs. Die USA übernahmen nach 1950 zudem die britische Rolle am Golf – den Schutz westlicher Öl-Interessen. Die Beziehung zum Staat Israel war in den Augen von US-Präsidenten zwischen 1947-1967 durch die Existenz einer großen jüdischen Bevölkerung und Wählerschaft erschwert. Es ging die Sorge um, dass die USA gerade wegen dieser großen Bevölkerungsgruppe militärisch in die Nahost-Ostkonflikt hineingezogen werden könnten.

John F. Kennedy war einer der ersten, der den entstehenden Mythos von den besonderen Beziehung politisch einsetzte, als Senator während des Wahlkampfs und dann als Präsident. Washington trieb zu dieser Zeit die Sorge um eine atomare Proliferation in der Region und das Bemühen, Israel von einer Entwicklung von Nuklearwaffen abzuhalten. Mit seiner Beschwörung der „besonderen Beziehung“ wollte Kennedy zugleich jüdische Wähler anziehen und die amerikanischen Verpflichtungen für die Sicherheit des bedrohten Staates betonen, ohne dass die USA bereit waren, Israel eine formelle Sicherheitsgarantie zu geben.

Im Sommer 1960 formuliert Kennedy als Senator den Kanon der besonderen Beziehungen so: „Wir müssen uns daran erinnern, dass Israel ein Anliegen darstellt, das jenseits der normalen Wechselfälle des öffentlichen Lebens in Amerika steht. Die Ideale des Zionismus wurden im letzten halben Jahrhundert wiederholt von Präsidenten und Mitgliedern des Kongresses unterstützt. Die Freundschaft mit Israel ist eine nationale Verpflichtung. Es war Präsident Woodrow Wilson, der mit prophetischer Weisheit die Schaffung eines jüdischen Heimatlandes ankündigte.“

Die Erwähnung von Woodrow Wilson war kein Zufall. Kennedy zitierte aus einer neuen, fiktiven Vorgeschichte der amerikanisch-israelischen Beziehungen. Woodrow Wilson, der sich den Londoner Bitten um Unterstützung im Herbst 1917 deutlich entzogen hatte, wird darin eine Schüsselrolle beim Zustandekommen der Balfour-Erklärung zugeschrieben. Zusammen mit der Erzählung von der Schlüsselrolle Harry S. Trumans (Präsident in den Entscheidungsjahren 1945-48) bei der Abstimmung in der UNO 1947 und der Anerkennung des Staates 1948 werden damit die USA zum wichtigsten Geburtshelfer Israel stilisiert. Dass den Präsidenten Wilson und Truman dabei eine besondere Rolle zugeschrieben wurde, hatte vor allem mit einem zu tun: sie waren in diesen, erst im Nachhinein bedeutenden Schlüsselmomenten in Washington and der Macht gewesen. In den historischen Darstellungen bis Ende der 50er Jahre war von diesen Geburtshelfer-Rolle, ja von einer besonderen Beziehung, noch keine Sprache.

Im Mai 2004 beschrieb George W. Bush vor dem America Israel Public Affairs Committee in Washington die besondere Freundschaft so: „Unsere Nation und die Nation Israel haben viel gemeinsam. Wir beide sind relativ junge Nationen, entstanden im Kampf und durch Aufopferung. Beide wurden wir von Einwandern gegründet, die vor religiöser Verfolgung in anderen Ländern flüchteten. Beide haben wir lebendige Demokratien geschaffen, die auf Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft beruhen. Und wir beide sind Länder, die auf bestimmten Glaubensgrundsätzen basieren: dass Gott über die Angelegenheiten der Menschen wacht und jedes Leben für wertvoll hält. Diese Bande machen uns zu natürlichen Verbündeten. Diese Bande werden nie zerbrechen.“

Mit dem Hinweis darauf, dass beide Nationen „jedes Leben“ für wertvoll hielten, zog Bush eine Grenze, bei der auf der einen Seite Juden, Christen, Israelis und Amerikaner standen und auf der anderen so diverse Gruppen wie die Befürworter von straffreien Abtreibungen, Nazis und Moslems.

Die gemeinsame Geschichte hat sich inzwischen narrativ weiter vertieft und verbreitet. Der israelische Botschafter in Washington Michael B. Oren brachte 2007 die Idee der Zusammengehörigkeit von Juden und christlichen Amerikanern auf eine einfache Formel: „Eine 400 Jahre alte Tradition, in der die Idee der Vereinigten Staaten eigentlich untrennbar ist von der Idee eines wieder entstehenden jüdischen Staates, [eine Tradition,] in der die Überzeugung verkörpert ist, dass der Glaube an die Jüdische Nation gleichbedeutend ist mit dem Glauben an die Vereinigten Staaten“.

III.

In der Bundesrepublik Deutschland hat das Verhältnis zu Israel eine außerordentliche Bedeutung. Die jüngste Auseinandersetzung um das Iran-Gedicht von Günter Grass hat uns das Besondere, oder Absonderliche, an diesem Verhältnis einmal wieder drastisch vor Augen geführt.

In der BRD ist in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ein umfassendes Wunschbild von Juden, vom jüdischen Staat und seinen jüdischen Bürgern entstanden, ein Wunschbild, das spezifisch deutsche Züge trägt und das Gespräch über Israel in der Bundesrepublik über Jahrzehnte beeinflusst hat.

Ich will im Folgenden die Entstehung dieses Wunschbilds beschreiben. Es entstand als Teil der Hinwendung zu Israel in den Fünfziger Jahren, einem eigentlich auf kollektive Selbstbilder gerichteten Interesse, das zaghaft begann und ab Mitte der Sechziger Jahre zu einem zentralen Phänomen der Nachkriegsgeschichte wurde. Die damit verbundenen Idealisierungen des jüdischen Staates wurden zu einen wichtigen Element der politischen Identität der Bundesrepublik und seiner Eliten, zum Symbol der West-Orientierung und des erfolgreichen Wandels zu Demokratie, Toleranz und Liberalismus. Die israelische Gesellschaft und Politik konstruierte daraus ihre eigenen Bedeutungen und nutzte die Hinwendung für eigene Interessen.

Die Geschichten, die in Deutschland über Israel erzählt werden, und in Israel über Deutschland, begannen sich zu ergänzen. Damit setzte jener bemerkenswerte Prozess gegenseitiger Identitätsverstärkungen ein, der die Bundesrepublik und Israel mit einander verband und die Eliten beider Länder einander näher brachte. Auch die staatlichen Narrative begannen sich zu ergänzen und gegenseitig zu verifizieren – das israelische vom Holocaust als Sinnbild der jüdischen Geschichte, aus dessen Griff der Staat Israel die Juden zu befreien vorgibt; und der besonderen Rolle, die dem Staat aus dem Holocaust erwachsen war; und das westdeutsche Narrativ von der „Tätergesellschaft“, in der die Lehren aus der Vergangenheit, die kollektive Verantwortung gegenüber Juden und Israel und das Bekenntnis dazu im Vordergrund standen, die Frage der Verantwortlichkeit oder Mitverantwortlichkeit Einzelner für die Verbrechen aber in den Hintergrund trat.

