Daniel Cil Brecher

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Al Nakba und der Krieg von 1948: Narrative und Wunschbilder im Westen

In Vorträge on Juni 21, 2010 at 10:46 am

Vortrag gehalten am 19. Juni 2010 im Gemeindehaus „Lamm“ in Tübingen

Für die meisten Juden und viele Nicht-Juden im Westen erschien die Gründung des Staates Israels und der erfolgreiche Ausgang des Krieges als der Schlusspunkt einer außergewöhnlichen, fast mythischen Entwicklung: ein Triumph des gerade so gepeinigten und fast vernichteten jüdischen Volkes über seine Feinde, als ein Richterspruch der Geschichte, der das durch Antisemitismus und Holocaust verursachte Leiden endlich auszugleichen schien.

Für die nicht-jüdische Bevölkerung Palästinas, und für die Öffentlichkeiten in arabischen und vielen anderen nicht-westlichen Ländern, bedeutete das Jahr 1948 den Sieg einer verkehrten Idee: die Ansiedlung von europäischen Juden gegen den Willen und auf Kosten der Ursprungsbevölkerung, eine Ansiedlung, die nur mit Waffengewalt durchgeführt werden konnte, von einer Kolonialmacht, die sich des Zionismus für eigenen Zwecke bediente; und die gewaltsame Gründung eines Staates auf Basis eines UN-Teilungsplanes, der äußerst ungerecht erschien. Für diese Gruppen bedeutete das Ergebnis des Krieges vor allem eines: den Untergang des arabischen Palästinas, so wie es über tausend Jahre bestanden hatte.

Vom Jahresende 1947 bis zum Beginn des Jahres 1949 wurden etwa 750.000 Menschen zur Flucht aus dem jüdischen Staatsgebiet gezwungen. Die Flüchtlinge ließen ganze Städte und Stadtviertel leer zurück, Häuser, Geschäfte, Betriebe, und Hunderte von Dörfern. Noch im Laufe des Jahres 1948 wurden die Dörfer zerstört, das Land und die auf Feldern und Hainen heranreifenden Erzeugnisse von den jüdischen Nachbarn übernommen, und der Häuserbestand ganzer Ortschaften und Stadtviertel unter jüdischen Einwanderer verteilt.

Die Beschreibung dieser Katastrophe ist eine emotionierende und zugleich politisch komplexe Aufgabe. Emotionierend, weil es um das Leben und Leid von so vielen unschuldigen Menschen geht, politisch komplex, weil das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, bislang nicht adäquat anerkannt ist und weil die Verantwortlichen ihre Verantwortung noch nicht angenommen haben. In Israel ist ein System der Leugnung und Verdrängung von Schuld und Verantwortung entstanden, mühevolle Konstruktionen und Wunschbilder, die es den Juden möglich machen, das idealisierte Selbstbild einer durch das eigene Leid moralisch sensitivierten und nach besonders hohen ethischen Maßstäben handelnde Gruppe aufrecht zu erhalten. Der Wunsch nach der Bestätigung des eigenen Leids und nach Anerkennung von Schuld ist bei allen Opfern von Gewalt und Unrecht zu finden. Bei den Juden wurde dieser Wunsch durch die öffentlichen Schuldbekenntnisse in Deutschland und die Entschädigungsmaßnahmen zum großen Teil erfüllt. Angesichts der ungebrochenen Verdrängungshaltung der israelischen Juden bleibt bei der arabischen Bevölkerung Israels und der Gebiete und unter den Flüchtlingen dieses Bedürfnis völlig unbefriedigt.

I

Es gibt – zusammengefasst – drei Thesen zur Entstehung der palästinensischen Katastrophe.

1. Die Flucht wurde hauptsächlich durch Kriegswirren ausgelöst und beruhte auf Führungsfehlern auf der arabischen Seite: schlechte Planung und eine falsche Taktik, die zu der, später fatalen, Aufforderung an Teile der arabischen Bevölkerung führte, das Kampfgebiet zu verlassen.

2. Die Flucht war die Folge einer beabsichtigten Vertreibung, die auf die Notwendigkeit zurückging, das für Juden vorgesehene Gebiet von einer Bevölkerung zu säubern, die sich den zionistischen Plänen widersetzte. Der Plan eines jüdischen Palästina musste zwangsläufig zur ethischen Säuberung der nichtjüdischen Bevölkerung führen.

3. Die Flucht war weder das Ergebnis des Zufalls der Kriegswirren noch – zwangsläufig- der Logik des Zionismus, sondern –  der Schutzlosigkeit der arabischen Bevölkerung, die sich nicht adäquat auf die Kämpfe vorbereitet hatte und von den Briten und den arabischen Nachbarländer im Stich gelassen wurde; und von gezielten Gewaltmaßnahmen der jüdischer Seite, die keine Zukunft für einen jüdischen Staat mit einer feindlich gesinnten arabischen Bewohnern sah, die mehr als 40% der Gesamtbevölkerung ausgemacht hätte. Eine Säuberungsaktion also, für die sich die ausschlaggebenden Motive und Gelegenheiten erst in der Situation des Krieges ergaben.

Ich neige zu dieser dritten These und habe die folgende Rekonstruktion darauf basiert, mit Hinweisen auf andere Meinungen.

Wer sich die Frage nach dem Schicksal der arabischen Bevölkerung stellt, muss mit den Plänen und Haltungen beginnen, die unter Zionisten seit den Zwanziger Jahren gegenüber den Arabern und der „Araberfrage“ vorherrschten. Das Resultat von 1948, das Verschwinden von neunzig Prozent der im zukünftigen Staat der Juden lebenden Nichtjuden, muss selbstverständlich in diesem weiteren Zusammenhang diskutiert werden und nicht nur im Kontext des Krieges von 1948.

Trotz der großen Zielstrebigkeit, mit der die Zionistische Bewegung die Ansiedlung von Juden betrieb, blieb die Kernfrage des Zionismus lange unbeantwortet: Die Schaffung eines unabhängigen jüdischen Staates in einem Land, das von einem anderen Volk bewohnt wurde. Die jüdische Besiedlung hatte pragmatisch begonnen – wo immer eine Stück Land zum Kauf stand, wurde gekauft, gebaut und gesiedelt, während die Führung sich wenig um die langfristigen Fragen kümmerte. So löste schon der erste Protest der arabischen Bevölkerung im April 1920 einen Schock aus. Der deutsch-jüdische Volkswirtschaftler Arthur Ruppin, der seit 1908 die Kolonisationsarbeit in Palästina im Namen der Zionistischen Bewegung leitete, schrieb am 7. April 1920, einen Tag nach Abflauen des zweitägigen Protests, in sein Tagebuch: „Wenige Tage haben genügt, um das Bild Palästinas und den Ausblick auf unsere Arbeit zu verändern. Bis heute Abend sind sechs tote Juden gezählt, mehrere Verletzte schweben noch in Lebensgefahr. Weizmann ist unter der Wucht dieser Ereignisse ganz zusammengebrochen und schien heute früh in einer Sitzung das Ende des Zionismus für gekommen anzusehen.“

Ein Jahr später, am 1. Mai 1921, nahmen arabische Bürger Jaffas eine von jüdischen Arbeitern abgehaltene Maifeier zum Anlass, erneut gegen das zionistische Mandat und die Einwanderung von Juden zu protestieren. Ruppin notierte am 1. Mai in seinem Tagebuch: „Für mich ist es besonders deprimierend, dass diese Vorfälle wirklich auf eine so judenfeindliche Stimmung der Araber schließen lassen, dass man an einer aufrichtigen Versöhnung zwischen Juden und Arabern fast verzweifeln muss“. In den folgenden Tagen verbreiteten sich die Proteste auf das ganze Land und forderten eine große Zahl von Opfern. Ruppin begriff sofort, dass eine „aufrichtige Versöhnung“ nicht die einzige Möglichkeit bildete, mit dem arabischen Widerstand umzugehen. Am 5. Mai 1921 notierte er: „Viele Kenner des Landes sagen, dass [eine konsequente Versöhnungspolitik] den palästinensischen Arabern gegenüber verfehlt ist und dass diese nur durch eine ’starke Hand‘ gewonnen werden können. Ich bin jedenfalls entschlossen, mich von meiner führenden zionistischen Stellung zurückzuziehen, wenn es sich zeigt, dass man zur Gewaltpolitik greifen muss.“ Ende Zitat. Angesicht des nicht nachlassenden Widerstandes der Araber war es in der Tat die „Gewaltpolitik“, der die Zukunft gehörte.

1923 schrieb der Führer der zionistisch-revisionistischen Bewegung, Ze’ev Jabotinsky, dazu: „Wir versuchen, eine Land gegen den Willen seiner Bevölkerung zu kolonisieren, in anderen Worten, mit Gewalt. […] Jede Urbevölkerung in der Welt würde sich gegen die Kolonisten wehren, solange es noch ein Funken Hoffnung gibt, der Kolonisierung zu entgehen. […] Wir haben den palästinensischen Arabern im Tausch für Palästina nichts anzubieten. Deshalb wird es nie zu einem freiwilligen Kompromiss kommen. Alle, die das Erreichen eines Kompromisses als das Sine Qua Non für den Zionismus betrachten, können gleich jetzt „Non“ sagen und den Zionismus fallen lassen. Die zionistische Kolonisierung muss entweder sofort stoppen oder andernfalls ohne Rücksicht auf die eingeborene Bevölkerung fortgesetzt werden.“ Ende Zitat.

Trotz der von prominenter zionistischer Seite schon so früh formulierten Bedenken wurde weiter Land aufgekauft, immer da, wo sich gerade ein arabischer Verkäufer fand, und so eine ständig wachsende Zahl von landwirtschaftlichen Siedlungen geschaffen. Das Ziel war, Juden anzusiedeln und mit ihrer Hilfe die wirtschaftlichen, politischen und räumlichen Voraussetzungen zu schaffen, um noch mehr Juden anzusiedeln. Ab Mitte der Dreißiger Jahre, als sich die Teilung des Landes abzuzeichnen begann, bekam die Besiedlung noch eine zusätzliche Funktion – die Eroberung des arabischen Raumes durch Zersiedlung. Durch den gezielten Ankauf von Ländereien und die Errichtung von versprengten Siedlungen in arabischen Ballungsgebieten konnte der Anspruch auf späteren Einschluss in das jüdische Staatsgebiet begründet werden. Die von der UNO 1947 eingesetzte Teilungskommission versuchte in monatelangen Sitzungen, das Problem des zersiedelten Raumes zu lösen und um die unzusammenhängenden jüdischen Siedlungsgruppen herum eine Grenze zu ziehen. Trotz der vielen Lösungen, die gefunden wurden, enthielt der auf diese Weise gezielt erweiterte jüdische Raum eine große Zahl von arabischen Bewohnern und damit schon das Motiv für die spätere Vertreibung der arabischen Bewohner des jüdischen Hinterlands.

Diese ebenso skrupellose wie kurzsichtige Politik der Zersiedlung des arabischen Raumes wurde übrigens ab 1967 in den besetzten Gebieten fortgesetzt. Die Durchsetzung des arabischen Raumes als Strategie zur Rückgewinnung des gesamten „Landes Israel“ bleibt damit weiterhin der Kern der jüdisch-arabischen Tragödie.

Nach Ausbruch der bislang schwersten Unruhen Mitte der Dreißiger Jahre tauchte zum ersten Mal die Idee der Teilung des Landes auf, vorgeschlagen von einer Britischen Untersuchungskommission, die sich mit dem bewaffneten Aufstand der arabischen Bevölkerung befasste. Dieser erste Teilungsplan von 1937 wurde in veränderter Form zehn Jahre später von den Vereinten Nationen gebilligt. Kurz darauf formulierte die jüdische Führung einen ersten, detaillierten Plan. Er sah im Fall eines Rückzugs der Briten die Übernahme der Mandatsverwaltung durch jüdische Organe vor und beauftragte die Untergrundarmee Hagana mit dem Schutz des jüdischen Siedlungsgebiets, das eine große arabische Minderheit einschloss. Der Plan basierte auf der Annahme, dass die britische Armee sich nicht in die Kämpfe zwischen Arabern und Juden einmischen und der Hagana für ihre Operationen freie Hand lassen werde.

