Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919-1939. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 412 S., € 28
Von Daniel Cil Brecher
Die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus kreist seit über zwei Jahrzehnten um zwei Fragen: aus welchen Quellen speiste sich die beispiellose Radikalität nationalsozialistischer Verdrängungs- und Vernichtungspolitik gegenüber den Juden und wie lässt sich die Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber den anti-jüdischen Maßnahmen etikettieren und in das Geschehen einordnen. Michael Wildt hat sich den Fragen auf eine ungewohnte Weise angenommen. Er hat eine Reihe gewaltsamer antisemitischer Vorfälle in kleineren Städten und Dörfern in einem Zeitabschnitt untersucht, der die gebräuchliche Zäsur des Jahres 1933 überschreitet, und dabei Indizien für die Motive der Gewalttäter und die Haltung der örtlichen Bevölkerung gesammelt. Sein Interesse richtete sich auf die möglichen Funktionen der anti-jüdischen Gewalt, bei der Stärkung der Gruppenidentität nationalsozialistischer Parteikader und bei der Schaffung einer umfassenden völkischen Identität durch die angestrebte Spaltung der Bevölkerung in Arier und Nichtarier, der „Errichtung der Volksgemeinschaft“, wie Wildt es nennt.
„Aktivismus, Kampf und Gewalt als „Gemeinschaftserlebnis“ bildeten einen festen Bestandteil des SA-Alltags Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Brutale Schlägereien der SA mit den politischen Gegnern, in erster Linie mit den Kommunisten, [und] hasserfüllte antisemitische Attacken sollten den eigenen Machtanspruch behaupten. Zugleich festigte die Gewalt als „Kampferlebnis“ den inneren Zusammenhalt.“
Gewalt war aber auch ein Propagandamittel. Seit Mitte des 19.Jahrhunderts gehörten antisemitische Parolen zwar zum Alltag in Deutschland, aber es war ein Antisemitismus des Wortes, der sich in politischen Reden und in den bürgerlichen Medien Presse und Buch entfaltete. Die Nazis wollten einen Antisemitismus der Tat, einen Antisemitismus der Straße. Die Botschaft lautete: Wir sind diejenigen, die mit dem Antisemitismus wirklich Ernst machen. Hitler hatte in „Mein Kampf“ auf diese propagandistische Seite hingewiesen.
„Unsere Sorge muss es sein, das Instinktmäßige gegen das Judentum in unseren Volk zu wecken und aufzupeitschen und aufzuwiegeln, solange bis es zum Entschluss kommt, der Bewegung sich anzuschließen, die bereit ist, die Konsequenzen daraus zu ziehen.“
Die deutsche Bevölkerung musste also zugleich von der großen Dringlichkeit der Judenfrage überzeugt werden, der Notwendigkeit einer radikalen Lösung und der besonderen Befähigung der Nationalsozialisten, diese radikale Lösung auch wirklich umzusetzen. Gewalt durfte nicht allein Drohung bleiben. Im Herbst 1923 bot sich eine Gelegenheit, an das Instinktmäßige des Volkes zu appellieren. Die Kommunisten hatten in Hamburg versucht, die Macht zu übernehmen, die Nationalsozialisten in München. Die Krise der Nachkriegszeit, politische Wirren, Arbeitslosigkeit und die rasend fortschreitende Inflation, ging auf einen Höhepunkt zu.
„Am 5. November wurde der Brotpreis auf 140 Milliarden Reichsmark erhöht und zugleich kursierte das Gerücht, das Arbeitsamt würde kein Geld auszahlen. Daraufhin begannen spontane Plünderungen von Bäckereien und Lebensmittelgeschäften. Antisemitische Agitatoren sahen ihre Stunde gekommen, zogen ins [Berliner] Scheunenviertel und machten in hetzerischen Reden in erster Linie Juden für die Inflation und Not verantwortlich. Nach Feststellung der Polizei wurden 200 Geschäfte geplündert, überwiegend von nicht-jüdischen Inhabern. Doch war kennzeichnend, dass sich die Ladenbesitzer mit Schildern wie “ Christliche Geschäftsleute“ vor Plünderungen zu schützen suchten.“
Der spaltende Effekt der Gewalt blieb auch in den kommenden Jahren sichtbar. Ob sich als Reaktion auf die staatlich gelenkte Hetze ab 1933 eine autonome antijüdische Bewegung innerhalb der deutschen Bevölkerung entfaltete, wie sich Teile der NS-Führung erhofften, bleibt allerdings fraglich. Die Abdrängung der Juden fand vor allem mit Hilfe staatlich-bürokratischer Mittel statt. Die gewünschte Pogromstimmung musste von den örtlichen Parteikadern immer wieder neu angeheizt werden, in immer umfangreicheren und spektakuläreren Aktionen, gerade weil die Bevölkerung sich nicht wirklich dafür erwärmte. Wildt untersucht in seiner Studie hauptsächlich zwei Formen der Hetze und Verfolgung, Konsumboykott und die sogenannten Rassenschande-Umzüge.