Die Hinwendung zu Israel begann Anfang der Fünfziger Jahre an den Margen der Gesellschaft. In Deutschland formte sich die Aktion „Friede mit Israel“, die einen Dialog mit den Juden in Israel, aber auch in Deutschland suchte. Bislang hatte die Politik und ein Großteil der Medien noch keine Sprache für die Verbrechen und für einen Dialog mit den Opfern gefunden. Für Politiker waren Fragen der Verantwortung und ihre Verbindung mit Entschädigungsforderungen ein heikles Thema. Umfragen ließen deutlich erkennen, dass die Bevölkerung Westdeutschlands sich selbst als hautsächliche Opfer der Kriegsjahre sah. Etwa die Hälfte lehnte Entschädigungszahlungen ab.

Die Sprache, mit der über Juden und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in der Öffentlichkeit gesprochen wurde, blieb vorsichtig, defensiv und möglichst abstrakt. Ein Mitarbeiter Konrad Adenauers berichtete später, sein Chef habe „jahrelang nichts zum Thema Juden gesagt, weil er das deutsche Volk in seiner Gesamtheit für die Demokratie gewinnen wollte. Hätte Adenauer schon 1949 gesagt, was wir in der Vergangenheit getan haben, dann wäre doch das deutsche Volk gegen ihn gewesen.“

Einer der Initiatoren und Schöpfer des neuen deutschen Gespräches über Israel war der Hamburger Journalist und FDP-Politiker Erich Lüth, Direktor der Staatlichen Pressestelle der Hansestadt Hamburg, Initiator der Aktionen „Friede mit Israel“ (1951), der „Ölbaumspende“ (1952) und Mitbegründer der Hamburgischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Er war einer der ersten Deutschen, der auch eine Einladung zu einer Reise nach Israel erhielt, die im April 1953 auf dem Hintergrund der Wiedergutmachungsdebatte im Bundestag stattfand.

Lüth schrieb über seinen 14tägigen Besuch ein Buch, „Reise ins Gelobte Land“ , das im Sommer 1953 erschien – zusammen mit einer großen Zahl seiner Artikeln und Rundfunkinterviews. Hier finden wir die erste spezifisch deutsche Sicht auf Israel, die schon alle Elemente des besonderen deutschen Israel-Diskurses in sich birgt. Einige Beispiele:

In Lüths Beschreibung repräsentieren die Juden Israels das Morgen, die Araber das Gestern. Die Energie der Juden, ihre Tüchtigkeit, die westliche Rationalität ihrer Industrie, Landwirtschaft und ihrer sozialen Einrichtungen, wird in den Gegensatz zu den traditionellen Praktiken der Araber gestellt, die in den Augen von Lüth in der Irrationalität gefangen bleiben. Warum haben sie die Bäume abgeholzt, fragt Lüth immer wieder. Es ist ihre Ignoranz. „Selbstvernichtung“ nennt Lüth die Rodung der Hügel, während er die jüdischen Gegenmaßnahmen immer wieder als „Rettung“ des Landes bezeichnet. Auf diese Weise, will Lüth sagen, haben sich die Araber selbst um ihre Heimat gebracht, sie durch Ignoranz und Fatalismus verspielt.

Nur die Araber selbst sind Schuld an ihrem Aberglauben, an ihrer Rückständigkeit. Ein Kibbuz ist nach „wenigen Jahren harter Aufbauarbeit bereits ins dichtes Grün gebettet“ denn auch die „Erde Judäas ist fruchtbar, sobald man sie durch künstliche Bewässerung ihrer Verdorrung entreißt.“ Bald werden diese Hügel überall zu einem „Waldgebirge voller fruchtbarer Lichtungen und paradiesischer Gärten werden.“ „Die Araber haben unbekümmert Raubwirtschaft betrieben.“

Der Slogan von der „Fruchtbarmachung der Wüste“ war eines der Codewort für die israelische Landnahme und ihre Rechtfertigungen. Israels erster Premier David Ben Gurion sprach gerne ausführlich darüber mit ausländischen Gästen und Politikern. Als 1963 zum ersten Mal eine Gruppe deutscher Freiwilliger Ben Gurion besuchte, bat er die Vertreter der Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste, möglichst viele junge Deutsche nach Israel zu bringen: „Sie können helfen, die Wüste fruchtbar zu machen“, sagte er.

Das Aufblühen Palästinas durch die Rückkehr der Juden war eine Vorstellung, die sich auf die biblische Geschichte und christliche Traditionen berufen konnte.

Lüth nimmt die jüdischen Bürger des Staates nicht mehr als „Juden“ wahr, sondern als „neue Menschen“, die von den negativen Assoziationen des Diasporatums befreit sind. Hier vermischen sich die Wunschbilder des Zionismus mit denen einer Gesellschaft, die jetzt eine Transformation vom Antisemitismus zum Philosemitismus herbeiwünscht. Zitat „Die letzten Reste des Ghettos, die bis in die volle Emanzipation und bis in die Assimilierung fühlbar blieben, haben sich im neuen Staat Israel in ein Nichts verflüchtigt.“ Lüth schreibt über die „alten“ Juden als „ruhelose Wanderer“, vom „jüdischen Typus“, von „jenen alten Merkmalen“, die „teils durchaus positiv“ waren, aber nun endlich, nach der „Heimkehr in das Land der Väter“, verschwunden sind. Diese transformatorische Logik ist eines der Bindeglieder zwischen der Ideologie Israels und dem Geist der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland.

Das Deutsche steht nun, nach Hitler und der Niederlage, als das Schwächliche und Verabscheuungswürdige dar, das Jüdisch-Israelische als das Edle: Der „Prototyp des neuen Israeli“, schreibt Lüth, ist „der Typus der Aufrechten, Starken, Selbstbewussten, körperlich und geistig Beweglichen, der Zähen und im Ringen ums Dasein Tapferen.“ Er setzt die Kontraste ganz bewusst, und versucht seine deutsche Leserschaft damit zu bestechen.

„[Das israelische Volk] ist im Gegenteil von einer Vitalität, Frische, Tatkraft und Entschlossenheit ohnegleichen, die den Gast aus Deutschland, der das Land im vollen Bewusstsein alles dessen, was im Tausendjährigen Reich geschehen ist, betritt, auf das Tiefste bewegt und erschüttert.“

Das junge Israel erscheint ihm als das Modell einer idealen Gesellschaft, wehrbar aber nicht militaristisch, geleitet von einem „leidenschaftlichen Staatsgefühl“, wie Lüth es bewundernswert euphemistisch formuliert, und nicht vom Nationalismus.