Die zionistische Führung sagte die zwei Jahre spätere britische Entscheidung zu Nichteinmischung und Rückzug richtig voraus und begann sich darauf vorzubereiten. Das war ein entscheidender Vorteil. Zur gleichen Zeit ging die arabische Führung vom Gegenteil aus: dass die Briten das Mandat nicht abgeben, die Armee nicht zurückziehen und eine gewaltsame Machtübernahme der Juden nicht zulassen würden. Die Mehrheit der arabischen Bevölkerung war ohnehin zu einer militärischen Konfrontation weder willens noch fähig, während die zerstrittene und unbeliebte arabische Führung, wie ein Kritiker schrieb, eine „im Ganzen naive und unrealistische Politik“ betrieb. Die unterschiedlichen Erwartungen und Vorbereitungen erklären das äußerst ungleiche Kräfteverhältnis zwischen den beiden Seiten, das Ende 1947 vorherrschte, als Großbritannien ihren Rückzug und die Politik der Nichteinmischung verkündete. Die arabische Seite begann sich erst jetzt militärisch vorzubereiten. Die meisten neutralen Beobachter erwarteten – sollte es zu einer direkten Konfrontation zwischen den Milizen beider Seiten kommen – eine Niederlage der Araber. Der arabischen Führung blieb nichts anderes übrig, als ihre Hoffnungen auf eine Intervention von außen zu richteten.

Am 3. Dezember 1947, vier Tage nach dem UN-Teilungsbeschluss, sprach David Ben Gurion in einer Rede vor Parteigenossen das Problem der arabischen Bevölkerung an. Im geplanten arabischen Teilstaat sollten auf 42 Prozent der Fläche des Mandatsgebietes rund 820.000 Araber und 10.000 Juden leben; im separaten Gebiet von Jerusalem etwa je 100.000 Araber und Juden; und im geplanten jüdischen Teil – auf 56 Prozent der Fläche – ca. 500.000 Juden zusammen mit 430.000 Arabern. Ich zitiere: „Diese Tatsache muss in voller Klarheit und Schärfe gesehen werden“, sagte Ben Gurion. „Bei diesen Zahlenverhältnissen kann nicht einmal mit Sicherheit gesagt werden, ob die Regierung durch eine jüdische Mehrheit gestellt werden wird. Es wird solange keinen stabilen und starken jüdischen Staat geben, solange er eine jüdische Mehrheit von nur 60% hat. Diese Situation erfordert eine neue Haltung, neue Denkgewohnheiten.“

Am Morgen nach der Abstimmung über den Teilungsplan griffen arabische Jugendliche zwei Busse in der Nähe des Flughafens in Lydda an und plünderten einen jüdischen Markt in Jerusalem. Ein dreitägiger Proteststreik gegen die Teilung wurde ausgerufen. An den Rändern jüdischer und arabischer Stadtviertel in Haifa, Jerusalem und Jaffa fanden die ersten Scharmützel zwischen den Milizen beider Seiten statt. Der erste Tag endete mit sieben Toten auf jeder Seite. Die Hagana erhielt den Befehl, sich auf Vergeltungsschläge zu beschränken, um den „Zirkel der Gewalt“ nicht auszudehnen und weitere Schichten der arabischen Bevölkerung nicht mit einzubeziehen. Trotzdem weitete sich der Zirkel von Angriff und Vergeltung immer weiter aus. Schon Mitte Dezember fürchtete die jüdische Führung, dass die defensive Strategie als Schwäche ausgelegt werden könnte.

In der Stadt Haifa, in der ca. 70.000 Araber wohnten und eine gleiche Zahl von Juden, setzte der Auszug der arabischen Mittel- und Oberschicht ein. Nach Schätzung der Mandatsregierung hatten Mitte Dezember bereits 15.000 Araber die Stadt verlassen. Viele gingen in den nahe gelegenen Libanon und nach Beirut. Auch die Bevölkerung von Jaffa, begann vor dem sich ausweitenden Bürgerkrieg zu weichen. Jaffa war damals die modernste arabische Stadt Palästinas mit fast 80.000 Einwohnern und dem Zentrum der Apfelsinenplantagen, der berühmten Jaffa-Orangen, deren Anbau damals noch in arabischen Händen lag. Sechs Wochen der Feindseligkeiten an der Stadtgrenze zu Tel Aviv hatten zu einem fast völligen Zusammenbruch des Lebens in der Stadt geführt. Am 6. Januar sprengten Mitglieder der von Menachem Begin geleiteten rechts-extremen Irgun-Miliz das Rathaus von Jaffa mit Hilfe einer Autobombe. Damit begann auch hier der Exodus der Mittel- und Oberschicht. Die meisten schlossen ihre Wohnungen und Betriebe in der Hoffnung ab, in einigen Monaten – nach dem Einmarsch arabischer Truppen aus den Nachbarländern – zurückkehren zu können.

In Jerusalem war die politische und militärische Lage anders. Die Zugangswege standen unter der Kontrolle der arabischen Milizen. Diese hatten, wie überall im Land, ihre Taktik auf die Unterbrechung des Verkehrs zwischen den verstreuten jüdischen Siedlungsgebieten verlegt. In Jerusalem ist einer der ganz wenigen Fälle des Krieges zu finden, in denen Juden aus belagerten Stadtvierteln flüchten mussten. Die Taktik der jüdischen Milizen war entsprechend aggressiver. Im Dezember und Anfang Januar führten Hagana und Irgun wiederholt Angriffe auf arabische Vororte aus, die über der Straße nach Tel Aviv lagen. Am 5. Februar gab Ben Gurion den Befehl, die arabischen Stadtviertel im Westen zu erobern und Juden in den geräumten Gegenden anzusiedeln. Das Ergebnis beschrieb Ben Gurion auf einer Parteisitzung am 7. Februar 1948: „Wenn ihr heute nach Jerusalem hineinfahrt – durch Lifta, Romema, Machane Jehuda, King George Street und Mea Shearim – seht ihr nirgends Fremde. Alles ist 100% jüdisch.“ Zitat Ende.

In der Küstenebene, in den ländlichen Gebieten Galiläas und des Flachlands südlich von Tel Aviv begann im Januar und Februar ein langsamer, ständiger Auszug der arabischen Dorfbevölkerung. In diesen Gebieten fand der immer heftiger werdende Kampf um die Landstraßen statt. In den meisten Fällen flüchteten die Bewohner nach Angriffen oder Vergeltungsaktionen von Hagana und Irgun oder aus Furcht vor solchen Angriffen. In einigen Fällen wurden ganze Dorfbevölkerungen gezielt vertrieben, durch Einschüchterung zur Flucht bewegt oder auf Befehl arabischer Milizen evakuiert. Der übergroße Teil dieser Flüchtlinge, und vor allem die Stadtbevölkerung, rechnete weder mit permanentem Exil noch mit permanentem Flüchtlingsdasein. Die meisten wichen der jüdischen Übermacht und hofften auf eine baldige Rückkehr.

In den ersten vier Monaten seit dem New Yorker Teilungsbeschluss waren bereits 75.000 bis 100.000 Araber geflohen. Diese erste Massenflucht war nicht das Resultat einer allgemeinen Vertreibungspolitik. Sie wurde ausgelöst durch die Haltung der Britischen Regierung, die der schwächeren arabischen Bevölkerung keinen Schutz gewähren wollte, durch Angriffe und Vergeltungsschläge der jüdischen Seite, die zur Verteidigung der eigenen Gebiete unternommen wurden, und durch die Fehler und Kurzsichtigkeit der arabischen Führung, die keine adäquaten politischen und militärischen Vorbereitungen getroffen hatte und die eigene Bevölkerung weitgehend ihrem Schicksal überließ. Das Ausmaß und die Schnelligkeit des Auszugs überraschten alle. Bei der jüdischen Führung führten sie zu einem neuen strategischen Denken.

Im März 1948 war der britische Rückzug weit fortgeschritten. Die arabischen Nachbarländer hatten eine Intervention zwar noch nicht formell beschlossen, aber alle Seiten gingen davon aus, dass sich der Bürgerkrieg zwischen den Milizen innerhalb kürzester Zeit zu einem Krieg zwischen den Armeen Israels und der Nachbarländer ausweiten würde. Die arabischen Armeen mussten die formelle Aufhebung des Mandats und den völligen Rückzug der Briten abwarten. Die jüdische Führung hatte somit ein bis zwei Monate Zeit, das Innere des zukünftigen Staatsgebiets zu sichern, in dem vorerst nur die schwachen arabischen Milizen operierten, und die verstreuten jüdischen Siedlungsgebiete zu einem verteidigungsfähigen Ganzen zusammenzufügen. Das Oberkommando der Hagana präsentierte dafür Anfang März einen Plan – Plan D. Teile diese Planes wurden später als Beweis angeführt, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine planvolle, systematische Vertreibung der arabischen Bevölkerung beabsichtigt war. Eine genaue Analyse der unter diesem Plan ausgeführten Operationen und Befehle, die nur zu einem kleinen Teil schriftlich erteilt wurden, ergibt ein komplexeres Bild. Im Resultat allerdings führten die im Prinzip defensiven Aktionen des Plan D in den Monaten März bis Juni zu einer fast völligen Entvölkerung der arabischen Gebiete. Die Zwischenwirkungen von militärischen Operationen und einer verängstigten, schutzlosen und fluchtbereiten arabischen Bevölkerung waren ausschlaggebend.

Plan D sah eine schrittweise Übernahme der von den Briten nach und nach geräumten Gebiete, der militärischen und zivilen Einrichtungen vor. Die Hagana sollte in diesen Gebieten, ich zitiere, “ Operationen gegen feindliche Siedlungen ausführen, die sich hinter, in der Nähe oder auf unseren äußeren Verteidigungslinien befinden mit dem Ziel, ihre Verwendung als Basis militärisch aktiver Kräfte zu verhindern. Siedlungen sollen umstellt, nach Waffen und Milizionären abgesucht werden. Im Fall des Widerstands sollen die feindlichen Kräfte zerstört und die Bewohner aus dem Staatsgebiet vertrieben werden. Im Fall der kampflosen Übergabe werden die Orte entwaffnet und eine Garnison hinterlassen. In den Fällen, in denen eine ständige Sicherung nicht möglich ist, sollen die Dörfer niedergebrannt oder abgerissen und die Reste vermint werden.“

Die Hagana wollte keinerlei Risiko eingehen. Während der erwarteten Kämpfe mit den arabischen Armeen an den äußeren Grenzen musste das Innere des Landes ruhig bleiben. Praktisch waren damit alle arabischen Orte innerhalb des zukünftigen Staatsgebiets zu militärischen Zielen erklärt.

Die im Plan D vorgesehenen militärischen Operationen begannen am 6. April in Jerusalem. Das Ziel war die Aufhebung der fast vollständigen Umzingelung der westlichen, von Juden gehaltenen Stadtteile. Innerhalb von vierzehn Tagen wurden Dutzende arabische Dörfer an den Zugangswegen angegriffen und die Milizionäre vertrieben. Die gesamte Bevölkerung dieser Orte flüchtete entweder vor oder während der Attacken. Einige leere Dörfer wurden völlig vernichtet, in anderen alle Häuser gesprengt, die nicht zur Verteidigung nötig waren. Diese erste, große Aktion der Hagana, deren Erfolge in den späteren Kämpfen zum Teil revidiert wurden, wirkte wie ein Schock auf die arabische Bevölkerung. Der Fall eines Dorfes, Deir Yassin, hatte eine derartige Wirkung, dass viele Araber und Juden in diesem einzigen Ereignis den wichtigsten psychologischen Faktor in den Geschehnissen der kommenden Monate sahen.

Nachrichten über das Massaker von Deir Yassin, das von den linksgerichteten jüdischen Parteien und der Führung sofort verurteilt wurde, drangen über das Radio in alle Dörfer und Städte. Die konkrete Drohung und Einschüchterung, die davon ausging, beeinflusste das Geschehen in den Städten Haifa und Jaffa, die zwei Wochen später hinter den sich zurückziehenden Briten von jüdischen Truppen angegriffen wurden.

Der jüdische Angriff auf das arabische Haifa begann überstürzt. Die Briten hatten sich unerwartet in der Nacht von 20. zum 21. April an den Stadtrand und Hafen zurückgezogen. Um das Vakuum zu füllen, begannen jüdische Truppen sofort mit der Eroberung strategischer Zufahrtswege und am Abend mit dem Angriff auf die arabischen Stadtviertel. Die sogenannte Schlacht um Haifa, die eine totale Katastrophe für die arabische Bevölkerung mit sich brachte, dauerte etwa 24 Stunden. Auf jüdischer Seite beteiligten sich etwa 500 Soldaten, von denen 20 getötet wurden. Die Hagana setzte alles auf größtmöglichen Schock und beschoss kurzerhand das Zentrum des arabischen Haifa, den Markt, mit Mörsern.

Die Beschießung des Marktes trieb nicht nur die etwa 1500 arabischen Milizionäre in die Flucht sondern auch fast die gesamte Zivilbevölkerung – 50.000 Menschen – die von britischen Truppen per Boot nach Acre/Akko evakuiert wurden, jedes Mal 200 oder 300 Menschen, in einer Aktion, die mehr als eine Woche dauerte. Auch in Acre fanden sie keine dauerhafte Zuflucht. Noch in der gleichen Woche begann die Hagana, auch diese alte Hafenstadt zu beschießen. Zwei Wochen später wurde Acre erobert. Von den inzwischen über 40.000 Menschen in der Stadt flohen neunzig Prozent über die Grenze nach Libanon und Syrien oder in die Gebiete des westlichen Jordanufers.