„Gerade in der Provinz war die Verfolgung der jüdischen Nachbarn als „Volksfeinde“, als „rassischer Gegner“, das zentrale politische Instrument, um die bürgerliche Ordnung anzugreifen und die Volksgemeinschaft herzustellen.“
Konsumboykott und das Anprangern der sogenannten Rassenschande waren beides höchst effektive Mittel, den Kontakt zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung zu unterdrücken und die Juden zu isolieren. Aber als Gradmesser der Beteiligung oder Anteilnahme am staatlich betriebenen Antisemitismus sind sie kaum verlässlich. Der Boykott gegen jüdische Geschäftsleute, zum ersten Mal in einer reichsweiten Aktion im April 1933 von oben organisiert, flammte in der Zeit bis zum völligen Ausschluss der Juden lokal immer wieder auf, angetrieben von einer Vielzahl von Faktoren, von Ideologie, Lokalpolitik und Privatinteresse.
„Im westfälischen Bückeburg waren die Ehefrau und die Tochter des Bürgermeisters dabei beobachtet worden, wie sie im Kaufhaus Weihl, das einem jüdischen Geschäftsmann gehörte, eingekauft hatten. Daraufhin erschien in der Schaumburg-Lippischen Landeszeitung ein Artikel unter der Überschrift „Provokation“, in dem die Familie beschimpft wurde. Noch am selben Tag bildete sich in der Stadt ein Demonstrationszug mit Plakaten, auf denen stand: „Wer kauft beim Juden? Der Bürgermeister!“ und: „Muß i denn zum Städele hinaus“. Der Bürgermeister [wurde] tags darauf vom Landrat des Kreises Bückeburg vom Dienst beurlaubt.“
Wildt wertet diesen Vorfall im Juni 1935 als Beispiel für das erfolgreiche Agieren lokaler Kader und die Fortschritte in der Abspaltung des „Volksfeindes“. Man kann diesen Vorfall allerdings auch anders lesen, als Misserfolg, nach zwei Jahren der Hetze und Einschüchterung der nichtjüdischen Bevölkerung durch die massive Sanktionierung von Kontakten. Neben möglichen identitätsstiftenden Effekten bargen gewaltsame Aktionen als Propagandamittel auch ein Risiko für das Regime. Teile der Bevölkerung fühlten sich durch die brutalen Methoden der NSDAP abgestoßen, und selbst überzeugte Antisemiten empfanden sie als Rückfall in die Barbarei, als Bruch des staatlichen Gewaltmonopols. Hinzu kommt, dass die Gewalt alle Bevölkerungsteile einschüchterte und damit die wirklichen Haltungen und Meinungen verschleierte. Ein Vorbild ist die massive Zurschaustellung von Gewalt im Novemberpogrom 1938, die Zerstörungen, die Verhaftung von über 30.000 jüdischen Bürgern in allen Städten des Reiches und das öffentliche Erniedrigungsritual des Abtransports dieser unglückseligen Menschen in die Konzentrationslager.
„Die Gewalt war öffentlich, sie sollte die Ohnmacht des Opfers und die Macht der Täter zur Schau stellen. Es war der Sinn dieser Gewalttaten, dass sie selbst von unbeteiligten Passanten eine Stellungnahme erzwangen. Erst das Gewährenlassen verlieh dem Rechtsbruch den gewollten Erfolg. Die Opfer mussten ihre Ohnmacht erleiden, während die „Volksgenossen“ ihre Ermächtigung erfuhren.“
Die Forschung versucht seit Jahrzehnten die bei dieser Gelegenheit öffentlich manifestierten Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung zu entziffern und zu quantifizieren – vergeblich. Gerade weil die Gewalt sich nicht nur gegen Juden richtete, sondern auch immer eine Drohung gegen ihre nichtjüdischen Freunde, Kunden, Kollegen enthielt, sind Zustimmung und Ablehnung nicht deutlich bestimmbar. Dasselbe gilt in noch höherem Maße für die politisch ermächtigende Erkenntnis der eigenen rassischen Überlegenheit, die sich beim Anblick des erniedrigten Juden ergeben haben soll. Mangelnde Anteilnahme, ob sie nun durch Angst, Indifferenz oder schweigendes Einverständnis eingegeben war, musste dem Regime in jedem Fall recht sein. Ein Indiz für eine selbst in Ansätzen entstehende Volksgemeinschaft ist sie nicht. Wildt konkludiert zurecht, dass der Norm-Bruch der willkürlichen Gewalt gegen wehrlose Zivilisten die entscheidende Grenzüberschreitung ist und sich die Bevölkerung dabei durch Passivität zum Komplizen gemacht hat. Das Konstrukt der „passiven Komplizenschaft“, zuerst von israelischen Forschern Anfang der 80er Jahre vorgebracht, ist allerdings in erster Linie ein politisch-moralisches Argument, eine Schuldzuweisung und keine Ursachenklärung.
Deutschlandfunk 25. Juni 2007