Lüth konstruiert die Schaffung Israels als Antithese zur deutschen Erfahrung: Die „israelische Staatswerdung“ war: Zitat: ein „heroischer Prozess, der ohne die ganz konkrete persönliche Heldenhaftigkeit der Männer und Frauen des ewig jungen Volkes Israel niemals zu Sieg und Erfolg hätte führen können“.  ‘Heroismus‘, ‘Sieg‘, ‘persönliche Heldenhaftigkeit‘ [sind] alles Begriffe, die in unserem Land zunächst einmal mancher Verdächtigkeit entkleidet werden müssen“.

Lüth benutzt Begriffe wie „Land Israel“ und „Volk Israel“, die den israelischen Selbstdarstellungen der Zeit entsprechen, den zionistischen Mythen über die Kongruenz von jüdischem Volk, jüdischem Land und jüdischem Staat. Es sind diese spezifisch deutschen Wunschbilder von Israel, mit denen Lüth den Zionismus als Gegensatz zum deutschen Nationalismus stilisiert: das Streben nach einem auf ethnischer Basis definierten Staat für Juden und die Mittel, die dabei angewendet wurden, stellen den anständigen, ethischen Nationalismus dar. Das Prinzip des Völkischen, die Organisation von Staat und Gesellschaft um eine ebenso mythische deutsche Volksgemeinschaft, ist das Vergangene, Verwerfliche.

Die arabische Bevölkerung erscheint nur als Kontrast zur bewunderten jüdischen. Ihr Schicksal von 1948 wir nur in einem Halbsatz erwähnt.

Der Verklärungen und Auslassungen, die den Reisebericht kennzeichnen, wurden in den folgenden Jahren zum festen Teil des Gespräch über Juden und Israel und, indirekt, über die entstehenden Selbstbilder der jungen Bundesrepublik. Dieser Diskurs passte nicht nur zu den politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschland und Israels. Die Idolisierung Israels und eines neuen, durch Israelis repräsentierten jüdischen Anti-Typen korrespondierte auch mit einer umfassenderen Bewältigungsstrategie der Kriegsjahre: Identifizierung mit Siegern und Opfern.

Die israelische Geschichtsversion stellte in gewisser Weise eine Tröstung dar. Die Opfer des Holocaust schienen nicht umsonst gestorben sein, denn ihr Martyrium hatte zur Schaffung Israels geführt.

Zwischen der Verabschiedung des Israel-Vertrages 1953 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1965 bewegte sich der neue Diskurs über Juden und Israel allmählich von den Margen der deutschen Öffentlichkeit ins Zentrum. Während Lehrmeister wie Erich Lüth, Hermann Maas, Gertrud Luckner oder Rudolf Küstermeier später als „Repräsentanten des neuen Deutschland“ gefeiert wurden, waren sie Anfang der Fünfziger Jahre noch Außenseiter, die sich einem wortlosen Staat und einer schweigenden Bevölkerung gegenüber sahen. Die folgende Generation hingegen stand dem Zentrum der Macht viel näher. Der Pressekonzern Axel Springer propagierte den neuen Diskurs in seinen Zeitungen und machte ihn 1967 selbst zum Teil seiner fünf gesellschaftspolitischen Unternehmensgrundsätze: „Das Herbeiführen einer Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen; hierzu gehört auch die Unterstützung der Lebensrechte des israelischen Volkes“.

Auch eine andere, langfristig bedeutendere Entwicklung setzte Ende der Fünfziger Jahre ein: die neue Sprache, die im bewussten Widerstreit gegen alte und neue staatliche Instanzen entstanden war, wurde nun zunehmend vom Staat adoptiert. Wie stark der besondere Diskurs über Israel – seine Auslassungen und Idealisierungen – inzwischen von staatlichen Protagonisten übernommen wurde, ja abhing, zeigte sich erst später, als Teile der Presse und der vielen Vereinigungen, die sich um das deutsch-jüdische und deutsch-israelische Verhältnis kümmerten, von bestimmten Elementen des Diskurses abzuweichen begannen, während staatliche Akteure weiter treu an ihm festhielten. Der Pro-Israel-Diskurs, der als Protest gegen den bundesrepublikanischen Staat begonnen hatte, wurde in den Achtziger und Neunziger Jahren zu einem wichtigen Bestandteil der Selbstdarstellung der staatlichen Eliten in Bonn und Berlin – gegenüber dem Inland und dem Ausland. Als Bundeskanzlerin Merkel im September 2007 vor der UN-Generalversammlung in New York erklärte, dass die „besondere historische Verantwortung für die Existenz Israels“ Teil der „Staatsraison“ Deutschlands geworden sei, machten sich Teile der Presse bereits darüber lustig. Diese Gabelung kennzeichnete auch die Sprache selbst. Die wachsende Kluft zwischen der Soll-Norm, der „besonderen historischen Verantwortung“, der „Solidarität mit Israel“ und ähnlichen Konzepten, und einer ganzen Reihe von alternativen, sich allmählich von der normierten Sprache befreienden Diskursen sorgte für Verwirrung und viel Sprach-Streit.

Anfang der Sechziger Jahre begann der Jugendaustausch als wichtiger Teil der „Hinwendung“. Die Idee vom Dienst deutscher Jugendlicher an der „Vergangenheitsbewältigung“ und die Mythen von Israel als Hort des westlichen Idealismus, verkörpert im Kibbuz, schufen eine äußerst wirksame politische Mischung, die sich auch in der Sprache ausdrückte. Aus der normativen, eher verordneten „Freundschaft mit Israel“ wurde die „Solidarität mit Israel“, und die Sprache der „Hinwendung“ erhielt die Vorzeichen des Idealismus und der Freiwilligkeit. Der Pfarrer Michael Krupp, der Israel zum ersten Mal 1959 besuchte und später das Büro der Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste in Jerusalem leitete, erinnert sich:

„Israel übte damals auf die deutsche Jugend eine geradezu exotische Anziehungskraft aus. Besonders faszinierend war das sozialistische Experiment, das sich den Namen Kibbuz gegeben hatte. Aber an dem jungen Israel war alles faszinierend. Den Versuch, so viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Ländern einzugliedern, der Opfermut der Menschen, der Idealismus, der Mut in einem so kleinen Land auszuhalten und sich gegen eine so große feindliche Macht draußen zu verteidigen. Auch für uns Kriegsdienstverweigerer war Israel ein stundenlanges Thema der Diskussion. Gibt es einen gerechten Krieg? Würden wir auch verweigern, wenn wir in Israel lebten?“

Bei Verabschiedung einer Reisegruppe sprach der Frankfurter Oberbürgermeister Werner Bockelmann von Israel-Aufenthalten als einem „unvergleichlichen politischen Anschauungsunterricht“. Die alten Naziargumente „Juden seien Ausbeuter und Halsabschneider, sie scheuten körperliche Arbeit, seien feige und verschlagen, konnten in Israel leicht widerlegt werden. Was die Juden beim Aufbau ihres Staates geleistet und erreicht hatten, war ein schlagendes Beispiel des Gegenteils.“