Drei Tage nach der „Schlacht um Haifa“ fand der Angriff auf Jaffa statt, die größte arabische Stadt Palästinas, die als Enklave im jüdischen Gebiet zum arabischen Staat gehören sollte. Die Hagana betrachtete diese Nachbarstadt von Tel Aviv, die von jüdischen Siedlungen umgeben war, nicht als Bedrohung und plante, die in Jaffa anwesenden Milizen durch eine Blockade zur Aufgabe zu zwingen. Aber die von der rechten Opposition geführte Irgun sah hier eine Gelegenheit, ein politisches Signal zu setzen.

Der Angriff auf Jaffa begann im Morgengrauen des 25. April mit einer Beschießung durch schwere Mörser, die von den Briten gestohlen worden waren. Die Irgun brauchte drei Tage, um die gut verteidigte Stadt einzunehmen. 72 Stunden lang blieben die inneren Stadtviertel unter Granatfeuer. Auch hier wurde die arabische Bevölkerung per Schiff oder über Land evakuiert. Von den ca. 80.000 ursprünglichen Einwohnern blieben nach Ende der Kämpfe nur 3.000 in der Stadt zurück. Jaffa wurde Teil der Stadt Tel Aviv.

Mitte April gab Ben Gurion zum ersten Mal einen direkten Befehl, eine ganze ländliche Region südöstlich von Haifa von Arabern zu „säubern“, trotz eines Waffenstillstandsangebots der arabischen Milizen. Der linksgerichtete Koalitionspartner Mapam protestierte. Ben Gurion bezichtigte seine Kabinettskollegen der Heuchelei. Ich zitiere: „Die Ideologie der jüdisch-arabischen Verbrüderung ist eine Sache, strategische Notwendigkeiten eine andere. Unsere Truppen sind mit einer grausamen Realität konfrontiert und hatten nur eine Wahl: die Araber zu vertreiben und ihre Dörfer zu zerstören.“

Seit Anfang April wurden noch einmal fast 200.000 Menschen zur Flucht gezwungen. Am 14. Mai, zwei Wochen nach dem Fall von Jaffa, beendeten die Briten ihren Rückzug. Der Staat Israel wurde ausgerufen und konnte endlich die jüdischen Einwanderer ins Land lassen, die auf die Öffnung der Grenzen gewartet hatten.

Diese Kombination von Faktoren – die Stärkung der strategischen Position der Juden durch die einsetzende Einwanderungswelle und die Fluchtbereitschaft der arabischen Bevölkerung angesichts der Hagana-Angriffe – führte zu der Politik der gezielten Vertreibungen. Am 15. Juni schrieb der israelische Außenminister Shertok an Nachum Goldmann, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses: „Bei der sich jetzt bietenden Gelegenheit zur einer dauerhaften und radikalen Lösung eines der lästigsten Probleme des jüdischen Staates stockt einem der Atem. Selbst wenn sich gewisse Nachwirkungen nicht vermeiden lassen, müssen wir doch diese große Chance nutzen, mit der uns die Geschichte so geschwind und unerwartet beschenkt hat.“

Mit der Intervention der arabischen Nachbarländer am 15. Mai wandelte sich der Bürgerkrieg zu einer Auseinandersetzung zwischen Armeen. Aber auch hier war das Ungleichgewicht der Kräfte groß. Die arabischen Länder, unterentwickelt und verarmt aus dem kolonialen Joch entlassen, schickten widerwillig und halbherzig eine Truppe von 23.000 Mann in den Kampf gegen die gerade gegründete israelische Armee, die über 35.000 Soldaten in Kampfeinheiten verfügte. Nur die Arabische Legion Jordaniens wurde von israelischer Seite als Gegner ernst genommen. Das von der jüdischen Führung bereits 1947 geschaffene Bild einer arabischen Übermacht war pure Fiktion und sollte das Ausland dazu bewegen, mehr und bessere Waffen zu liefern. Trotzdem – auch der Ausgang dieses Krieges blieb ungewiss. Die Angst der jüdischen Bevölkerung vor einer Niederlage und ihren Folgen war keine Fiktion.

Auf Grund geheimer Vereinbarungen zwischen der jüdischen Führung und dem Jordanischen König Abdallah beschränkte sich die Legion auf die Verteidigung der im Teilungsplan vorgesehenen arabischen Gebiete. Abdallah wollte sie seinem Königreich einverleiben. Nur über Jerusalem und die Verbindung zur Küste hatte es in den geheimen Gesprächen der vergangenen Jahre keine Übereinstimmung gegen. Hier kam es zu Kämpfen zwischen der Legion und der israelischen Armee.

Nach dem ersten Waffenstillstand am 11. Juni beschäftigte sich das Kabinett mit der Frage, ob die Flüchtlinge zurückkehren könnten. Ben Gurion sah in der Rückkehr den Keim eines neuen Krieges. Zu viele arabische Dörfer und Städte seien inzwischen zerstört und geplündert. Außerdem müsse Platz für die jüdischen Einwanderer geschaffen werden. Am 16. Juni wurde diese Haltung zur offiziellen israelischen Politik erhoben. Gegenüber dem UN-Vermittler Graf Bernadotte, der die Rücknahme der inzwischen über 300.000 Flüchtlinge verlangte, erklärte die Regierung am 17. Juni: „Diese Frage kann nicht behandelt werden, solange der Kriegszustand andauert. Die Regierung hat noch keinen Standpunkt gegenüber einer endgültigen Lösung eingenommen. Die Eigentumsrechte der Flüchtlinge bleiben solange gewahrt.“ Damit wurde eine Politik formuliert, die bis heute gültig ist. Im Juli telegraphierte der Außenminister Instruktionen an die israelische UN-Delegation. In diesen Richtlinien ist schon das Schlüsselargument enthalten, mit dem die israelische Regierung auch in den folgenden Jahrzehnten alle Schuld von sich wies. Ich zitiere:

„1. Der arabische Exodus ist eine direkte Folge der von den arabischen Staaten ausgehenden Aggression.

2. Arabische Rückkehr bleibt ausgeschlossen, solange Kriegszustand andauert. Ausnahmen nur in Sonderfällen auf Grund humanitärer Erwägungen.

3. Lösung Rückkehrfrage nur als Teil eines Friedensvertrages mit arabischen Staaten.“

Aber noch war die erste Phase der arabischen Tragödie nicht beendet. In kurzen, dem Waffenstillstand folgenden militärischen Operationen wurden zwischen Sommer und Winter 1948 neue Gebiete erobert – im Norden das gesamte Galiläa, im Süden die Negev-Wüste und ein breiter Landstreifen zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Hier lagen die arabischen Städte Ramle und Lydda, das heutige Ramla und Lod, auf deren Gebiet der internationale Flughafen „Ben Gurion“ liegt. Nur eine einzige Kompanie jordanischer Truppen – etwa 150 Soldaten – stand im Juli 1948 zu ihrem Schutz bereit, in der Erwartung, dass sich die israelische Regierung an die geheimen Abmachungen mit Abdallah halten werde. Die israelische Regierung jedoch sah in den außerhalb des designierten Staatsgebiets aber kaum 20 Kilometer von Tel Aviv liegenden Städten eine so große Bedrohung, dass sie mehrere Brigaden zu ihrer Eroberung einsetzte. Der Auftrag lautete: die Verteidiger möglichst schnell zu überwältigen und die Bevölkerung zur Flucht zu bewegen.

Am 10. und 11. Juli wurden die Städte vom Boden und aus der Luft bombardiert. Ein Teil der Bevölkerung floh. In der Nacht zum 12. Juli zogen sich die jordanischen Truppen zurück. Zur selben Zeit unterzeichnete der Stadtrat von Lydda die Übergabe. Das Dokument garantierte der Bevölkerung Schutz von Leben und Gut. Israelische Truppen betraten Lydda im Morgengrauen und internierten – um ungestört nach Waffen suchen zu können – die männliche Bevölkerung in den Moscheen und Kirchen der Stadt. Um die Mittagszeit entstand eine Schießerei zwischen Soldaten und in der Stadt noch versteckten Milizionären. Unter der relativ kleinen israelischen Besatzungsmacht, etwa 300 Mann in einer Stadt von mehr als 60.000 Einwohnern, brach Panik aus. Die Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte. In einigen Moscheen wurden die internierten Männer umgebracht. Am Ende lagen etwa 300 Bewohner der Stadt tot auf der Straße. Der Großteil der Bevölkerung beider Orte wurde sofort von der israelischen Armee in einem Gewaltmarsch über die jordanischen Linien in die Westbank abgeschoben.

Ein zweiter Waffenstillstand im Juli gab der israelischen Armee Gelegenheit, das Innere des jüdischen Gebiets und die Fronten von „feindlichen oder potentiell feindlichen“ arabischen Bewohnern zu räumen. Diesmal provozierten die Angriffe auf noch intakte Dörfer südlich und südöstlich von Haifa erstmals Proteste im Ausland. Die UNO entschloss sich zu einer Untersuchung. Der UN-

Gesandte Graf Bernadotte bezeichnete die Eroberungen als nicht gerechtfertigt, besonders „angesichts der Bereitschaft zu Verhandlungen“, und verurteilte Israel wegen der „systematischen“ Zerstörung von Dörfern. Die Angriffe von Juli bis Oktober trieben noch einmal ca. 100.000 Menschen in die Flucht.

Nach der Wiederaufnahme der Kämpfe am 15. Oktober gelang es der israelischen Armee weitere Gebiete zu erobern: das obere Galiläa, den Küstenstreifen südlich von Tel Aviv, das Vorgebirge des Judäischen Hochlands und den nördlichen Teil der Negev-Wüste mit der arabischen Stadt Beersheba. Ende Dezember 1948 waren weitere 100.000 bis 150.000 Araber geflohen.

Während der Operationen im Oktober kam es zu einer Welle von Übergriffen auf Gefangene und auf die arabische Zivilbevölkerung. In den letzten Kriegswochen eroberte die israelische Armee den gesamten Negev bis nach Eilat und vertrieb die meisten der dort lebenden Beduinen. Zum Jahreswechsel waren von den ursprünglich etwa 1 Million Arabern im israelischen Staatsgebiet nur noch 100.000 übrig. Der 1913 in Polen geborene und 1933 eingewanderte Yitzchak Pundak war gerade in der neuen israelischen Armee zum Brigadegeneral befördert worden. Als Befehlshaber des Südabschnitts hatte er während des Krieges Hunderte von Dörfern räumen lassen. 1997 wurde er gefragt, wie er heute zu dem Unrecht steht, dass der arabischen Bevölkerung unter seinem Befehl angetan wurde. Ich zitiere: „Die Bevölkerung von 200 Dörfern flüchtete. Wir zerstörten die Dörfer. Sie können sagen: Das ist ein Unrecht. Aber das größere Unrecht wurde den Juden angetan, im Holocaust. Hunderttausende Juden warteten darauf, ins Land zu kommen, eine Heimat zu finden. Ihre einzige Heimat war Israel. Niemand wollte sie aufnehmen. Europa. Frankreich, England, die Vereinigten Staaten – keiner wollte sie. Sie suchten eine Heimat, und die einzige Zuflucht war Israel. Also, wo konnten wir sie ansiedeln? In Tel Aviv? Wir brauchten Land, um die Leute aufzunehmen, um Siedlungen für sie zu bauen. So waren wir natürlich glücklich, dass die Araber flüchteten.“

Damit endet das erste Kapitel der palästinensischen Katastrophe.

Das folgende Kapitel begann mit der Weigerung der israelischen Regierung, die Flüchtlinge ganz oder teilweise zurückzunehmen. Von diesem Moment ab kann von einer ethnischen Säuberung auch im rechtlichen Sinne gesprochen werden. Die Rücknahme von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten nach Ende der Kampfhandlungen ist eine Verpflichtung, die im internationalen Recht verankert ist. So forderten die UNO und die dortigen Förderer Israels inklusive die USA die Regierung Ende 1948 unzweideutig dazu auf, der Rückkehr aller Rückkehrwilligen im Prinzip zuzustimmen. Dabei wurde angenommen, dass nicht alle früheren arabischen Bewohner im israelischen Staatsgebiet zu wohnen wünschten. Die entsprechende UNO-Resolution vom Dezember setzte der Rückkehr keine Fristen und sprach nur vom „frühest möglichen Zeitpunkt“. Die israelische Regierung weigerte sich trotzdem. Die arabischen Nachbarstaaten, die den Flüchtlingen Asyl gewährten, erklärten sich wirtschaftlich außerstande, alle Flüchtlinge in ihren Ländern zu absorbieren.

