Daniel Cil Brecher

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Auf der Suche nach einer brauchbaren kollektiven Erinnerung

In Blogroll, Buchbesprechungen Jüdische Geschichte on Oktober 30, 2007 at 8:23 am

Bernward Dörner: Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte; Propyläen Verlag; 891 S., 29,90 €

Die Frage nach dem Wissen der deutschen Bevölkerung über den Massenmord an den europäischen Juden besteht aus sehr unterschiedlichen Komplexen: der Frage nach dem Kenntnisstand, der Frage nach der Reaktion der Bevölkerung auf diesen Kenntnisstand und der Folgen für die Pläne und Ausführung des Massenmords, und – nicht zuletzt – der Frage nach der Verantwortung. In der Bundesrepublik tauchen alle diese Fragen schon im Zuge der „Vergangenheitsbewältigung“ auf, also im Prozess der Neuschöpfung einer politischen Kultur und eines nationalen Selbstbildes nach 1945, und der Westintegration. Der Fragenkomplex wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch von der Faschismus- und Totalitarismusforschung aufgegriffen, von Wissenschaftlern wie Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Stanley Milgram. Sie befassten sich auf unterschiedliche Weise mit den Wirkungen moderner Gesellschaftssysteme auf das Verhalten und die Verantwortung des Individuums.
Im deutschen Zusammenhang ging es um das Ausmaß der Schuld, im internationalen um ihre Grenzen. Die Geschichtsforschung bemüht sich seitdem tapfer, diesen im Ursprung politisch-moralischen Fragen immer wieder neuen Sinn zu geben und neue, differenzierende Antworten zu finden. Bernward Dörner räumt vor diesem Hintergrund schon zu Anfang ein, dass seine Studie zwar neue Quellen erschließt und Detailerkenntnisse neu bewertet, aber auch er dem Wissen um das Wissen der Deutschen nichts wesentlich neues hinzufügen kann.

„Den wissenschaftlichen Nachweis zu führen, dass die Deutschen über den Genozid Wesentliches wussten beziehungsweise wissen konnten, ist nicht einfach. Außer Abwehrmechanismen wirkt bei der Aufklärung ein objektiver Umstand hemmend: die schwierige Quellenlage. Der Judenmord wurde als „Geheime Reichssache“ in Gang gesetzt. Auf schriftliche Befehle und Anweisungen wurde weitgehend verzichtet. Hinzu kommt, dass der Judenmord arbeitsteilig begangen wurde [und] den Beteiligten nur so viel mitgeteilt wurde, wie sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben wissen mussten.“

Weil Juden nicht zur Vernichtung in den Osten verschleppt wurden, wie die zuständigen Institutionen behaupteten, sondern angeblich „neu angesiedelt“ werden sollten, widmet Dörner seine Hauptaufmerksamkeit den Quellen, aus denen Nachrichten über den tatsächlich stattfindenden Genozid zwischen 1941 und 1945 nachweisbar an die Bevölkerung im Reichsgebiet zurückflossen. Trotz strikter Kontrolle der Feldpost gelangten zum Beispiel ab Sommer 1941 viele Berichte über Massenmorde in die Hände von Angehörigen der Wehmacht, der Polizei und von Familien ziviler Angestellter, die im Osten des eroberten Europas eingesetzt waren. Die meisten dieser Berichte vermittelten allerdings noch kein umfassendes Bild des systematischen Charakters der Vernichtungskampagne. So berichtete ein deutscher Offizier im Januar 1942:

„Als ich mit meinem Stab am Nachmittag mein Stabsquartier [in Schitomir] bezogen hatte, hörten wir in regelmäßigen Abständen Gewehrsalven, denen Pistolenschüsse folgten. Nach einiger Zeit sahen wir zahlreiche Soldaten und Zivilpersonen einem vor uns liegenden Bahndamm zuströmen. Als wir schließlich den Bahndamm erklettert hatten, bot sich ein Bild, dessen grausame Abscheulichkeit auf den unvorbereitet Herantretenden erschütternd und abschreckend wirkte. In die Erde war ein etwa 7-8 Meter langer, vielleicht 4 Meter breiter Graben eingezogen. Die Grube selbst war mit zahlreichen Leichen aller Art und jeden Geschlechts gefüllt. Hinter dem Wall stand ein Kommando Polizei. Die Uniformen wiesen Blutspuren auf. Im weiten Umkreis standen unzählige Soldaten, teilweise in Badehose, als Zuschauer. Unter anderem lag in diesem Graben ein alter Mann mit weißem Vollbart, der über seinem Arm noch ein Spazierstöckchen hängen hatte. Da dieser Mann Lebenszeichen von sich gab, ersuchte ich einen Polizisten, ihn endgültig zu töten, worauf dieser mit lachender Miene sagte: Dem habe ich schon siebenmal in den Bauch geschossen, der krepiert schon von alleine.“

Neben den auf persönlicher Wahrnehmung beruhenden Berichten einzelner untersucht Dörner auch die wichtigste Quelle, aus der die Bevölkerung über Absichten und Ziele der anti-jüdischen Politik unterrichtet wurde: Rundfunk, Presse und die Reden der Parteiführer. Im Frühjahr 1943 warf das Regime angesichts der schlechten Kriegslage und zunehmender Gerüchte das Ruder der Propaganda-Politik herum. Drastisch veränderte sich nun der Ton, wenn über die Behandlung der Juden gesprochen wurde. Der Bevölkerung sollte beigebracht werden, dass die Radikalität der Maßnahmen gegen die Juden im Falle einer Niederlage zu harten Konsequenzen führen würde. Die Sieger würden auch die deutsche Bevölkerung zur Verantwortung ziehen. Die kaum noch verdeckten Hinweise auf die systematische Ermordung der Juden sollten zum Durchhalten zwingen – Durchhalten als Akt der Notwehr.

„Dieser Krieg ist ein Rassenkrieg. Er ist vom Judentum ausgegangen und verfolgt kein anderes Ziel als die Vernichtung und Ausrottung unseres Volkes.“ „Je eher die Juden vernichtet werden, desto besser ist es für die Welt.“ „Das Ergebnis für unser Volk muss die restlose Ausschaltung der Juden sein. Mögen diese Dinge schrecklich sein. Sie sind unausweichlich.“ „Der Vollstreckungsbefehl ist gegeben und unwiderruflich. Die Exekution ist bereits im vollen Gang.“ „Damit [spricht] das Gericht der schaffenden Menschheit das Todesurteil gegen das jüdische Verbrechervolk, und [rottet] es so aus, wie es anderen Völkern ans Leben wollte: Mit Männern, Weibern und Kindern, damit die Welt von ihm erlöst wird und Ruhe findet und den ersehnten langen, langen Frieden.“

Der Versuch, die öffentliche Meinung so radikal zu formen und zu kontrollieren, bedeutete für das NS-Regime auch, dass es über die wirkliche Stimmung im Unklaren blieb. Die Regierung sah sich gezwungen, selbst unentwegt die Stimmung im Reich zu erforschen, auch die Haltung der Bevölkerung zur Judenpolitik. Diese geheimen Berichte einer Vielzahl von Behörden und Sicherheitsorganen auf allen Ebenen sind zum großen Teil noch vor Kriegsende vernichtet worden. Doch auch aus dem überlieferten Material lassen sich noch wichtige Rückschlüsse auf die Verbindung von Ereignis, Gerücht, Meinung und politischer Wirkung auf Berichterstatter und die Führung in Berlin ziehen. Im Falle der Tötung von Behinderten und Kranken sprach sich die „Euthanasie“, wie die Nazis den Massenmord nannten, in Windeseile herum. Die Gerüchte führten zu Protesten, die wiederum nicht ohne Einfluss auf das Regime blieben. Der Oberstaatsanwalt in Rottweil, der im Oktober 1940 einen Bericht darüber verfasste, ließ gleich seine eigene Kritik durchschimmern:

„In meinem Amtsbezirk geht schon seit Monaten das Gerücht, dass geistes- und körperschwache Anstaltspfleglinge planmäßig beseitigt würden. Unausbleiblich erscheint es mir, dass das Vertrauen zur Staatsführung in weitesten Bevölkerungskreisen furchtbar erschüttert wird.“

Bei der Berichterstattung über die Haltung gegenüber den Juden herrschte allerdings ein ganz anderer Konformitätsdruck. Viele Berichterstatter mussten mitteilen, dass die Bevölkerung Kritik an den Maßnahmen gegen die Juden übte. Gleichzeitig suchten sie nach Wegen, sich selbst von dieser Kritik zu distanzieren, und zu verhindern, dass die ablehnende Haltung der Bevölkerung als Versagen der berichterstattenden Instanz ausgelegt wurde.

„Die Exekution der Libauer Juden bildet noch immer das Gesprächsthema der hiesigen Bevölkerung. Vielfach wird das Los der Juden bedauert, und es sind zunächst wenig positive Stimmen zur Beseitigung der Juden zu hören. Es ist zu erwarten, dass über die erfolgte Regelung der Judenfrage in Libau demnächst wieder Beruhigung eintreten wird.“

Die Analyse der von Dörner aufgeführten Berichte lässt einen Schluss zu: Das Schicksal der Juden im Osten war als Gerücht schon bald nach Beginn der Deportationen und Erschießungen 1942 im Reich allgegenwärtig. Die Vernichtungskampagne wurde zum offenen Geheimnis. Bernward Dörners Fazit: Die Mehrheit der Deutschen rechnete spätestens im Sommer 1943 damit, dass alle im NS-Herrschaftsbereich lebenden Juden umgebracht werden sollten.

„Im Sommer 1943 war der Mord an den Juden für die allermeisten Deutschen zur Tatsache geworden. Zu offen propagierten die NS-Medien die Vernichtungspolitik. Der mörderische Charakter der antisemitischen Politik [war] angesichts der sich verdichtenden Gerüchte über das grauenhafte Schicksal jüdischer Männer, Frauen und Kinder immer schwieriger zu bezweifeln.“

Dörners systematische Studie der Nachrichtenquellen zeigt auch die Grenzen der historischen Methode auf. Seine Bilanz entspricht der, die schon vor dreißig Jahren, vor Beginn der systematischen Quellenstudien zur Stimmungen und Haltungen in der Bevölkerung, gezogen wurde: Alle wussten etwas, aber die meisten wussten genug, um nicht mehr wissen zu wollen. Solange die Bevölkerung mit Gerüchten, und nicht mit eindeutigen Beweisen oder Aussagen, konfrontiert war, konnte das schreckliche Wissen weiter geleugnet werden. Die alliierten Truppen lieferten deshalb schon im Frühjahr und Sommer 1945 einen Beweis, der nicht mehr abgestritten werden konnte. Sie zwangen viele in der Nähe von Lagern lebende Deutsche, sich in Konzentrationslagern selbst vom schrecklichen Geschehen zu überzeugen.

Angesichts dieses konzeptionellen Stillstandes kann man nur hoffen, dass die seit den siebziger Jahren fast vollständig aus dem Forschungsfeld Nazizeit verdrängten Sozialwissenschaftler, traditionell machtferner als die Historiker, hier vielleicht mehr beitragen werden. Lesenswert ist Dörners Buch trotzdem, vor allem wegen der vielen Zitate, den zeitgenössischen Äußerungen in Briefen und Berichten, und den Aussagen von Beteiligten und Zuschauern nach 1945, denen Dörner ein kurzes Kapitel widmet und deren Auslassungen schon ganz im Zeichen der Suche nach einer brauchbaren kollektiven Erinnerung stehen.

Gesendet im Deutschlandfunk 29.Oktober 2007 * copyright 2007 Daniel Cil Brecher