Im Frühjahr 1960 erhielt der Diskurs über Juden und Israel einen entscheidenden Impuls – die Gefangennahme und Entführung Adolf Eichmanns durch den israelischen Geheimdienst. Diese brillante, von David Ben Gurion orchestrierte Tat und das ebenso geschickt in Szene gesetzte Gerichtsverfahren, das 1961 in Jerusalem folgte, gab Israel die Möglichkeit, den Staat und die zionistischen Geschichtsauffassungen einem internationalen Publikum auf dramatische Weise nahe zu bringen. Dutzende Journalisten aus Deutschland strömten zum ersten Mal nach Israel und beschrieben das Land in dem Zusammenhang, in dem die Regierung es präsentieren wollte: als Zufluchtsstätte der Holocaust-Überlebenden, als einen Staat, dessen Existenz durch den Holocaust legitimiert war und als ein jüdisches Gemeinwesen neuen Typs, wehrbar, selbstbewusst und autark, in dem die Juden ihr Schicksal zum ersten Mal in die eigene Hand nahmen.

Jerusalem bemühte sich, das öffentliche Bild des Prozesses zu formen, um die kollektive Identität des Landes zu beeinflussen, aber auch aus Rücksicht auf die besondere Empfindsamkeit der Bundesrepublik. Ben Gurion selbst half mit, das Eröffnungsplädoyer des Staatsanwaltes Gideon Hausner zu formulieren. „Sagen sie nicht ‚Deutschland‘. Sagen sie nur ‚Nazi-Deutschland'“. So stand ausgerechnet die Eichmann-Episode am Beginn der deutsch-israelischen Annäherung .

In deutschen Zeitungen wurden die Umstände des Gerichtsverfahrens in einen Zusammenhang gesetzt, der einen anderen wichtigen Aspekt des Prozesses der gemeinsamen Identitätsstiftungen berührte. Entführung und Gerichtsverfahren seien Ausdruck des besonderen Charakters des Holocaust, „eines unvergleichbaren Ausnahmefalles“ der Geschichte. Die „Unvergleichbarkeit“ des Holocaust legitimierte die Ausnahmehandlungen des Staates. Die deutsche Presse wertete die Eichmann-Episode als Zeichen des israelischen Exzeptionalismus, der sich aus dem Exzeptionalismus der jüdischen Geschichte und des Holocaust ableitete und dem jüdischen Staat und Juden bestimmte Privilegien einräumte. An dieser Mystifizierung des Holocaust war allen gelegen. In der Bundesrepublik kam der Vorstellung von der „Unvergleichbarkeit“ vor allem eine exkulpierende Wirkung zu. Die Vorstellung unterstrich noch einmal, dass Juden anders waren und dass der Holocaust irgendwie mit dieser Andersartigkeit verbunden sein musste.

Nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen beginnen Israel und die Bundesrepublik auf die jeweiligen identitären Bedürfnisse des anderen einzugehen. Israel sprach in Deutschland nicht von „Schuld und Verantwortung“, und Deutschland in Israel nicht vom Nahostkonflikt. Der erste Botschafter Asher Ben-Nathan begriff die Dichotomie dieses Gespräches sehr gut. In seinen Erinnerungen betont er immer wieder, dass er selbst es vermied:

„Schuld und Verantwortung zu instrumentalisieren oder als Druckmittel in wirtschaftlichen Verhandlungen auszuspielen“. Denn: „Im Allgemeinen wollte der Mann auf der Straße nichts davon hören“. Gleichzeitig begrüßte er es, dass deutsche Journalisten im Zusammenhang der Verbrechen der Nationalsozialisten auch über Israel berichten, „und das, was ihnen an diesem Staat gefallen hatte. “

„Zu allen Fragen, die Israel direkt und indirekt betrafen, wollte ich mich äußern und aus dem weißen Fleck auf der Landkarte ein buntes Bild entstehen lassen, das die Deutschen auf Israel neugierig machen sollte. Vom Holocaust sprachen wir nicht, das überließen wir den deutschen Medien.“

Diese von Ben Gurion Anfang der Sechziger Jahre initiierte Politik der Auslassungen half der Konvergenz der Narrative und Identitätskonstruktionen und ist bis heute gültig. Politiker sprachen nun fast täglich von den Lehren oder Maximen, die aus der Judenverfolgung zu ziehen seien. Der Holocaust wurde zur allgegenwärtigen Metapher und in Israel zum wichtigsten Legitimationsmittel öffentlichen Handelns, gegenüber den arabischen Ländern, den Palästinensern und im Verhältnis zu Europa.

Als Israel im Juni 1967 seine Nachbarn angriff und sie innerhalb einer Woche besiegte, reagierte die deutsche Öffentlichkeit mit außergewöhnlicher Intensität. Der Krieg rief in der Bundesrepublik die Erinnerung an die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg in vielerlei Weise wach: an das Verbrechen an den Juden, an Deutschlands Aufgaben oder Pflichten im Verhältnis zu Israel, an die militärischen Erfolge Deutschlands und an das Schicksal der deutschen Lanzer. Manche Journalisten fühlten sich an die glorreichen Zeiten des Afrikakorps der Wehrmacht erinnert und an Feldmarschall Rommel, dessen Nachfolge General Moshe Dayan angetreten zu haben schien. Das zentrale Motiv der deutschen Beschäftigung mit Israel im Juni 1967 lag in der Identifizierung mit einer scheinbar von der Vernichtung bedrohten Zivilbevölkerung.

In beiden Länder schienen sich die Jahre 1939-40 zu wiederholen, diesmal allerdings mit der Möglichkeit, das eigene Verhalten zu ändern. Beide Gesellschaften erzählten sich in diesem Moment Geschichten über sich selbst, die sich auf eine einzigartige und besonders eindringliche Weise ergänzten.

Das israelische Narrativ vom „Sechstagekrieg“, in dem die israelischen Streitkräfte am Siebten Tag scheinbar unerwartet und wundersam den jüdischen Staat vor der geplanten Vernichtung durch eine überwältigende arabische Übermacht bewahrten, bezog sich offen wie verdeckt auf den Vorabend des Holocaust. Unter der israelischen Zivilbevölkerung herrschte Angst und Panik, während die israelische Regierung die Stimmung bewusst mit Analogien zur NS-Zeit beeinflusste. Israelis sollten – anders als die Juden im Holocaust – „wie Männer aufstehen“. Die Darstellung des Sieges wurde dann ganz folgerichtig zur „Antithese zur Katastrophe der Galut“ (Kimmerling) stilisiert.