Inzwischen hatte sich durch den Zustrom von jüdischen Einwandern und die völlige Übernahme oder Zerstörung arabischen Besitzes das Primat der Nichtrücknahme so stark in der israelischen Politik verfestigt, dass selbst die Möglichkeiten zu einem Friedensschluss, die während der Genfer Friedensverhandlungen im Frühjahr 1949 auftauchten, von der israelischen Regierung abgewiesen wurden.

Die israelische Strategie, die bis in die 90er Jahre gültig blieb, brachte der spätere Außenminister Abba Eban im Juli 1949 so zum Ausdruck: „Es gibt keine Notwendigkeit, dem Frieden nachzulaufen. Ein Waffenstillstand reicht uns. Wenn wir dem Frieden nachrennen, werden die Araber ihren Preis fordern: Gebietsaufgabe oder Rücknahme der Flüchtlinge oder beides. Wir können es uns erlauben, noch einige Jahre zu warten.“ Aus einigen Jahren wurden Jahrzehnte. Die arabischen Länder, die anfangs bereit waren, einen Teil der Flüchtlinge zu integrieren, suchten die Hilfe der UNO. Damit begann das nächste Kapitel der Katastrophe: das fortdauernde Flüchtlingsdasein unter den elenden Bedingungen der von der UNWRA verwalteten Lager.

Am Ende des Krieges umfassten die neuen Staatsgrenzen Israels fast achtzig Prozent des gesamten Mandatsgebiets Palästinas. Bis zum Sommer 1949 kamen etwa 200.000 jüdische Einwanderer ins Land. Sechzig Prozent davon wurden in verlassenen arabischen Häusern untergebracht. Jüdische Siedlungen, Kibbuzim oder Moschavim, entstanden auf den Ruinen oder in der Nähe zerstörter Dörfer. Nach einer UN-Studie befand sich in den verlassenen arabischen Orten etwa ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes, und von den 370 Siedlungen, die zwischen 1948 und 1958 entstanden, lagen 350 auf arabischem Land. Der verlassene Besitz der arabischen Bevölkerung sicherte so den wirtschaftlichen Fortbestand des jungen Staates. Während Israel von der Flucht und den Enteignungen profitierte, zerbrach die arabische Gesellschaft Palästinas in Stücke.

II

In der jüdischen Gesellschaft Israels sind diese Ereignisse von mächtigen, allgegenwärtigen Mythen umrankt. Sie gehören zusammen mit der israelischen Deutungsweise der Ursprünge und Folgen des Krieges von 1948 zu jenem umfassenden Entstehungsmythos des Staates, der nicht nur in Israel verbreitet ist, sondern auch in einem großen Teil der westlichen Welt.

Die Frage nach Schuld oder Verantwortung für die Tragödie des palästinensischen Volkes wurde in Israel lange Zeit eindeutig beantwortet: Die Katastrophe wurde von der palästinensisch-arabischen Führung und den Regierungen der arabischen Nachbarländer selbst verursacht. Sie war eine Konsequenz des von arabischer Seite provozierten Bürgerkriegs von November 1947 bis Mai 1948 und des sich anschließenden ersten Nahostkriegs, der mit einem Angriff der arabischen Nachbarstaaten auf Israel begann und mit einem Eroberungsfeldzugs Israels in der Negev-Wüste 1949 endete. Die Flucht der Zivilbevölkerung kam dieser Version nach durch das spontane Ausweichen der arabischen Bevölkerung vor Kriegshandlungen zustande und durch die Aufforderung der arabischen Führung an die Zivilbevölkerung, sich zeitweise hinter die arabischen Linien in Sicherheit zu bringen. Da die arabische Seite mit ihrer Aggression die von der UNO beschlossene Teilung Palästinas zu verhindern suchte, müsse sie für die Kriegshandlungen, die dadurch ausgelöste Flüchtlingswelle und das seitdem bestehende Flüchtlingsproblem die alleinige Verantwortung tragen.

Die Rückkehr der Flüchtlinge lehnte und lehnt Israel mit dem Argument ab, dass die Ausübung dieses Rechts den „jüdischen Charakter“ des Staates gefährden würde. Mit „jüdischem Charakter“ ist nicht die Prägung des Landes durch jüdische Geschichte oder Kultur gemeint, nicht die Wahrung religiöser Freiheiten, sondern das Festhalten an einem deutlichen demographischen Übergewicht der Juden gegenüber dem arabischen Bevölkerungsteil. Israelische Regierungen haben sich bisher erfolgreich auf dieses Prinzip berufen können, trotz der einschneidenden Folgen für die Flüchtlinge und die Rechte der nichtjüdischen Bürger Israels, weil es zu den auch im Ausland akzeptierten Grundlagen des Staates gehört. Das Prinzip des „ethnischen Charakters“ Israels, also eines für die Ethnie der Juden reservierten Gemeinwesens, ist durch das Völkerbundsmandat von 1922, den UN-Teilungsbeschluss von 1947 und andere Entscheidungen der Staatengemeinschaft rechtlich legitimiert, und durch die Unterstützung des Westens politisch gesichert.

Die These von der Unschuld an der palästinensischen Katastrophe ist in der jüdischen Gesellschaft Israels von fundamentaler Bedeutung. Von ihr hängt das System der Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen ab, das die israelische Gesellschaft sich geschaffen hat und in Form der „Hasbara“, der auf das Ausland gerichteten Propaganda, der Welt präsentiert. Mit ihr steht und fällt das Gefühl der moralischen Überlegenheit und Integrität, auf denen die Opferbereitschaft der Bevölkerung und der Kampfeswillen der Armee basiert und die Unterstützung durch die Juden und Nicht-Juden im Ausland. In der Innenpolitik Israels ist die These so stark verfestigt, dass sie der Außenpolitik kaum Spielraum lässt. Jedes Eingehen auf arabische Forderungen, die sich aus der Katastrophe von 1948 ergeben, die Rückkehr von Flüchtlingen, die Restitution von hinterlassenem Eigentum oder die Leistung von Entschädigung, wird in der israelischen Öffentlichkeit nicht als moralische der rechtliche Verpflichtung hingestellt sondern als Entgegenkommen und mögliche Belohnung für Konzessionen, die von der anderen Seite zu leisten sind. Die Kluft zwischen den in Israel und unter Palästinensern gängigen Versionen der Konfliktgeschichte ist so groß, dass sie die Verhandlungen mit den Nachbarländern und den Palästinensern schwer belastet. Jeder Versuch, an den Grundannahmen der These zu rütteln, wird in der israelischen Öffentlichkeit sofort desavouiert und bekämpft.

Neben der quasi offiziellen israelischen Version der Entstehungsgeschichte des Flüchtlingsproblems gibt es Darstellungen, die – wie erwähnt – von komplexeren Ursachen oder von einer geplanten Vertreibung der Araber durch die israelische Armee ausgehen. Alle Versionen hatten bis in die späten Achtziger Jahre hinein gemein, dass sie sich nicht untermauern ließen und allein auf den Erinnerungen von Beteiligten basierten, die zu der einen oder anderen Seite gehörten. Die nach Öffnung der israelischen Archive einsetzende Forschung begann ein anderes, viel differenziertes Bild zu zeichnen, das allerdings der gängigen Unschuldsthese völlig widersprach. Während die „Neuen Historiker“ versuchten, das auf Mythen basierende Geschichtsbild der Epoche zu revidieren oder zu versachlichen, gingen andere Historiker zum Gegenangriff über. Sie unterlegten den „Neuen Historikern“ politische Motive und taten ihre Ergebnisse als antizionistische Propaganda ab. Beim Material aus den staatlichen Archiven, den Sitzungsprotokollen des israelischen Kriegskabinetts, den Kriegstagebüchern und schriftlichen Befehlen der militärischen Instanzen war höchstens an der Interpretation zu rütteln. Die Verlässlichkeit der mündlichen Quellen allerdings, der Zeugenaussagen von arabischen Flüchtlingen, die bei der Eroberung von Hunderten von Dörfern oft die einzigen Informationen lieferten, ließ sich grundsätzlich in Zweifel ziehen. Damit blieb an einem bestimmten Teil der Forschung, der Rekonstruktion von Vertreibungen, Gewaltakten und Massakern, der Makel der Einseitigkeit und Parteilichkeit haften.

In der israelischen Öffentlichkeit schlägt die Forschung der „Neuen Historiker“ kaum zu Buche. Dort, wo sie die Massenmedien beschäftigt, werden nur die vermeintlich politischen Motive der Historiker diskutiert. Der Inhalt der Arbeiten erscheint zu abwegig, um ernsthaft erörtert zu werden. So beharrt die israelische Öffentlichkeit weiterhin auf der These der durch Kriegswirren und arabische Hetze ausgelösten Flucht der Ursprungsbevölkerung.

III

Im Westen war die israelische Version der Ereignisse aus eigenen, sehr unterschiedlichen Gründen willkommen. Der Entstehungsmythos des Staates basierte auf Ideen, die der Zionismus mit seinem Umfeld im christlich geprägten Westen teilt – dass die Kolonialisierung Palästinas die Renaissance der Jüdischen Nation in ihrer alten Heimat darstellt und dass die jüdischen Ansprüche auf das Land zumindest gleichrangig mit den Interessen der arabischen Bevölkerung sind. Aus dieser Perspektive wuchs den Arabern Palästinas, die sich diesem Anspruch widersetzten, quasi von selbst die Schuld für den Grundkonflikt zu und damit auch für die Folgen.

Hinzu kommt noch eine Vielzahl anderer Faktoren, die in den einzelnen Ländern des Westens unterschiedliches Gewicht haben und von denen ich einige nennen will:

Die Solidarität mit Juden in der Nachkriegszeit: In vielen Länder, die 1939-45 von der Wehrmacht besetzt waren und in denen die jüdische Bevölkerung deportiert und umgebracht wurde, entstand nach 1945 das Wunschbild, dass mit der Entstehung Israels ein klein wenig des schrecklichen Geschehens wieder gut gemacht werden könnte. Auch die Gefühle von Mitschuld, Mitverantwortung und Ohnmacht, die sich unweigerlich nach der Deportation der jüdischen Mitbevölkerungen einstellten, haben eine Rolle gespielt. In den Niederlanden, in Belgien und Frankreich wurde Israel bis Anfang der Achtziger Jahre geradezu idolisiert, nicht zuletzt wegen seiner militärischen Leistungen und der Idee des gerechten Kampfes, den das kleine und tapfere Israel gegen die übermächtigen Araber zu führen scheint. Das Bild Israels als das Land der Schwachen und Verfolgten, das um seine Freiheit kämpft, war ein Mythos, dem sich nur wenige Bürger des Westens entziehen konnten.

Die Zionistische Führung, und nach 1948, israelische Regierungen haben diese Vorstellungen systematisch gefördert und für ihre eigenen Interessen genutzt.

Auch in den USA wurde und wird Israel als Militärmacht bewundert, hauptsächlich dafür, dass es sich 1948 und 1967 gegen eine vermeintliche Übermacht arabischer Staaten so glänzend gewehrt hat. In den USA war das idealisierte Bild der jüdischen Nation schon im 19. Jahrhundert mit wichtigen Elementen der eigenen Identität verbunden: den Tugenden der Pioniergesellschaft und mit dem Kampf um Territorium im Namen von Freiheit und Selbstbestimmung. In den Zwanziger Jahren begannen jüdische und zionistische Gruppen darauf einzugehen, in dem sie die jüdische Siedlergesellschaft in Palästina als Erbe der amerikanischen „Werte“ darstellten. Nach dem Krieg war John F. Kennedy einer der ersten, der eine „besondere Beziehung“ zwischen den USA und Israel beschwor, zuerst als Senator während des Wahlkampfs und dann als Präsident beim Versuch, Israel von der Entwicklung von Atomwaffen abzuhalten. Die Rhetorik der „besonderen Beziehung“ sollte nicht nur jüdische Wähler anziehen, sie musste auch die amerikanischen Verpflichtungen für die Sicherheit des bedrohten Staates betonen, ohne dass die USA gleichzeitig bereit waren, Israel eine formelle Sicherheitsgarantie zu geben.

Zum Schluss will ich auf die Gründe eingehen, warum das israelische Narrativ gerade in Deutschland besonders willkommen war und warum eine so einseitige und idealisierte Sicht israelischer Handlungen und Motive sich gerade hier besonders stark verfestigt hat.

In der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust ist in der Bundesrepublik ab Mitte der Fünfziger Jahre ein umfassendes Wunschbild von Juden, vom jüdischen Staat und seinen jüdischen Bürgern entstanden. Ab 1960 setzte, begleitet von idealsierenden Darstellungen Israels in den bundesrepublikanischen Medien, eine umfassende Hinwendung zu Israel ein: Städtepartnerschaften, Schülerreisen, Exkursionen von Kirchengemeinden, Projekte deutscher Parteien, Gewerkschaften, wissenschaftlicher und kultureller Organisationen. Diese Hinwendung und die damit verbundenen Idealisierungen wurden zu einem wichtigen Element der politischen Identität der Bundesrepublik und seiner Eliten, zum Symbol der West-Orientierung und dem erfolgreichen Wandel Deutschlands zu Demokratie, Toleranz und Liberalismus.