Am Abend des ersten Kriegstages sprach Verteidigungsminister Dayan im Rundfunk vom „Würgering der Aggression“, ein Bild, mit dem er die Frage nach den arabischen Angriffsabsichten umgehen wollte. Botschafter Ben-Natan nahm das Bild auf und ging einen Schritt weiter. Er sprach vor der deutschen Presse vom „stählernen Ring der Bedrohung“ und von der Absicht der arabischen Staaten, „nicht nur Israel von der Landkarte verschwinden zu lassen […] sondern mit ihm auch die Juden“.

Die deutsche Öffentlichkeit reagierte vor allem auf diesen vermeintlichen neuen Genozidversuch, und viele machten von der Möglichkeit Gebrauch, nun die Versäumnisse von 1933-1945 wettzumachen, in Demonstrationen und Solidaritätsaktionen.

Tausende Bundesbürger schrieben Briefe in jenen Tagen an die israelische Botschaft in Bonn und an den Botschafter, der die Briefe kurz nach seiner Abberufung 1969 veröffentlichte. Die Briefe geben die deutschen Wunschbilder vom jüdischen Staat und von der Läuterung der Deutschen wieder, spiegeln aber auch die Bilder, die Israel über sich selbst entwarf und verbreiten wollte. Ein Drittel des fast 400 Seiten umfassenden Briefe-Bandes ist der Veröffentlichung von „kritisch-ablehnenden und antisemitischen Briefen“ gewidmet – eine bemerkenswerte Entscheidung dieses hohen israelischen Diplomaten. Sie stand in einem besonderen Zusammenhang: der israelischen Presse- und Informationspolitik, die sich seit Mitte der Sechziger Jahre darum bemühte, Kritik an israelischer Politik in der westlichen Öffentlichkeit mit dem Makel des Antisemitismus zu behaften. Diese Strategie wurde zuerst in den USA angewendet, wo Israel sich seit der Präsidentschaft Kennedys um die Festigung eines anfangs noch brüchigen politischen und militärischen Bündnisses mühen musste. Israel begriff Kritik an seiner Politik, auch von jüdischer Seite, als existenzielles Problem und bekämpfte sie mit einem der wirkungsvollsten Mittel, die dem jüdischen Staat zur Verfügung standen – dem Antisemitismusvorwurf.

Nach dem „Sechstagekrieg“ war die neue Sprache über Juden und Israel zum großen Teil normiert. Sie diente nicht nur zur öffentlichen Rede über Juden oder die NS-Zeit, mit ihr wurden wichtige, fundamentale Identitätskonstruktionen Westdeutschlands kommuniziert: die neu errungene Toleranz, Liberalität und Pluralität der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und ihr offener Umgang mit der Vergangenheit.

Zu den Idealisierungen Israels und den leblosen Abstraktionen des „Jüdischen Mitbürgers“, der als „Opfer“ apostrophiert wurde, gehörte auch das Pendant – die ebenso künstlichen Konstruktionen, die sich hinter den Schlagworten der „Täter“ oder der „Tätergesellschaft“ verbargen. Damit warf die nichtjüdische Gesellschaft nicht nur hohe Dämme starrer Identitäten und Sprachkonventionen auf, sie erschwerte auch eine adäquate und realistische Auseinandersetzung mit Juden und ein differenziertes Gespräch über Israel. Hinzu kam, dass diese expansive und simplifizierende Idee der kollektiven Täterschaft auch das nahöstliche Geschehen einschloss, eine Konstruktion, die von israelischer Seite begrüßt und verstärkt wurde.

Indem das öffentliche Gespräch unter Deutschen wie Israelis den alt-neuen Judenhass als Auslöser und wichtigste Triebkraft des jüdisch-palästinensischen Konflikts identifizierte, fixierte es auch die deutsche Schuld und Mitverantwortung am Leiden der Israelis und an dem der Palästinenser. Diese Schuld-Konstruktionen exkulpierten die israelische Seite und wurden von ihr entsprechend gefördert, in Westdeutschland allerdings führten sie zu Konflikten. War das Ziel des politischen Lernens, das der Nachkriegsphilosemitismus darstellte, die Versöhnung mit Juden oder die Aneignung bestimmter politischer Prinzipien? Für eine ganze Generation von Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste z.B., die sich ab 1961 in Israel engagierte, stellte sich die Frage so: folgte aus der deutschen Geschichte nun eine Verpflichtung gegenüber Israel oder gegenüber den Palästinensern? Die deutschen Opfer- und Täterkonstruktionen führten für Deutsche im Nahen Osten zu einem anhaltenden Solidaritätskonflikt.

Je weniger sich die komplexen Ursachen und Wirklichkeiten des Nahostkonflikts mit den Idealisierungen und Auslassungen des deutschen Diskurses deckten, desto mehr mussten die Grenzen bewacht werden. In der Bundesrepublik wurde das Bild von Israel und vom Ursprung und der Dynamik des Konflikts zunehmend von Themen und Strategien bestimmt, die ihre Quelle im Jerusalemer Außenministerium oder bei israelischen oder jüdischen Organisationen hatten, die sich mit der Bekämpfung „arabischer Propaganda“ oder der Verteidigung des „Lebensrechts Israels“, befassten.

So wurde der neue Diskurs über Juden und Israel, der als Protest gegen das Schweigen der bundesrepublikanischen Gesellschaft und politischen Instanzen begonnen hatte, allmählich zum Instrument in der Hand des jüdischen Staates. Diese Entwicklung war in gewissem Maße unumgänglich. Der Diskurs basierte auf spezifisch deutschen Wunschbildern und Identitätskonstruktionen, die von Israelis erwidert wurden. Israelis erzählten eine Geschichte über Deutsche, die das Selbstbild des eigenen Landes verstärkte, und umgekehrt.

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Auf der Suche nach einer brauchbaren kollektiven Erinnerung

In Blogroll, Buchbesprechungen Jüdische Geschichte on Oktober 30, 2007 at 8:23 am

Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte; Propyläen Verlag; 891 S., 29,90 €

Die Frage nach dem Wissen der deutschen Bevölkerung über den Massenmord an den europäischen Juden besteht aus sehr unterschiedlichen Komplexen: der Frage nach dem Kenntnisstand, der Frage nach der Reaktion der Bevölkerung auf diesen Kenntnisstand und der Folgen für die Pläne und Ausführung des Massenmords, und – nicht zuletzt – der Frage nach der Verantwortung. In der Bundesrepublik tauchen alle diese Fragen schon im Zuge der „Vergangenheitsbewältigung“ auf, also im Prozess der Neuschöpfung einer politischen Kultur und eines nationalen Selbstbildes nach 1945, und der Westintegration. Der Fragenkomplex wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch von der Faschismus- und Totalitarismusforschung aufgegriffen, von Wissenschaftlern wie Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Stanley Milgram. Sie befassten sich auf unterschiedliche Weise mit den Wirkungen moderner Gesellschaftssysteme auf das Verhalten und die Verantwortung des Individuums.
Im deutschen Zusammenhang ging es um das Ausmaß der Schuld, im internationalen um ihre Grenzen. Die Geschichtsforschung bemüht sich seitdem tapfer, diesen im Ursprung politisch-moralischen Fragen immer wieder neuen Sinn zu geben und neue, differenzierende Antworten zu finden. Bernward Dörner räumt vor diesem Hintergrund schon zu Anfang ein, dass seine Studie zwar neue Quellen erschließt und Detailerkenntnisse neu bewertet, aber auch er dem Wissen um das Wissen der Deutschen nichts wesentlich neues hinzufügen kann.

„Den wissenschaftlichen Nachweis zu führen, dass die Deutschen über den Genozid Wesentliches wussten beziehungsweise wissen konnten, ist nicht einfach. Außer Abwehrmechanismen wirkt bei der Aufklärung ein objektiver Umstand hemmend: die schwierige Quellenlage. Der Judenmord wurde als „Geheime Reichssache“ in Gang gesetzt. Auf schriftliche Befehle und Anweisungen wurde weitgehend verzichtet. Hinzu kommt, dass der Judenmord arbeitsteilig begangen wurde [und] den Beteiligten nur so viel mitgeteilt wurde, wie sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben wissen mussten.“

Weil Juden nicht zur Vernichtung in den Osten verschleppt wurden, wie die zuständigen Institutionen behaupteten, sondern angeblich „neu angesiedelt“ werden sollten, widmet Dörner seine Hauptaufmerksamkeit den Quellen, aus denen Nachrichten über den tatsächlich stattfindenden Genozid zwischen 1941 und 1945 nachweisbar an die Bevölkerung im Reichsgebiet zurückflossen. Trotz strikter Kontrolle der Feldpost gelangten zum Beispiel ab Sommer 1941 viele Berichte über Massenmorde in die Hände von Angehörigen der Wehmacht, der Polizei und von Familien ziviler Angestellter, die im Osten des eroberten Europas eingesetzt waren. Die meisten dieser Berichte vermittelten allerdings noch kein umfassendes Bild des systematischen Charakters der Vernichtungskampagne. So berichtete ein deutscher Offizier im Januar 1942:

„Als ich mit meinem Stab am Nachmittag mein Stabsquartier [in Schitomir] bezogen hatte, hörten wir in regelmäßigen Abständen Gewehrsalven, denen Pistolenschüsse folgten. Nach einiger Zeit sahen wir zahlreiche Soldaten und Zivilpersonen einem vor uns liegenden Bahndamm zuströmen. Als wir schließlich den Bahndamm erklettert hatten, bot sich ein Bild, dessen grausame Abscheulichkeit auf den unvorbereitet Herantretenden erschütternd und abschreckend wirkte. In die Erde war ein etwa 7-8 Meter langer, vielleicht 4 Meter breiter Graben eingezogen. Die Grube selbst war mit zahlreichen Leichen aller Art und jeden Geschlechts gefüllt. Hinter dem Wall stand ein Kommando Polizei. Die Uniformen wiesen Blutspuren auf. Im weiten Umkreis standen unzählige Soldaten, teilweise in Badehose, als Zuschauer. Unter anderem lag in diesem Graben ein alter Mann mit weißem Vollbart, der über seinem Arm noch ein Spazierstöckchen hängen hatte. Da dieser Mann Lebenszeichen von sich gab, ersuchte ich einen Polizisten, ihn endgültig zu töten, worauf dieser mit lachender Miene sagte: Dem habe ich schon siebenmal in den Bauch geschossen, der krepiert schon von alleine.“

Neben den auf persönlicher Wahrnehmung beruhenden Berichten einzelner untersucht Dörner auch die wichtigste Quelle, aus der die Bevölkerung über Absichten und Ziele der anti-jüdischen Politik unterrichtet wurde: Rundfunk, Presse und die Reden der Parteiführer. Im Frühjahr 1943 warf das Regime angesichts der schlechten Kriegslage und zunehmender Gerüchte das Ruder der Propaganda-Politik herum. Drastisch veränderte sich nun der Ton, wenn über die Behandlung der Juden gesprochen wurde. Der Bevölkerung sollte beigebracht werden, dass die Radikalität der Maßnahmen gegen die Juden im Falle einer Niederlage zu harten Konsequenzen führen würde. Die Sieger würden auch die deutsche Bevölkerung zur Verantwortung ziehen. Die kaum noch verdeckten Hinweise auf die systematische Ermordung der Juden sollten zum Durchhalten zwingen – Durchhalten als Akt der Notwehr.

„Dieser Krieg ist ein Rassenkrieg. Er ist vom Judentum ausgegangen und verfolgt kein anderes Ziel als die Vernichtung und Ausrottung unseres Volkes.“ „Je eher die Juden vernichtet werden, desto besser ist es für die Welt.“ „Das Ergebnis für unser Volk muss die restlose Ausschaltung der Juden sein. Mögen diese Dinge schrecklich sein. Sie sind unausweichlich.“ „Der Vollstreckungsbefehl ist gegeben und unwiderruflich. Die Exekution ist bereits im vollen Gang.“ „Damit [spricht] das Gericht der schaffenden Menschheit das Todesurteil gegen das jüdische Verbrechervolk, und [rottet] es so aus, wie es anderen Völkern ans Leben wollte: Mit Männern, Weibern und Kindern, damit die Welt von ihm erlöst wird und Ruhe findet und den ersehnten langen, langen Frieden.“

Der Versuch, die öffentliche Meinung so radikal zu formen und zu kontrollieren, bedeutete für das NS-Regime auch, dass es über die wirkliche Stimmung im Unklaren blieb. Die Regierung sah sich gezwungen, selbst unentwegt die Stimmung im Reich zu erforschen, auch die Haltung der Bevölkerung zur Judenpolitik. Diese geheimen Berichte einer Vielzahl von Behörden und Sicherheitsorganen auf allen Ebenen sind zum großen Teil noch vor Kriegsende vernichtet worden. Doch auch aus dem überlieferten Material lassen sich noch wichtige Rückschlüsse auf die Verbindung von Ereignis, Gerücht, Meinung und politischer Wirkung auf Berichterstatter und die Führung in Berlin ziehen. Im Falle der Tötung von Behinderten und Kranken sprach sich die „Euthanasie“, wie die Nazis den Massenmord nannten, in Windeseile herum. Die Gerüchte führten zu Protesten, die wiederum nicht ohne Einfluss auf das Regime blieben. Der Oberstaatsanwalt in Rottweil, der im Oktober 1940 einen Bericht darüber verfasste, ließ gleich seine eigene Kritik durchschimmern:

„In meinem Amtsbezirk geht schon seit Monaten das Gerücht, dass geistes- und körperschwache Anstaltspfleglinge planmäßig beseitigt würden. Unausbleiblich erscheint es mir, dass das Vertrauen zur Staatsführung in weitesten Bevölkerungskreisen furchtbar erschüttert wird.“

Bei der Berichterstattung über die Haltung gegenüber den Juden herrschte allerdings ein ganz anderer Konformitätsdruck. Viele Berichterstatter mussten mitteilen, dass die Bevölkerung Kritik an den Maßnahmen gegen die Juden übte. Gleichzeitig suchten sie nach Wegen, sich selbst von dieser Kritik zu distanzieren, und zu verhindern, dass die ablehnende Haltung der Bevölkerung als Versagen der berichterstattenden Instanz ausgelegt wurde.