Die Bilder von Israel in der Bundesrepublik trugen spezifische Züge: Die jüdischen Bürger des Staates wurden nicht mehr als „Juden“ dargestellt, sondern als „neue Menschen“, die von den negativen Assoziationen des Diasporatums befreit waren. Hier vermischten sich die Wunschbilder des Zionismus mit denen einer Gesellschaft, die jetzt eine Transformation vom Makel des Antisemitismus zum Philosemitismus herbeiwünschte. Gleichzeitig wurden in Israel ausgerechnet die deutschen Tugenden bewundert, die westliche Rationalität von Industrie, Landwirtschaft und der sozialen Institutionen. Israel repräsentierte die Fortschrittlichkeit des Westens. Die Araber galten als Verlierer, nicht nur des Krieges, sondern auch des Wettkampfs der Zivilisationen. Dabei waren die Juden, als Vertreter der Moderne, nichts anderes als die Vollstrecker eines unaufhaltsamen Schicksals. Das arabische Palästina hatte sich zwangsläufig, und verdientermaßen, zu einem jüdischen Israel gewandelt. Diese transformatorische Logik ist eines der Bindeglieder zwischen der Ideologie Israels und dem Geist der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Die Juden, für den deutschen Nationalismus ein Fremdkörper, schienen nun endlich auf ihrem „eigenen Grund und Boden“ angelangt zu sein und mussten nicht länger im fatalen Status der Minderheit – in der „Fremde“ – verharren. Das erschien manchen ein winziger Trost im großen Unglück der Judenverfolgung.

Diese Wunschbilder haben das Gespräch über Israel in der Bundesrepublik über Jahrzehnte beeinflusst, auf eine Art und Weise, wie sie sonst nur noch in den USA zu beobachten ist. In beiden Länder ist die Idealisierung Israels so stark Teil eigener kollektiver Identitätskonstruktionen geworden, dass ein Gespräch über den jüdischen Staat zu einem Gespräch über die eigene politische Identität geworden ist. Der öffentliche Diskurs über Israel und die Geschehnisse von 1948 ist aus diesen Gründen gerade in Deutschland  so normiert, eingeschränkt, ja erstarrt. Dieser Diskurs kann die komplexen Realitäten des jüdischen Staates schon längst nicht mehr adäquat erfassen.

© Daniel Cil Brecher 2010

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Zehn Bemerkungen zum Manifest „Freundschaft und Kritik“ und dem Diskurs der Israel-Freundschaft in Deutschland

In Vorträge on Juni 21, 2010 at 10:13 am

1

Zuerst eine kleine Geschichte. Sie spielt in Schefar’am, einem arabischen Ort in der Bucht von Haifa gleich neben Kiryat Ata. Ich war dort im Frühjahr 1983 zu einem Vortrag eingeladen von der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste im Rahmen eines Einführungsseminars für eine Gruppe neuer Freiwilliger aus Deutschland. Das Seminar fand im „House of Hope“ statt, dem International Peace Center des wahrscheinlich auch vielen hier bekannten Elias Jabbour. Teilnehmer waren etwa 20 deutsche Freiwillige und etwa 20 arabische Jugendliche aus dem Ort. Mein Thema lautete: Geschichte des Zionismus. Sie können sich vorstellen, daß ich das eine schwierige Aufgabe fand? Wen sollte ich ansprechen? Die deutschen Jugendlichen oder die arabischen? Ich konzentrierte mich einfach auf das 19.Jahrhundert und stellte die Antriebskräfte in der Entwicklung des Zionismus dar – der Nationalismus der europäischen Völker, der Juden ausschloß, die Blutschuldlügen, die russischen Pogrome von 1881/2 und schließlich die Rassentheorien, die in der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik mündeten. Bei jeder Erwähnung eines dieser Punkte nickten die deutschen Teilnehmer verständnisvoll und betroffen. Die arabischen Schüler hingegen schauten entweder auf den Boden oder blickten mich wütend an. Nach Ende des Vortrags kam ein Mädchen auf mich zu und begann mich anzuschreien. Was hat das mit uns zu tun? Was hilft uns das, daß wir das wissen? Ich erinnere mich noch an ihre Augen: Ich sah eine Wut, die nur aus Ohnmacht entstehen kann.

Hier haben wir unser Thema zusammengefaßt: Wir werden der palästinensischen Sache nicht gerecht, wenn wir von Verfolgung, von Antisemitismus in Europa und von deutscher Geschichte reden, und wir werden der israelischen Sache nicht gerecht, wenn wir nur vom Schicksal der Palästinenser sprechen. Es täte uns allen gut, diese zwei Dinge auseinander zu halten.

2

Das Verhältnis der Deutschen zu Israel ist äußerst komplex, voller Widersprüche und in den fast sechzig Jahren, in denen die Staaten bestehen, voller kaum nachvollziehbarer Sprünge und Kapriolen. Deutlichkeit und Konsistenz in diesem Verhältnis herrscht fast nur in Sonntagsreden und, löblicherweise, seit der Ära Brandt-Scheel, auch in der Außenpolitik. „Israel“ bedeutet und bedeutete zu verschiedenen Zeiten für die verschiedenen Gruppen in der dt. Gesellschaft ganz verschiedene Dinge. Das eine für Christen, etwas anderes für Sozialdemokraten & Gewerkschaftler, wiederum etwas ganz anderes für Konservative, für Liberale, für die alte und neue Rechte, von der DDR und den dortigen Verhältnissen jetzt zu schweigen.

Das „besondere Verhältnis“ ist vor allem selbstbezogen. Es hat als Projektion eines positiven, kollektiven Selbstbildes der Deutschen in der Vergangenheit sehr viel Gutes bewirkt. Es war ein Selbsterziehungsmaßstab der deutschen Demokratie. Dort liegt die wirkliche Bedeutung des „besondere Verhältnisses“. Einer klaren Sicht des Nahostkonflikts und einem klaren Handeln in der Region hat es immer schon im Wege gestanden, und wurde deshalb als außenpolitischer Faktor vor nunmehr 35 Jahren praktisch außer Kraft gesetzt – mit insgesamt positiven Folgen für Deutschland und Israel.

3

Lassen Sie mich, bevor ich einzelne Bemerkungen zum Manifest mache, noch allgemein sagen: Ich stimme in der grundsätzlichen Stoßrichtung und den politischen Forderungen des Manifests überein – die deutsche und die europäischen Regierungen sind zu zurückhaltend und müssen den Konfliktparteien viel stärker helfen, um aus der Sackgasse, in der sie seit dem Sommer 2000 stecken, wieder herauszufinden. Israelische Sicherheitsbedürfnisse und palästinensische Freiheitsbedürfnisse dürfen nicht als Nullsummenspiel behandelt werden. Grundsätzlich und langfristig ist das eine ohne das andere nicht möglich. In der Außenpolitik, aber auch im öffentlichen Bild vom Nahen Osten, spielen Menschenrechte eine viel zu geringe Rolle, und es wird zuviel auf „nationale“ Rechte oder Interessen geachtet. Es herrscht ein doppelter Standard in der Wahrnehmung von Menschenrechten in der gesamten Region.

4

Das Manifest unterscheidet nicht ausreichend zwischen Außenpolitik und Innenpolitik: Die „besonderen Beziehungen“, die überdacht werden sollen, spielen in der deutschen Politik gegenüber Israel aus den verschiedensten Gründen nur eine kleine Rolle, und manifestieren sich dann auch nicht in Israel selbst. Das „besondere Verhältnis“ ist vor allem ein innenpolitisches Phänomen – und war u. a. seit den 50er Jahren immer wieder eine diskursive Waffe in der Auseinandersetzung innerhalb Deutschlands zwischen den ideologischen Lagern. Das „besondere Verhältnis“ ist Identitätspolitik, und ist meiner Ansicht nach auch nicht reformierbar.

Außenpolitisch ist Deutschland das größte Geberland Palästinas; es betreibt eine bewußte Politik, als Geburtshelfer eines palästinensischen. Staates zu fungieren, um Israels wichtigsten zukünftigen Partner und Nachbarn zu stabilisieren und um für das einseitige Engagement der USA zu kompensieren. Deutschland war Vorreiter innerhalb der EU bei der Annerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser. Die Brandt’sche Politik der „Ausgewogenheit“ in den Beziehungen zu den arabischen Staaten und der Normalisierung im Verhältnis zu Israel (ein „normales Verhältnis mit besonderem Charakter“) wurde schon1971 initiiert. Genscher sagte 1975: „Die legitimen Rechte der Palestinenser sowie das Recht Israels auf Existenz in sicheren und anerkannten Grenzen haben gleichen Rang“. Diese Grundhaltung wurde erst 1980 von der EWG übernommen.

Erst in der Krisenperiode 1996-99 folgte die BRD mehrmals den USA und nicht den EU-Ländern – in der Nichtverurteilung der Siedlungspolitik 1997 und mit den U-Boot-Lieferungen 1999/2000. Seit dem Scheitern der Oslo-Verhandlungen und dem Ausbruch der 2. Intifada hat sich die BRD ganz hinter die Deckung der gem. europäischen Politik und der Linie zurückgezogen, die von den USA gesetzt wird.

Außenpolitisch drückt sich die besondere Verantwortung Deutschland gegenüber Israel also im wesentlichen in diesem Engagement für einen zukünftigen palästinensischen Staat aus. Ohne die „besonderen Beziehungen“ würde die BRD sich wahrscheinlich nicht so stark für die palästinensische Sache engagieren.

5

Trotzdem könnte ich leicht eine Wunschliste dessen aufmachen, was eine deutsche Regierung besser machen sollte. Z.B.: Ich wünschte, eine deutsche Kanzlerin, deutsche Minister, würde bei Treffen mit israelischen Amtskollegen immer darauf hinweisen, daß die Besiedlung der besetzten Gebiete inklusive der arabischen Stadthälfte von Jerusalem nicht nur illegal ist, nicht nur Gewalt anheizt sondern auch selbst Gewalt darstellt, nicht nur die Rechte der Palästinenser verletzt, sonder auch naiv, ideologisch verblendet und völlig unrealistisch ist. Deutsche Politiker sollten israelische Politiker regelmäßig daran erinnern, daß der Schlüssel zur Zukunft Israels nicht in „besonderen Beziehungen“ liegt, nicht in den Händen der Amerikaner oder Europäer, sondern in den Händen der Palästinenser und der arabischen Nachbarn. Da helfen keine Atomwaffen, keine F-15.

6

Die Autoren des Manifests haben sich – was die nötigen Differenzierungen des komplexen Themas Deutschland-Israel anlangt – in meinen Augen nicht genügend Mühe gemacht – in anderer Beziehung zuviel, dort, wo sie um eine Legitimierung der Kritik an Israel ringen. Aber eines gibt das Manifest richtig wieder – das gemeinsame Wunschbild. Die Menschen in Deutschland denken gerne von sich – oder geben sich gerne – als pro-jüdisch, pro-israelisch – selbst in ihrer Kritik an Israel.  Alles, was in diesem Land über Israel öffentlich gesagt wird, gutes oder schlechtes, muß irgendwie mit einer konsistent pro-jüdischen oder pro-israelischen Haltung begründet werden. Das hat, wie gesagt, mit der besonderen Rolle von Juden und Israel im Selbstbild der Deutschen zu tun.

Es kommt vor, daß sich hinter öffentlichen Meinungsäußerungen zu Israel antisemitische Absichten, Stoßrichtungen oder Vereinahmungsversuche verstecken – ein klassisches Beispiel ist der Fall Möllemann – aber sie sind im demokratischen Meinungsspektrum selten, sehr selten – viel, viel seltener als die Vorwürfe, die dazu erhoben werden. Die meisten, die sich zu Israel äußern, bemühen sich aufrichtig, ihre Ideen über deutsche Verantwortung oder Schuld mit ihren Meinungen zur Politik Israels zu verbinden. Das ist nicht einfach, ja in meinen Augen so gut wie nicht möglich. Im Gesamtbild der öffentlichen Meinung in Deutschland schlägt sich das „besondere Verhältnis“ als eine Voreingenommenheit zugunsten Israels wieder. Deutschland gehört, zusammen mit den USA, zu den zwei Länder des Westens, in denen die Medien ausgesprochen israelfreundlich sind. Tendenz abnehmend, sage ich in Klammern. Das ist ein Resultat der Selbsterziehung. Es ist im wesentlichen nicht das Resultat von Manipulationen Israels oder des Drucks jüdischer Organisationen.