„Die Exekution der Libauer Juden bildet noch immer das Gesprächsthema der hiesigen Bevölkerung. Vielfach wird das Los der Juden bedauert, und es sind zunächst wenig positive Stimmen zur Beseitigung der Juden zu hören. Es ist zu erwarten, dass über die erfolgte Regelung der Judenfrage in Libau demnächst wieder Beruhigung eintreten wird.“

Die Analyse der von Dörner aufgeführten Berichte lässt einen Schluss zu: Das Schicksal der Juden im Osten war als Gerücht schon bald nach Beginn der Deportationen und Erschießungen 1942 im Reich allgegenwärtig. Die Vernichtungskampagne wurde zum offenen Geheimnis. Bernward Dörners Fazit: Die Mehrheit der Deutschen rechnete spätestens im Sommer 1943 damit, dass alle im NS-Herrschaftsbereich lebenden Juden umgebracht werden sollten.

„Im Sommer 1943 war der Mord an den Juden für die allermeisten Deutschen zur Tatsache geworden. Zu offen propagierten die NS-Medien die Vernichtungspolitik. Der mörderische Charakter der antisemitischen Politik [war] angesichts der sich verdichtenden Gerüchte über das grauenhafte Schicksal jüdischer Männer, Frauen und Kinder immer schwieriger zu bezweifeln.“

Dörners systematische Studie der Nachrichtenquellen zeigt auch die Grenzen der historischen Methode auf. Seine Bilanz entspricht der, die schon vor dreißig Jahren, vor Beginn der systematischen Quellenstudien zur Stimmungen und Haltungen in der Bevölkerung, gezogen wurde: Alle wussten etwas, aber die meisten wussten genug, um nicht mehr wissen zu wollen. Solange die Bevölkerung mit Gerüchten, und nicht mit eindeutigen Beweisen oder Aussagen, konfrontiert war, konnte das schreckliche Wissen weiter geleugnet werden. Die alliierten Truppen lieferten deshalb schon im Frühjahr und Sommer 1945 einen Beweis, der nicht mehr abgestritten werden konnte. Sie zwangen viele in der Nähe von Lagern lebende Deutsche, sich in Konzentrationslagern selbst vom schrecklichen Geschehen zu überzeugen.

Angesichts dieses konzeptionellen Stillstandes kann man nur hoffen, dass die seit den siebziger Jahren fast vollständig aus dem Forschungsfeld Nazizeit verdrängten Sozialwissenschaftler, traditionell machtferner als die Historiker, hier vielleicht mehr beitragen werden. Lesenswert ist Dörners Buch trotzdem, vor allem wegen der vielen Zitate, den zeitgenössischen Äußerungen in Briefen und Berichten, und den Aussagen von Beteiligten und Zuschauern nach 1945, denen Dörner ein kurzes Kapitel widmet und deren Auslassungen schon ganz im Zeichen der Suche nach einer brauchbaren kollektiven Erinnerung stehen.

Gesendet im Deutschlandfunk 29.Oktober 2007 * copyright 2007 Daniel Cil Brecher

Bundesgenosse Volk

In Blogroll, Buchbesprechungen Jüdische Geschichte on Juni 22, 2007 at 8:33 am

Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 412 S., € 28

Von Daniel Cil Brecher

Die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus kreist seit über zwei Jahrzehnten um zwei Fragen: aus welchen Quellen speiste sich die beispiellose Radikalität nationalsozialistischer Verdrängungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Juden und wie lässt sich die Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber den anti-jüdischen Maßnahmen etikettieren und in das Geschehen einordnen. Michael Wildt hat sich den Fragen auf eine ungewohnte Weise angenommen. Er hat eine Reihe gewaltsamer antisemitischer Vorfälle in kleineren Städten und Dörfern in einem Zeitabschnitt untersucht, der die gebräuchliche Zäsur des Jahres 1933 überschreitet, und dabei Indizien für die Motive der Gewalttäter und die Haltung der örtlichen Bevölkerung gesammelt. Sein Interesse richtete sich auf die möglichen Funktionen der anti-jüdischen Gewalt, bei der Stärkung der Gruppenidentität nationalsozialistischer Parteikader und bei der Schaffung einer umfassenden völkischen Identität durch die angestrebte Spaltung der Bevölkerung in Arier und Nichtarier, der „Errichtung der Volksgemeinschaft“, wie Wildt es nennt.

„Aktivismus, Kampf und Gewalt als „Gemeinschaftserlebnis“ bildeten einen festen Bestandteil des SA-Alltags Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Brutale Schlägereien der SA mit den politischen Gegnern, in erster Linie mit den Kommunisten, [und] hasserfüllte antisemitische Attacken sollten den eigenen Machtanspruch behaupten. Zugleich festigte die Gewalt als „Kampferlebnis“ den inneren Zusammenhalt.“

Gewalt war aber auch ein Propagandamittel. Seit Mitte des 19.Jahrhunderts gehörten antisemitische Parolen zwar zum Alltag in Deutschland, aber es war ein Antisemitismus des Wortes, der sich in politischen Reden und in den bürgerlichen Medien Presse und Buch entfaltete. Die Nazis wollten einen Antisemitismus der Tat, einen Antisemitismus der Straße. Die Botschaft lautete: Wir sind diejenigen, die mit dem Antisemitismus wirklich Ernst machen. Hitler hatte in „Mein Kampf“ auf diese propagandistische Seite hingewiesen.

„Unsere Sorge muss es sein, das Instinktmäßige gegen das Judentum in unseren Volk zu wecken und aufzupeitschen und aufzuwiegeln, solange bis es zum Entschluss kommt, der Bewegung sich anzuschließen, die bereit ist, die Konsequenzen daraus zu ziehen.“

Die deutsche Bevölkerung musste also zugleich von der großen Dringlichkeit der Judenfrage überzeugt werden, der Notwendigkeit einer radikalen Lösung und der besonderen Befähigung der Nationalsozialisten, diese radikale Lösung auch wirklich umzusetzen. Gewalt durfte nicht allein Drohung bleiben. Im Herbst 1923 bot sich eine Gelegenheit, an das Instinktmäßige des Volkes zu appellieren. Die Kommunisten hatten in Hamburg versucht, die Macht zu übernehmen, die Nationalsozialisten in München. Die Krise der Nachkriegszeit, politische Wirren, Arbeitslosigkeit und die rasend fortschreitende Inflation, ging auf einen Höhepunkt zu.

„Am 5. November wurde der Brotpreis auf 140 Milliarden Reichsmark erhöht und zugleich kursierte das Gerücht, das Arbeitsamt würde kein Geld auszahlen. Daraufhin begannen spontane Plünderungen von Bäckereien und Lebensmittelgeschäften. Antisemitische Agitatoren sahen ihre Stunde gekommen, zogen ins [Berliner] Scheunenviertel und machten in hetzerischen Reden in erster Linie Juden für die Inflation und Not verantwortlich. Nach Feststellung der Polizei wurden 200 Geschäfte geplündert, überwiegend von nicht-jüdischen Inhabern. Doch war kennzeichnend, dass sich die Ladenbesitzer mit Schildern wie “ Christliche Geschäftsleute“ vor Plünderungen zu schützen suchten.“

Der spaltende Effekt der Gewalt blieb auch in den kommenden Jahren sichtbar. Ob sich als Reaktion auf die staatlich gelenkte Hetze ab 1933 eine autonome antijüdische Bewegung innerhalb der deutschen Bevölkerung entfaltete, wie sich Teile der NS-Führung erhofften, bleibt allerdings fraglich. Die Abdrängung der Juden fand vor allem mit Hilfe staatlich-bürokratischer Mittel statt. Die gewünschte Pogromstimmung musste von den örtlichen Parteikadern immer wieder neu angeheizt werden, in immer umfangreicheren und spektakuläreren Aktionen, gerade weil die Bevölkerung sich nicht wirklich dafür erwärmte. Wildt untersucht in seiner Studie hauptsächlich zwei Formen der Hetze und Verfolgung, Konsumboykott und die sogenannten Rassenschande-Umzüge.

„Gerade in der Provinz war die Verfolgung der jüdischen Nachbarn als „Volksfeinde“, als „rassischer Gegner“, das zentrale politische Instrument, um die bürgerliche Ordnung anzugreifen und die Volksgemeinschaft herzustellen.“

Konsumboykott und das Anprangern der sogenannten Rassenschande waren beides höchst effektive Mittel, den Kontakt zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung zu unterdrücken und die Juden zu isolieren. Aber als Gradmesser der Beteiligung oder Anteilnahme am staatlich betriebenen Antisemitismus sind sie kaum verlässlich. Der Boykott gegen jüdische Geschäftsleute, zum ersten Mal in einer reichsweiten Aktion im April 1933 von oben organisiert, flammte in der Zeit bis zum völligen Ausschluss der Juden lokal immer wieder auf, angetrieben von einer Vielzahl von Faktoren, von Ideologie, Lokalpolitik und Privatinteresse.

„Im westfälischen Bückeburg waren die Ehefrau und die Tochter des Bürgermeisters dabei beobachtet worden, wie sie im Kaufhaus Weihl, das einem jüdischen Geschäftsmann gehörte, eingekauft hatten. Daraufhin erschien in der Schaumburg-Lippischen Landeszeitung ein Artikel unter der Überschrift „Provokation“, in dem die Familie beschimpft wurde. Noch am selben Tag bildete sich in der Stadt ein Demonstrationszug mit Plakaten, auf denen stand: „Wer kauft beim Juden? Der Bürgermeister!“ und: „Muß i denn zum Städele hinaus“. Der Bürgermeister [wurde] tags darauf vom Landrat des Kreises Bückeburg vom Dienst beurlaubt.“

Wildt wertet diesen Vorfall im Juni 1935 als Beispiel für das erfolgreiche Agieren lokaler Kader und die Fortschritte in der Abspaltung des „Volksfeindes“. Man kann diesen Vorfall allerdings auch anders lesen, als Misserfolg, nach zwei Jahren der Hetze und Einschüchterung der nichtjüdischen Bevölkerung durch die massive Sanktionierung von Kontakten. Neben möglichen identitätsstiftenden Effekten bargen gewaltsame Aktionen als Propagandamittel auch ein Risiko für das Regime. Teile der Bevölkerung fühlten sich durch die brutalen Methoden der NSDAP abgestoßen, und selbst überzeugte Antisemiten empfanden sie als Rückfall in die Barbarei, als Bruch des staatlichen Gewaltmonopols. Hinzu kommt, dass die Gewalt alle Bevölkerungsteile einschüchterte und damit die wirklichen Haltungen und Meinungen verschleierte. Ein Vorbild ist die massive Zurschaustellung von Gewalt im Novemberpogrom 1938, die Zerstörungen, die Verhaftung von über 30.000 jüdischen Bürgern in allen Städten des Reiches und das öffentliche Erniedrigungsritual des Abtransports dieser unglückseligen Menschen in die Konzentrationslager.

„Die Gewalt war öffentlich, sie sollte die Ohnmacht des Opfers und die Macht der Täter zur Schau stellen. Es war der Sinn dieser Gewalttaten, dass sie selbst von unbeteiligten Passanten eine Stellungnahme erzwangen. Erst das Gewährenlassen verlieh dem Rechtsbruch den gewollten Erfolg. Die Opfer mussten ihre Ohnmacht erleiden, während die „Volksgenossen“ ihre Ermächtigung erfuhren.“

Die Forschung versucht seit Jahrzehnten die bei dieser Gelegenheit öffentlich manifestierten Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung zu entziffern und zu quantifizieren – vergeblich. Gerade weil die Gewalt sich nicht nur gegen Juden richtete, sondern auch immer eine Drohung gegen ihre nichtjüdischen Freunde, Kunden, Kollegen enthielt, sind Zustimmung und Ablehnung nicht deutlich bestimmbar. Dasselbe gilt in noch höherem Maße für die politisch ermächtigende Erkenntnis der eigenen rassischen Überlegenheit, die sich beim Anblick des erniedrigten Juden ergeben haben soll. Mangelnde Anteilnahme, ob sie nun durch Angst, Indifferenz oder schweigendes Einverständnis eingegeben war, musste dem Regime in jedem Fall recht sein. Ein Indiz für eine selbst in Ansätzen entstehende Volksgemeinschaft ist sie nicht. Wildt konkludiert zurecht, dass der Norm-Bruch der willkürlichen Gewalt gegen wehrlose Zivilisten die entscheidende Grenzüberschreitung ist und sich die Bevölkerung dabei durch Passivität zum Komplizen gemacht hat. Das Konstrukt der „passiven Komplizenschaft“, zuerst von israelischen Forschern Anfang der 80er Jahre vorgebracht, ist allerdings in erster Linie ein politisch-moralisches Argument, eine Schuldzuweisung und keine Ursachenklärung.

Deutschlandfunk 25. Juni 2007