7

Das Manifest ist ganz auf die Rolle des Holocaust gerichtet. Nationalsozialismus und Holocaust aber sind nicht Motor des Nahost-Konflikts; sie haben ihn in den Jahren 1935-39 und 1945-1948 verschärft und beschleunigt. Die Staatsgründung wäre wahrscheinlich nicht ohne den Holocaust zum damaligen Zeitpunkt und unter den damaligen Umständen zustande gekommen. Aber: Die Verantwortung für den Krieg von 1948 und seine Folgen hat nicht Deutschland zu tragen, sondern die zionistische Führung, die palästinensische Führung, die arabischen Nachbarländer, Großbritannien, die USA, Frankreich usw. Sätze wie : „Es ist der Holocaust, der das Leid über die Palästinenser gebracht hat“, entläßt die wirklich Verantwortlichen aus ihrer Verantwortung.

8

Das Manifest geht ausführlich auf eine wichtige innenpolitische Seite des „besonderen Verhältnisses“ ein – die gesellschaftliche Auseinandersetzung und der Diskurs in den Medien. Völlig zurecht wird hier das Wort „Lagermentalität“ benutzt und auf die beängstigenden Ausmaße gewiesen, die das Lagerdenken angenommen hat. Ich weiß nicht, ob die Autoren des Manifests der 25 auf eine gesellschaftliche Diskussion gehofft oder ob sie mit einem Echo in den Medien gerechnet haben. Wenn ja, sie wurden schwer enttäuscht. Alles, was von der dünnen Linie der „Besonderen Beziehungen“, seit den späten 70er Jahren in Deutschland konservativ besetzt, abschweift, wird schnell marginalisiert oder verhöhnt. Die Abwehr der Israelkritik ist so stark, ja die Notwendigkeit dieser Abwehr überhaupt erst gegeben, weil sie – wegen der Bedeutung des Verhältnisses zu Israel in den kollektiven Selbstbildern – an den Grundfesten der deutschen Nachkriegsidentität rüttelt. Auch der Diskurs über israelische Politik in Deutschland ist also im wesentlichen selbstbezogen.

Aber das Bild ist keineswegs einheitlich und viel komplexer, als es die Autoren zeichnen. Ich gebe den Kritikern des Manifests in diesem Punkt recht, die auf die vielen kritischen Berichte in den Medien deuten.

Meinungsvielfalt herrscht z. B. in den Minderheitsmedien innerhalb des Mainstream. Verlage wie Beck, DVA, Siedler, Wallstein, Hugendubel veröffentlichen Bücher, die z. B. grundsätzliche Kritik an den Grundlagen des jüdischen Staates äußern; bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist es der Hörfunk, aber nicht das Fernsehen, in denen viel grundsätzliche Kritik zu hören ist. Bei den großen Tageszeitungen herrschen vergleichbare Verhältnisse: Es gibt eine uneingeschränkte, kritische Berichterstattung, aber selten Diskussionen zu den Grundfragen. Die Redakteure scheinen täglich zu lavieren, denn die Haltung der meisten Zeitungen erscheint mir überhaupt nicht konsistent. Das ist weniger Selbstzensur  als Verwirrtheit: eine Mischung aus politischer Korrektheit, Ängsten und Identifizierungswünschen. Die Einschüchterung, die dabei von bestimmten jüdischen und nicht-jüdischen Publizisten und Gruppen ausgeht, ist noch nicht einmal ausschlaggebend. Sie funktioniert nur, weil ohnehin eine große Bereitschaft herrscht, sich zu konformieren und den Nahostkonflikt aus der verwirrenden und sehr unpassenden Perspektive des Holocaust zu beurteilen.

9

Die „Besonderen Beziehungen“ waren in der Bundesrepublik bis etwa 1969 die Domaine der Linken – angeführt von SPD und Gewerkschaften. Damals hieß es „Solidarität mit Israel“. Sie basierte zum Teil auf prozionistischen Traditionen der gemäßigten Linken in Europa, auf der Identifizierung Israels mit der Arbeitspartei, dem Kibbuz und der Idee, daß ein fortschrittlich-westlicher Staat wie Israel nur Gutes für die arabischen Gesellschaften bringen kann. Solidarität mit Israel war die logische Verlängerung der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Hitler und den Nationalsozialismus. Die Solidarität mit Israel entsprach den Identifikationsbedürfnissen der demokratischen Linken in der Nachkriegszeit – eine oppositionelle Identität, ein Protest gegen die Adenauer-Ära, in der die Entschädigungsgesetze nur mit Hilfe der SPD-Stimmen durchgebracht werden konnten.

Das begann sich zu ändern mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen und der allmählichen Verlagerung des Hauptschauplatzes der „Besonderen Beziehungen“ vom gesellschaftlichen zum Regierungsbereich. Mit dem „Ma’apach“, der politischen Umwälzung in Israel 1977, wurde der linken projektiven Identifizierung mit Israel schließlich der Partner genommen. In den Libanonkrisen von 1978 (Operation „Litani“) und 1982 („Sheleg“) trat dann der Bruch zwischen der gemäßigten deutschen Linken und Israel peinlich und für alle Seiten schmerzhaft offen zutage.

Es ist etwa in dieser Zeit, daß die gesellschaftliche Seite der „Besonderen Beziehungen“ zu Israel und – besonders der Diskurs in den Medien – in die Hände des konservativen Lagers geriet. Israel wurde zum Partner und zur Projektionsfläche der Konservativen.

Das hat innenpolitische und außenpolitische Gründe. Mit dem Fall des Schah-Regimes und der iranischen Revolution 1979 blieb nur noch Israel als pro-westlicher, anti-arabischer Staat des Nahen Ostens übrig. Israel hat sich, aus eigener Sicht, schon damals mit dem Westen in der Abwehr des Islam als politische Kraft vereint. Darin sah und sieht Israel, zurecht, einen strategischen Vorteil. Nach dem 11. September 2001 ist auch der Westen dieser Allianz nachträglich beigetreten. Die große Koalition gegen arabischen und islamischen Radikalismus war allerdings nicht von langer Dauer. Heute ist sie nur noch eine kleine, konservative Allianz der Willigen, deren Slogan lauten könnte: „In Israel verteidigt sich die westliche Zivilisation gegen die gemeinsamen Feinde“.

Innenpolitisch wurden die „besonderen Beziehungen“ im Problem der Minderheiten und des Einwanderungsdrucks neu besetzt. Auch hier nutzen sich politische Bewegungen in Israel und konservative Strömungen im Westen gegenseitig. Ethnische Reinheit ist das Normal- oder Wunschbild vieler europäischer Nationalismen, unter denen die israelische Nationsbildung als vorbildlich gilt, auch der Umgang mit Minderheiten und die Unbedingtheit des Wunsches, alle Stammesgenossen in einem Land zu vereinen. Hannes Stein schrieb z.B. im Februar 2005 in der WELT: „Israel, der Staat der Juden, ist ein klassischer Nationalstaat. Und er funktioniert, wie klassische Nationalstaaten das zu tun pflegen: nach ethnischen Prinzipien. Er unterscheidet also zwischen ´uns` und ´denen da`, zwischen Juden und Nichtjuden.“

Israel als Projektions- oder Wunschbild der Konservativen vereint auch Deutsche und US-Amerikaner. Chuck Morse, ein Republikanischer Congress-Abgeordneter, schrieb im Mai 2006 unter der Überschrift „America and Israel – a Christinan view„: „The United States has firmly stood for nationalism in the best sense. Likewise, the Zionist movement is a nationalist movement in the best sense. The State of Israel represents the fulfillment of the sovereign rights of the Jewish people to determine their own destiny in that tiny strip of desert promised to them by the King of the Universe. The United States and Israel have many parallels in their history and philosophy. By moving forward, together, into the future, the United States and Israel could truly represent a light unto the nations and the peoples of the world.“

10

Ein Ausblick: Es ist die israelische Sicherheitsdoktrin, die heute die besonderen deutsch-israelischen Beziehungen am meisten gefährdet. Wegen der fehlenden Akzeptanz und politischen Integration Israels in der Region und der fehlenden Bereitschaft, die wirklichen Kosten des Friedens zu tragen, hat sich Jerusalem ganz auf eine verhängnisvolle Strategie verlegt, die kurzfristig wahrscheinlich durch nichts zu ersetzen ist: die Abschreckung staatlicher wie nicht-staatlicher Gegner durch die Demonstration überwältigender Macht, durch territoriale Kontrolle über die eigenen Grenzen hinaus, wo auch immer sie gerade liegen, und durch vollständige Operationsfreiheit auch jenseits der Sperranlagen im Westjordanland und des Zaunes zum Gazastreifen. Wir sehen die Folgen seit 2005 in der Westbank, in Gaza und im Libanon. Israels Freunde in der BRD davon zu überzeugen, daß Jerusalem keine andere Wahl hat, wird immer schwieriger werden.

Bemerkungen zum Manifest „Freundschaft und Kritik“ der 25 deutschen Wissenschaftler, gehalten bei der Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Bayernforum, München, am  31. Januar 2007

* copyright 2007 Daniel Cil Brecher

Eine Säuberung des Gewissens

In Vorträge on Juni 21, 2010 at 9:24 am

Die „Ethnische Säuberung“ der palästinensischen Bevölkerung ist der Kern des Nahostkonflikts, der Tragödie des Nahen Ostens. Im Folgenden einige Gedanken über die Säuberung des Gewissens, über jene Rechtfertigungen und Mythen, die jede Ethnische Säuberung begleiten und ermöglichen.

Der Verdrängung der arabischen Bevölkerung musste eine andere Verdrängung vorausgehen – die Leugnung von palästinensischer Kultur und Geschichte, von ihrer Menschlichkeit. Bevor ich damit beginne, über die Vergangenheit zu sprechen, noch eine Bemerkung zur Gegenwart. Der ethnische Verdrängungsprozess in den besetzten Gebieten, und in gewisser Weise auch in Israel selbst, geht weiter. Ich meine eine oft übersehene Dimension der Besatzungspolitik – die Verdrängung, oder der Versuch der Verdrängung, durch Zermürbung. Lassen sie mich dazu kurz etwas sagen.

Das politische Konzept der Verdrängung durch Zermürbung besteht seit den späten 1970er Jahren, als zum ersten mal eine Koalition von Parteien in Israel an die Macht kam, die in der Besiedlung der 1967 besetzten Gebieten nicht nur einen militärischen oder politischen Vorteil sah. Bis dahin hatte die Kontrolle über Westbank und Gazastreifen für die Regierenden in Jerusalem eine taktisch-strategische Bedeutung – taktisch, um die arabischen Nachbarländer zum Frieden zu bewegen, und strategisch, um die Grenzen des Waffestilstandes von 1949 zu verbessern und Israel besser verteidigen zu können. Mit dem ersten Kabinett unter Menachem Begin kam eine Regierung an die Macht, die ganz Palästina für den jüdischen Staat gewinnen wollte, ungeachtet der militärischen Vor- und Nachteile, als zusätzliche Land- und Wirtschaftsreserve für zukünftige Generationen von Juden, die – so war die Hoffnung – in großen Zahlen in Israel einwandern würden. Es war diese erste Regierung Begin, die mit der Politik der politischen und demographischen Schwächung der unter Besatzung lebenden Bevölkerung begann – mit zwei Zielen: möglichst viele Menschen zur Auswanderung zu drängen und der verbleibenden arabischen Bevölkerung eine untergeordnete, für die jüdische Bevölkerungsmehrheit günstige Position in einem zukünftigen Groß-Israel zuzuordnen.

In vielerlei Hinsicht sind diese politischen Ziele immer noch gültig. Die politische Schwächung der palästinensischen Organisationen, und die Unterbindung von wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Entfaltungsmöglichkeiten, sind auch heute wichtige Instrumente der Besatzungspolitik.

Wenn man heute eine Liste mit den Details der aktuellen Zermürbungstaktik machen müsste, stände ganz oben die Einschränkung der Freizügigkeit, d.h. der Bewegungsfreiheit zwischen Dörfern und Städten, und die Schwierigkeiten bei Ausreise und Einreise über Jordanien und Ägypten. Diese Einschränkungen führen zu Schwierigkeiten in der Berufsausübung, im Handel, in der Ausbildung und in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Die jährlichen Studien der Weltbank zeigen, dass seit 2000 etwa 60% der Bevölkerung ständig unter schweren Beschränkungen in den genannten Bereichen leidet. Als nächstes auf der Liste käme die Verdrängung durch Entzug des Aufenthalts- oder Rückkehrrechts bei Umzügen und Auslandsaufenthalten, und die Beschränkungen in der Familiengründung. Schließlich die Folgen der begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten für den Einzelnen und die Gesellschaft. Die Bevölkerung in den 1967 besetzen Gebieten lebt seit nunmehr 40 Jahren mit Einschränkungen ihrer Menschenrechte, die ohne gleichen sind. Auch in Israel selbst sind die arabischen Bürger marginalisiert, an den Rand gedrängt, als Bewohner, die nicht zum Staatsvolk gehören. Auch hier werden Menschenrechte chronisch verletzt.

2

Mein Thema heutige Abend ist eine andere Dimension der Verdrängung. Die Verdrängung von Schuld und Verantwortung, also das System der Leugnungen und Umdeutungen, das der jüdischen Gesellschaft Israels die Missachtung und Abdrängung der arabischen Bevölkerung als moralisch gerechtfertig, als passend und gerecht, erscheinen lässt und damit ermöglicht, — und die Verdrängungsleistung des Westens, die uns in Europa und Nordamerika eine Unterstützung Israels in ihrem Umgang mit der arabischen Bevölkerung weiter als passend und gerecht erscheinen lässt, und damit ermöglicht.

Die große Mehrheit der Israelis gibt den Arabern selbst die Schuld für ihre jämmerliche Lage, für den Verlust ihrer Heimat, für Unterdrückung und Fortsetzung der Besatzung. Israel übt dieser Sicht zufolge allein sein Recht auf Selbstverteidigung aus, zögernd und widerwillig. Dies entspricht der Geschichtsversion des Nahostkonflikts, mit der die israelisch-jüdische Gesellschaft schon seit den 30er Jahren ihr Gewissen beruhigt: Die Araber Palästinas haben sich durch ihren unentwegten Widerstand gegen die Ansiedlung von Juden, die Schaffung des jüdischen Staates und die Ausbreitung nach 1967 selbst ins Unrecht gesetzt. Auch die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem jüdischen Staatsgebiet 1947-49, die das bis heute ungelöste Flüchtlingsproblem schuf, ist dieser Version nach allein Schuld der arabischen Bevölkerung und der arabischen Führung. So kommt es zum seltsamen Phänomen, dass viele Israelis sogar Mitlied mit den offenbar glücklosen, politisch unreifen Arabern Palästinas empfinden, die von ihrer eigenen, korrupten und despotischen Führung zum Widerstand aufgehetzt und damit ins Verderben gestürzt werden. Eine kausale Verbindung zwischen der Zerstörung der arabischen Gesellschaft Palästinas und der Kolonisierung des Landes durch Juden aus Europa wird nicht hergestellt.

Eine kleinere Gruppe, ewa 20% der israelisch-jüdischen Bevölkerung, ist nicht Anhänger dieser Unschuldsthese. Ich meine damit die säkular und religiös motivierten Anhänger der Idee von Groß-Israel.  Anfang dieses Jahres hatte ich Gelegenheit, mit einigen Siedlern in der Westbank Geschichtsinterviews zu führen. Hier ein Zitat von Dov Weinstock, einem der ersten Bewohner des kurz nach 1967 entstandenen Siedlungsblocks Gush Ezion, über die Rechte von Juden und Nichtjuden. Ich zitiere. „Diese Erde kann von niemand anderem erworben werden. Sie steht für immer eingeschrieben auf den Namen der Juden – in der Bibel. Das ist ein Buch, das nicht von dir geschrieben wurde oder von mir, nicht von meiner Religion oder der eines anderen.  Es stimmt, dass wir eine Pause gemacht und uns eine Zeit lang entfernt haben. Als wir zurückkehrten, fanden wir dieses Land besetzt durch andere, durch die Palästinenser. Denen sage ich ganz einfach: Freunde – ihr dürft hier wohnen. Ihr wollt hier wohnen bleiben? Bitte sehr. Das dürft ihr. Aber wenn ihr kommt und mir sagt: Du musst verschwinden, du musst diese Erde verlassen und uns unseren Staat geben – dann sage ich: Ihr habt keinerlei Eigentumsrechte. Ihr seid die Untermieter.“

Diese Gruppen im rechten Teil des israelischen Meinungsspektrums halten die Verdrängung und Vertreibung der arabischen Bevölkerung für eine fast unumgängliche Folge von göttlichen oder geschichtlichen Aufträgen. Diese Gruppen suchen nicht nach Entschuldigungen. Sie halten auch den arabischen Widerstand für normal und fast unumgänglich.

Die Unschuldsthese, die unter der jüdischen Bevölkerungsmehrheit vorherrscht, besagt auch, dass die Juden von Anfang an mit der arabischen Bevölkerung leben wollten, unter bestimmten Bedingungen, nämlich der gerechten Teilung des Landes und der Wahrung einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit im jüdischen Teil. Erst die unversöhnliche Haltung der Araber, ihr Hass – oder ihr Antisemitismus – habe zum Unglück geführt. Diese These findet Ausdruck in der offiziellen Version der israelischen Geschichte, wie sie in den Schulen unterrichtet und in den Medien täglich vorgetragen wird.

Was die Anhänger der Unschuldsthese und die Praktizierer der Groß-Israel-Idee miteinander verbindet, ist der Mythos der „historischen“ Ansprüche auf das Land. Die Idee des Primats der jüdischen Rechte auf Palästina, aus dem die Minderwertigkeit arabischer Rechte folgt, basiert auf dem romantisch-nationalistischen Mythos der „Rückkehr“ der Exilierten und der „Wiederherstellung“ eines jüdischen Staates. Die Vorstellung von der Rückkehr und Wiederherstellung hat im Westen tiefe Wurzeln, z.B. in den protestantisch-chilliastischen Vorstellungen des 17. Jh. und 18. Jh., in denen die Rückeroberung Palästinas durch die Juden gefordert wird, als erster Schritt zur Errichtung des Gottesreiches auf Erden. Palästina wurde Jahrhunderte lang, seitdem das Osmanische Reich Palästina Anfang des 16. Jahrhunderts einverleibte, von Christen in Europa zurückgefordert, als Land der Bibel, indem die europäisch-christliche Geschichte begann und in dem sie sich noch zu erfüllen hat.

Zu dieser Mischung aus religiösen Messiashoffnungen und modernen nationalistischen Vorstellungen tritt noch die Idee der historischen Wiedergutmachung. Dies ist ein viel zielbewussterer Mythos, und er wurde von der zionistischen bzw. der israelischen  Führung auch mit größtem Effekt eingesetzt. Dieser Mythos geht von einer Schuld der christlichen Länder aus, die in der historischen Diskriminierung und Verfolgung von Juden begründet liegt und die durch eine Bevorzugung der jüdischen gegenüber den arabischen Ansprüchen beglichen werden soll. Die Entscheidung der Kolonialmacht Großbritannien 1917, die Bestrebungen der damals noch kleinen und unbedeutenden zionistischen Vereinigung mit dem Versprechen einer Jüdischen Heimstätte in Palästina zu belohnen, wird von vielen Juden bis heute in diesem mythischen Zusammenhang gesehen. Auch die Araber Palästinas, die von Anfang an gegen das von Großbritannien erworbene pro-zionistische Völkerbundsmandat von 1920 stritten, sahen in dieser kolonialistischen Anmaßung die Sühneleistung der christlichen Völker gegenüber den Juden, dessen Kosten sie nun zu tragen haben.

Die Idee der Rechtmäßigkeit jüdischer Ansprüche auf Palästina und die Auffassung von der durch unbegründete arabische Aggression aufgezwungenen Selbstverteidigung ist eine allgemein westliche Idee, und nicht nur eine jüdisch-israelische. Sie wurden durch viele Jahrzehnte hindurch von der Politik, und der öffentlichen Meinung, in der westlichen Welt mitgetragen. Die Regierungen Großbritanniens in den Jahren 1917-1948, Frankreichs von 1948 bis 1965 und seither die der USA, haben eine Politik in Palästina und dem Nahen Osten betrieben, ohne die der jüdische Staat nicht entstanden und die heutige Politik der Expansion nicht möglich gewesen wäre. Auch die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen westlichen Länder ist für die Festigung des nach 1948 eingetreten Status Quo mit verantwortlich. Sie hat den Prozess der Verdrängung und Umdeutung des Geschehens noch weiter gefördert und damit die Chancen einer Verständigung mit den Arabern ständig verkleinert. Die Folgen sind nicht nur in den jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel zu spüren, sondern auch im schlechten Verhältnis zwischen den arabischen Ländern und den Staaten Europas und Nordamerikas.

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Zwischen November 1947 und Oktober 1949 wurden fast 800.000 Menschen, mehr als die Hälfte der arabischen Bewohner Palästinas, aus dem jüdischen Staatsgebiet vertrieben. Sie ließen ganze Städte und Stadtviertel leer zurück, Häuser, Geschäfte, Betriebe, und Hunderte von Dörfern. Noch im Laufe des Jahres 1948 wurden diese Dörfer zerstört, das Land und die auf Feldern und Hainen heranreifenden landwirtschaftlichen Erzeugnisse von den jüdischen Nachbarn übernommen. Der Häuserbestand ganzer Ortschaften und Stadtviertel wurde an jüdische Einwanderer gegeben. In der jüdischen Gesellschaft Israels sind diese Ereignisse von mächtigen, allgegenwärtigen Mythen umrankt. Sie gehören zusammen mit der israelischen Deutungsweise der Ursprünge und Folgen des Krieges von 1948-49 zu jenem umfassenden Entstehungsmythos des Staates, der nicht nur in Israel und in der jüdischen Diaspora verbreitet ist, sondern auch in einem großen Teil der westlichen Welt.

Die Frage nach Schuld oder Ursache für die Tragödie des palästinensischen Volkes wurde in Israel lange Zeit eindeutig beantwortet: Die Katastrophe wurde von der palästinensisch-arabischen Führung und den Regierungen der arabischen Nachbarländer selbst verursacht. Sie war eine Konsequenz des von arabischer Seite provozierten Bürgerkriegs von November 1947 bis Mai 1948 und des sich anschließenden ersten Nahostkriegs, der mit einem Angriff der arabischen Nachbarstaaten auf Israel begann und mit einem Eroberungsfeldzugs Israels in der Negev-Wüste 1949 endete. Die Flucht der Zivilbevölkerung kam dieser Version nach durch das spontane Ausweichen der arabischen Bevölkerung vor Kriegshandlungen zustande und durch die Aufforderung der arabischen Führung an die Zivilbevölkerung, sich zeitweise hinter die arabischen Linien in Sicherheit zu bringen. Weil die arabische Seite mit ihrer Aggression die von der UNO beschlossene Teilung Palästinas zu verhindern suchte, müsse sie für die Kriegshandlungen, die dadurch ausgelöste Flüchtlingswelle und das seitdem bestehende Flüchtlingsproblem die alleinige Verantwortung tragen. Die im Völkerrecht ungeachtet der Ursachen bestehende Verpflichtung zur Rücknahme der Flüchtlinge nach Ende der Kriegshandlungen lehnte und lehnt Israel mit dem Argument ab, dass die Ausübung dieses Rechts den „jüdischen Charakter“ des Landes gefährden würde. Mit der Wahrung des „jüdischem Charakters“ sind nicht die Garantien für die Freiheit der Religionsausübung oder für die weitere Entfaltung der säkularen, jüdisch-israelischen Kultur gemeint, sondern das Festhalten am deutlichen demographischen Übergewicht der Juden gegenüber dem arabischen Bevölkerungsteil.

Mit der Verweigerung der Rücknahme von Flüchtlingen unter Berufung auf die ethnische Zusammensetzung der Gesellschaft können wir auch im rechtlichen Sinne von einer Ethnischen Säuberung sprechen, ungeachtet der Frage, ob die palästinensische Bevölkerung geflohen ist oder Ziel einer beabsichtigen Vertreibung war. Dass den Flüchtlingen auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit eine Rückkehr in ihre Heimat verweigert wurde, widerspricht dem Verbot der ethnischen Vertreibung im Artikel 49 des IV. Genfer Abkommens vom 12. August 1949.

Israelische Regierungen haben sich bisher erfolgreich auf das Recht des Erhaltes einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit berufen können, trotz der einschneidenden Folgen für die Flüchtlinge und die Rechte der nichtjüdischen Bürger Israels, weil dieses Prinzip durch das Völkerbundsmandat von 1922, den UN-Teilungsbeschluss von 1947 und andere Entscheidungen der Staatengemeinschaft legitimiert ist.

Die These von der Unschuld an der palästinensischen Katastrophe ist in der jüdischen Gesellschaft Israels von fundamentaler Bedeutung. Von ihr hängt das System der Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen ab, das die israelische Gesellschaft sich geschaffen hat und in Form der „Hasbara“, der auf das Ausland und die jüdische Diaspora gerichteten Propaganda, der Welt präsentiert. Mit ihr steht und fällt das Gefühl der moralischen Überlegenheit und Integrität, auf denen die Opferbereitschaft der Bevölkerung und der Kampfeswillen der Armee basiert. In der Innenpolitik Israels ist die These so stark verfestigt, dass sie der Außenpolitik kaum Spielraum lässt. Jedes Eingehen auf arabische Forderungen, die sich aus der Katastrophe von 1948 ergeben, die Rückkehr von Flüchtlingen, die Restitution von hinterlassenem Eigentum oder die Leistung von Entschädigung, wird von der israelischen Öffentlichkeit abgelehnt. Sie wird nicht als moralische oder rechtliche Verpflichtung verstanden,  sondern, wenn überhaupt,  als Entgegenkommen und mögliche Belohnung für Konzessionen, die von der anderen Seite zu leisten sind. Die Kluft zwischen den in Israel und unter Palästinensern gängigen Versionen der Konfliktgeschichte ist so groß, dass sie die Verhandlungen mit den Nachbarländern und den Palästinensern schwer belastet. Jeder Versuch, an den Grundannahmen der These zu rütteln, wird in der israelischen Öffentlichkeit sofort desavouiert und bekämpft.

Eine kleine Zahl von israelischen Historikern hat eine andere Sicht der Ereignisse des Krieges von 1948 entwickelt – dass die „Flucht“ der Bevölkerung keine unbeabsichtigte Folge des Kriegzustandes war, zumindest nicht ab März 1948. Ab diesem Zeitpunkt habe die jüdische Führung die Angst der arabischen Bevölkerung geschürt und genutzt, um sie zur Flucht zu bewegen, oder habe sie durch gezielte militärische Maßnahmen vertrieben. Diese Historiker haben nach dem Öffnen der Regierungsarchive der Zeitspanne 1948-1949 zum ersten Mal Gelegenheit gehabt, die Rolle von Regierung und Armee bei der „Flucht“ der Palästinenser an Hand der Quellen und mittels herkömmlicher Standards der Geschichtsforschung zu untersuchen. Ihre Forschungsresultate wurden trotzdem von älteren Kollegen als ideologisch geprägt, d.h. als anti-zionistisch, abgelehnt – von älteren Kollegen, die sich als Teil der zionistischen Revolution sehen, deren eigene Arbeiten sich allein auf die Erinnerungen der damaligen Führung stützen und deren Geschichtsschreibung bis in die 90er Jahre hinein hauptsächlich als Erbauungsliteratur für die israelische Jugend galt. Die Arbeiten der Neuen Historiker, die das Geschichtsbild versachlichen, werden in Israel kaum ernst genommen.

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Der physischen Verdrängung der arabischen Bevölkerung ging ein langer Prozess der Verdrängung ihrer Kultur und Menschlichkeit voraus, ein Prozess, der spätestens im 19. Jahrhundert einsetzt. Lassen sie mich einige Episoden dieses Prozesses beschreiben.

In Israel waren einige Jahre lang Bildpostkarten populär, in denen die nicht-jüdische Vergangenheit des Landes dargestellt wird. Auf einer dieser Karten, der Reproduktion eines alten Schwarz-Weiß-Photos der Bucht von Haifa, waren das Meer, ein kurzer Streifen Sandstrand und einige Kamele zu sehen. Die Postkarte war betitelt: „Bucht von Haifa um 1900“. Es muss sich um den Teil der Bucht gehandelt haben, an der einige Jahrzehnte später der Hafen, das Kraftwerk und die Raffinerie entstanden sind.

Alte Landschafts- und Stadtansichten laden den modernen Betrachter immer ein, Vergleiche zwischen „Damals“ und „Heute“ anzustellen. Damit dürfte auch die Popularität der Kamelkarte, und ihrer Artgenossen, zu erklären sein. Mit dieser Postkarte wurden die wundersamen Veränderungen in der Bucht angesprochen und der Charakter der Veränderung – der Fortschritt von Unterentwicklung zur Moderne. Die Karte impliziert, dass die Gegend bis zur Ankunft der Juden in einem Zustand menschenleerer Öde verharrte und erst danach die Periode der Industrialisierung und Modernisierung des Landes anbrach. Sie verweist damit auf ein Thema, das in dem noch einprägsameren Zusammenhang der „Fruchtbarmachung der Wüste“ eine große Rolle in der inneren und äußeren Propaganda des Staates spielt.

Die Idee des Aufblühens Palästinas durch das Kommen der Juden hat im Zionismus eine lange Geschichte. Sie bestand schon vor dem Zustrom von Menschen, Technologie und Kapital aus Europa, der die von Türken und Briten begonnene Modernisierung des Landes beschleunigte. Hinter dieser Idee stand von Anfang an die Vorstellung von der zivilisatorischen Überlegenheit der jüdischen Siedler und der Unterlegenheit der „Eingeborenen“, die allem Anschein nach nicht in der Lage gewesen waren, das Land anständig zu entwickeln. Sie schuf eine der Rechtfertigungen für die Übernahme des Landes. Das Thema entspricht dem Mythos vom Volk ohne Land, das dem Land ohne Volk zur neuen Blüte verhilft.

In „Altneuland“, dem Palästina-Roman von Theodor Herzl, dem Gründer der zionistischen Bewegung, ist dieser Mythos gut sichtbar. Der Roman ist um 1900 entstanden und stellt die Stadt Haifa als internationale Metropole eines jüdischen Palästinas der Zukunft dar. Im Roman konnte Tel Aviv, die heutige Metropole Israels, nicht erscheinen, weil es die Stadt um 1900 noch nicht gab. Im Roman beschreibt der Jerusalemer Augenarzt Eichenstamm den Beginn der zionistischen Besiedlung gegenüber einem ausländischen Besucher. Er sagt unter anderem: „Unser alter Boden trägt wieder Früchte“. Herzl basierte den Roman auf seinen Erlebnissen während einer Palästinareise 1898. Der Zweck des Aufenthalts war eine Audienz beim deutschen Kaiser Wilhelm II, der sich auf einer Reise durch die türkische Provinz befand. Die Audienz kam im November 1898 zustande, als der Kaiser in einer Zeltstadt vor den Toren Jerusalems verweilte. Herzl hielt eine kurze Rede, in der er über die angestrebte Kolonisierung des „Landes unserer Väter“ referierte. „Es schreit nach Menschen, die es bebauen sollen“ sagte er dem deutschen Kaiser. Viele Juden litten Not, fügte er hinzu. „Diese Menschen, ich zitiere, schreien nach einem Land, das sie bebauen wollen.“ So wurde das zionistische Unternehmen als Nothilfe für Juden und für Palästina hingestellt.

Der Kaiser, der den Plan nicht ausdrücklich unterstützen wollte, antwortete mit einer tiefen Einsicht: „Das Land braucht vor allem Wasser und Schatten“.

Im Roman kehrt der erwähnte Besucher nach zwanzig Jahren in den Nahen Osten zurück und findet im inzwischen entstandenen Judenstaat eines der modernsten Länder der Welt. Alles ist elektrifiziert, in der Landwirtschaft gibt es nur noch Großbetriebe, „offene Fabriken“, in denen alle Arbeit von den Juden selbst ausgeführt wird, nicht mehr von den Arabern. Haifa ist zu einem der wichtigsten Häfen der Welt avanciert, eine weltstädtische Metropole, deren Beschreibung an Hamburg erinnert. Der Augenarzt Eichenstamm ist inzwischen zum Präsidenten gewählt worden. Er verkündet die Maxime der Toleranz, an der sich „Zion“, der Judenstaat, orientiert: „Der Fremde soll sich bei uns wohl fühlen“. Mit den Fremden waren die im Land ansässigen Araber gemeint.

Während Theodor Herzl seine konservativen Ideen von der Kolonialisierung des Landes formulierte, entwickelten marxistische Denker innerhalb der zionistischen Bewegung eine Argumentation, die am Ende die Verdrängung der Araber ebenso rechtfertigte wie die Idee der zivilisatorischen Überlegenheit. Nur wer das Land selbst kultiviere, lautete die Analyse der marxistischen „Arbeiter Zions“, könne als rechtmäßiger Besitzer gelten. Dieses Argument war gegen die arabischen Großgrundbesitzer Palästinas gerichtet. Die ließen ihre Latifundien durch Felachen bebauen, die armen Landarbeiter Palästinas. Die zionistische Linke nahm sich das Schicksal dieser ausgebeuteten Massen anfangs zu Herzen, allerdings nur solange sie daraus den Anspruch der jungen jüdischen Pioniere aus Osteuropa ableiten konnte, die Befreiung des Landes von den ungerechten Besitzverhältnissen selbst zu unternehmen. Von arabischen Großgrundbesitzern „befreit“ wurde das Land am Ende erst durch die Landaufkäufe der zionistischen Organisationen. In den allermeisten Fällen bedeutete der Besitzerwechsel die Vertreibung der Felachen, deren Arbeit von jüdischen Siedlern übernommen wurde.

Die „Befreiung durch Arbeit“, von der die zionistische Linke sprach, hatte eine doppelte Bedeutung. Neben der Befreiung Palästinas von den arabischen Efendis war auch die Befreiung der Juden von ihrer Position als Büttel des Kapitals gemeint. Diese Idee beruhte auf den gängigen antisemitischen Stereotypen des 19. Jahrhunderts. Die Zionisten, die das jüdische Leben in der Diaspora oft durch den gleichen Filter betrachteten wie die Antisemiten, geißelten das scheinbar „unproduktive“ Leben der Juden in Europa, die als diskriminierte Randgruppe im Handel und im „Parasitentum“ stecken geblieben seien. Die zionistische Forderung von der „Produktivierung“ sollte zusammen mit der Rückkehr zur Landwirtschaft die Juden von der Diaspora-Existenz heilen und sie auf der eigenen Scholle zum „Neuen Juden“ genesen lassen.

In Palästina verfolgte vor allem die Kibbuzbewegung das Ziel dieser „Proletarisierung“ und Befreiung durch Landarbeit. Die Idee der Gleichheit und des gemeinschaftlichen Besitzes der Produktionsmittel im Kibbuz erstreckte sich allerdings nicht auf die arabischen Nachbarn. Diese bekamen nur die Nachteile der „Proletarisierung“ der Juden zu spüren. Landwirtschaftliche Produkte in Palästina waren billig, hauptsächlich wegen der sehr niedrigen Löhne, oder, anders gesagt, wegen der großen Armut der arabischen Landarbeiter. Dieser niedrige Preis der menschlichen Arbeitskraft machte es den Juden schwer, mit ihren eigenen Produkten auf den Märkten zu konkurrieren. Die Produktion in den jüdischen Betrieben musste verbilligt werden. Das war nur durch eine Senkung der Lebenshaltungskosten möglich, also eine künstliche Armut, und diese Funktion konnten der Kibbuz und andere genossenschaftliche Siedlungsformen bestens übernehmen. Die „Proletarisierung“ brachte die Juden also in eine viel bessere Wettbewerbsposition. Gleichzeitig konnten die Führer der zionistischen Arbeiterbewegung die Landnahme als fortschrittliches Projekt und als jüdischen Anteil am Siegeszug der Geschichte darstellen und rechtfertigen. Der Effekt war auch hier die allmähliche Verdrängung der arabischen Landarbeiter. Diese Synthese aus Marxismus und Nationalismus leistete damit dem Zionismus ebenso große Dienste wie das koloniale und imperiale Denken eines Theodor Herzl.

Ein Witz, den man sich früher in Israel erzählte, fasst den Mythos der „Fruchtbarmachung“, den der „Produktivierung“ des jüdischen Luftmenschen und das Verhältnis zu den Ureinwohnern wunderbar zusammen.

Ein Großvater steht mit seinem Enkel auf dem Berg Karmel und schaut auf die Bucht hinunter. „Schau dir das an, mein Kind“, sagt er stolz. „All das haben wir mit unseren eigenen Händen aufgebaut.“ Der Knabe mustert seinen Großvater verwundert. „Opa, warst du früher mal Araber?“

Das Resultat dieser vielfältigen Verdrängungs- und Umdeutungsprozesse unter den Juden Israels sind politische Formeln und Abstraktionen, die mehr oder weniger offen die handfeste Diskriminierung der arabischen Bevölkerung begründen und verteidigen. Seit 60 Jahren verhindert der Hinweis auf die andauernd ernste „Sicherheitslage“ eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit den Lebensbedingungen der arabischen Bevölkerung. Über allen politischen und privaten Erörterungen des Verhältnisses von Arabern und Juden schwebt die so genannte „demographische“ Bedrohung des Staates, eines Staates, der für Juden geschaffen wurde und in dem für andere ethnische Gruppen eigentlich kein Platz ist. Die schon erwähnte Wahrung des „jüdischen Charakters“ Israels ist die alles umfassende Formel, die das Verhältnis von Juden gegenüber den Arabern Israels und der Gebiete weiter bestimmt und den Prozess der Verdrängung in Gang hält.

Vortrag vor dem Nahost-Friedenskreis am  24. November 2007 im Evangelischen  Gemeindezentrum Berg.Gladbach-Bensberg bei Köln * copyright 2007 Daniel Cil Brecher